Die bürgerliche Welt ächzt unter dem Bleigewicht öffentlicher und privater Verwaltungen. Ist Bürokratisierung, wie Max Weber meinte, das unausweichliche Schicksal moderner, rationalisierter Gesellschaften?
Die Bürokratisierung der Welt
Die Klage über die Bürokratie begann mit der Romantik: Das “Fabrikmäßige” der (damals) modernen Staatsgebilde wurde mit den vermeintlich seelenvolleren ‘persönlichen’ Verhält- nissen der Feudalzeit verglichen und natürlich für zu leicht, nein: für zu schwer befunden. Und in E.T.A. Hoffmanns “Goldenem Topf” ist der öffentlich Bedienstete geradezu der Inbegriff des Philisters.
Max Webers Urteil über die “Rationalität” bürokratischer Herrschaft sticht dagegen merkwürdig ab. Ist jedes Mal dasselbe gemeint, wenn der eine oder der andere von Bürokratie redet? Immerhin spielen viele Bedeutungsnuancen hinein, vom Obrigkeitsstaat über die industrielle Arbeitsteilung und Schwindel erregende Hierarchien bis zum Informationsverlust auf zu langen Wegen. Tatsächlich hat das Phänomen der Bürokratisierung der modernen Welt mannigfaltige Quellen.
Obrigkeitsstaat
Die staatlichen Bürokratien sind in den (kontinental) europäischen Ländern ein Erbe des Obrigkeitsstaats. Die absoluten Monarchien waren aus den feudalaristokratischen Königtümern hervorgegangen, indem sich die Krone in ihrem Machtkampf mit dem Hochadel auf das (steuerzahlende) Bürgertum stützte. Ludwig XIV., Vorbild aller Allein- herrscher, fesselte die gesamte französische Aristokratie an seinem Hofstaat zu Versailles und zog sie damit zugleich aus der politischen Verwaltung seines Reiches ab. Die frei werdenden obrigkeitlichen Ämter konnte er den meistbietenden Bürgerlichen feilbieten, die er damit unmittelbar den Interessen der Krone dienstbar machte.
Seit ihrem Entstehen erfüllt die staatliche Bürokratie über ihre behördliche Funktion hinaus auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe: die aufstrebenden Elemente der unteren Klassen an die bestehende Ordnung zu binden. Zugleich bildet sie ein besonderes Sozialcorps mit eigenen Standesinteressen, die nicht mit denen des Souveräns identisch sind.
Die Kontrolle der behördlichen Machtausübung durch den Souverän ist offenbar das Schlüsselproblem. Nur seinen Interessen sollen sie dienen, und sofern in einem demokratischen Staatswesen das Interesse des Souveräns kein anderes ist als das Interesse aller Bürger, kann die bürokratische Herrschaft als ‘rational’ gelten – vorausgesetzt freilich, sie unterliegt der öffentlichen Kontrolle ihres Souveräns.
Eines muss ohne Zorn und Eifer eingesehen werden: Wer eine öffentlich kontrollierbare Behörde will, muss ein Mindestmaß an Bürokratismus immer in Kauf nehmen. Denn nur, wenn obrigkeitliche Entscheidungen säuberlich in ‘Vorgänge’ zergliedert werden, die ihrerseits jeweiligen ‘Stellen’ zugeordnet sind, lassen sich die Entscheidungsgänge nachträglich rekonstruieren und vor Gericht anfechten. Es gibt keinen Rechtsstaat ohne einen Grundbestand von Bürokratie. Wo dieses Minimum endet und der Missbrauch beginnt, ist im Einzelfall immer strittig, und sicher ist es nicht die Bürokratie selbst, die hier zum Richter berufen ist.
Industrielle Arbeitsteilung
Und warum gelingt es den Demokratien nicht, die ihnen nach Max Weber so adäquate ‘bürokratische Herrschaftsform’ in rationellen Grenzen zu halten? Weil die bürgerliche Gesellschaft selber, nämlich die industrielle Arbeitsteilung in der mechanischen Fabrik, ein nie versiegender Quell der Bürokratisierung ist.
Wachsende Produktivität, so hatte Adam Smith gelehrt, heißt wachsende Arbeitsteilung; Aufteilung nicht nur der gesellschaftlichen Produktion in verschiedene, nur durch den Austausch einan- der verbundene Zweige, sondern Aufteilung der Fertigungsgänge selbst im Innern der Fabrik in ihre einzelnen Sequenzen, Einsparung eines jeden Handgriffs, der ebenso gut durch die Maschine erledigt werden kann, und Zusammensetzung des Endprodukts Teilchen für Teilchen. ‘Taylorismus’ und Fließband – so hießen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Zukunftslosungen, die bis nach Sowjetrussland klangen.
Jeder Arbeiter ein geschulter Spezialist des einen, für ihn noch übrig bleibenden Handgriffs; und das Ganze zusammengehalten durch den Spezialisten fürs Zusammenhalten, den Organisator, den Planer, den Leiter, den Bürokraten. In einer Produktionsweise, wo alles aufs Analysieren und Vereinzeln ankommt, wird das nachträgliche Vermitteln der Teile schließlich zu einer selbstständigen Aufgabe.
Es blieb nicht aus, dass die rationelle Organisationsform der mechanisierten Fabrik ihrerseits zum Vorbild wurde für eine rationelle staatliche Verwaltung im demokratischen, bürgerlichen Staat. Dies umso sicherer, als es… die Behörde selber ist, die sich für ihre Rationalisierung zuständig macht und bis heute jeden einzelnen Schritt zur ‘Entbürokratisierung’ plant, durchführt und kontrolliert. Und so lange es der Stand der Staatsbediensteten ist, der nicht nur die Verwaltung besorgt, sondern in den Kommunikationswegen der politischen Parteien wie in den Volksvertretungen den Ton angibt! Es ist nur auf dem Papier eine öffentliche Kontrolle. Tatsächlich handelt es sich um eine Geschlossene Gesellschaft.
Wohlfahrtsstaat
Galt dies alles zu Zeiten des liberalen Konkurrenzkapitalismus, so gilt es erst recht unter den organisierten Formen kapitalistischer Herrschaft, die ihren politischen Ausdruck im Wohlfahrtsstaat
fanden. Er ist zur gleichen Zeit diesseits und jenseits des Atlantik entstanden, in den USA im New Deal, in Deutschland in der natio nalsozialistischen Volksgemeinschaft.
Seither hat sich in Europa mehr noch als in Amerika die Ansicht als selbst- verständlich durchgesetzt, dass der Staat selber für das Wohlergehen – happiness – seiner Bürger verantwortlich ist, und nicht nur die Chance des freien pursuit of gewährleistet. Je mehr Bereiche des öffentlichen und selbst privaten Lebens behördlicher Fürsorge überantwortet werden, umso tiefer wuchert die Hydra der Bürokratie ins Innere der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Arbeiterbewegung selbst kommt dem entgegen. Mit wachsendem Organisationsgrad entwickelt sie selber einen Hang zur Bürokratisierung. Noch der wildeste Streik braucht am Ende Leute mit Geschick, die die günstigsten Bedingungen für die Wiederaufnahme der Arbeit aushandeln. Besser als wilde Streiks sind aber die gut vorbereiteten, besser als zufälliges Geschick ist eine gezielte Bildung. Die Tagesgeschäfte des Klassenkampfs erfordern ihre eigenen Spezialisten.
Am besten Professionelle. Unter denen macht
sich an Stelle revolutionärer Ungeduld realpolitischer Reformersinn
breit. Der Wohlfahrtsstaat ist eine Resultante des Klassenkampfs.
Hier verbinden sich die sozialpolitischen Konzessionen, die die
Arbeiterbewegung der bürgerlichen Herrschaft abringen konnte, mit
jenen vorbeugenden Maßnahmen, die seit Bismarcks Sozialgesetzen der
Staat selbst ergriff, um dem Klassenkampf seine revolutionäre Spitze
abzubrechen; und es ist im Detail mühsam, eins vom andern zu scheiden.
Nach dem russischen Oktober erwies sich schließlich der Wohlfahrtsstaat als einzig wehrhaftes Bollwerk gegen die permanente Weltrevolution. Aber es hätte kaum ausgereicht, wäre deren Dynamik nicht zuvor in ihrem Innern gebrochen worden. Man versteht weder das New Deal noch die faschistischen Volksgemeinschaften, wenn man sie nicht als Vorder- und Rückseite einer Medaille erkennt. Man versteht weder den Nationalsozialismus noch den Stalinismus, wenn man sie nicht als die Vorder- und die Rückseite derselben Medaille erkennt.
Nach dem russischen Oktober erwies sich schließlich der Wohlfahrtsstaat als einzig wehrhaftes Bollwerk gegen die permanente Weltrevolution. Aber es hätte kaum ausgereicht, wäre deren Dynamik nicht zuvor in ihrem Innern gebrochen worden. Man versteht weder das New Deal noch die faschistischen Volksgemeinschaften, wenn man sie nicht als Vorder- und Rückseite einer Medaille erkennt. Man versteht weder den Nationalsozialismus noch den Stalinismus, wenn man sie nicht als die Vorder- und die Rückseite derselben Medaille erkennt.
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