Donnerstag, 19. Juni 2014

Der Ballhausschwur.

Der Schwur im Ballhaus, wie ihn Jacques-Louis David sah.
aus nzz.ch,17. Juni 2014, 10:00                                                                                           David, Der Ballhausschwur

Auftakt zur Französischen Revolution vor 225 Jahren
Die Geburtsstunde des kontinentalen Parlamentarismus


Am 17. Juni 1789 erklärte sich das französische Bürgertum zur Nationalversammlung. Dieser Bruch mit den bisher geltenden Regierungsprinzipien läutete die Französische Revolution ein.

Nach vier Wochen ergebnisloser Beratungen der in Versailles versammelten Generalstände beschlossen am 17. Juni 1789 die Deputierten des dritten Standes mit grosser Mehrheit, sich als Nationalversammlung zu konstituieren. Das bedeutete mehr als nur die Umbenennung einer ständischen Versammlung; das war ein grosser revolutionärer Akt. Das Bürgertum zerstörte damit die traditionelle politische Gesellschaft des Ancien Régime und schuf eine neue, vom König unabhängige, souveräne Gewalt. Es war die Geburtsstunde des kontinentalen Parlamentarismus und Teil eines revolutionären Prozesses.

Veränderungen und Reformen

Dieser entfaltete sich seit dem Mai 1789 schrittweise und veränderte schliesslich innerhalb von Tagen und wenigen Wochen ein ganzes politisch-soziales Gefüge. Er wurde zum Lehrstück dafür, wie eine Revolution entsteht. Begonnen hatte dieser Vorgang mit der Eröffnung der Generalstände Anfang Mai 1789. Die Empfehlungen, die die Wähler ihren Abgeordneten zuvor in den sogenannten Beschwerdeheften mit auf den Weg gegeben hatten, zielten auf ein ganzes Bündel von in sich widersprüchlichen Veränderungen und Reformmassnahmen. Niemand wollte jedoch zu diesem Zeitpunkt am Bild des guten und einsichtigen Königs rütteln, und nur wenige träumten von einer Revolution. Bereits die Rituale und Prozeduren der Generalstände, die zuletzt vor einhundertfünfzig Jahren zusammengetreten waren, liessen die tiefen und kaum überwindbaren politisch-sozialen Gegensätze erkennen, die in Versailles aufeinanderprallten. Die Versammlung der knapp zwölfhundert Deputierten aus Klerus, Adel und dem dritten Stand konnte sich noch nicht einmal über die Verhandlungs- und Abstimmungsmodalitäten einigen. Denn die Forderungen des dritten Standes nach einer Abstimmung nach Köpfen hätten den Deputierten des dritten Standes ein eindeutiges politisches Übergewicht gewährt und damit wahrscheinlich den Weg zur Abschaffung der Ständeverfassung und der Privilegien geöffnet.

Dominanz der alten Ordnung

Die Eröffnungszeremonien hatten allen Beteiligten noch einmal die Schranken der monarchisch-ständischen Ordnung vor Augen geführt. Der König hatte am 2. Mai die Stände getrennt empfangen. Zwei Tage später, am 4. Mai, bei dem Einzug der Deputierten in die Ludwigskirche, diente die alte Ordnung der Prozession der Demütigung des dritten Standes: Die bürgerlichen Deputierten wurden, indem man ihnen die Spitze des Zuges zuwies, möglichst weit vom König aufgestellt. Die Kleiderordnung, bis in alle Einzelheiten festgelegt, hob den Glanz und die Ehre der beiden ersten Stände hervor und degradierte den dritten Stand. Einen Tag später, bei der Eröffnung der Generalstände durch den König, wurde dem dritten Stand erst Einlass gewährt, nachdem die Abgesandten des Klerus und des Adels bereits neben der königlichen Tribüne Platz genommen hatten.
Der König warnte in seiner kurzen und nichtssagenden Ansprache vor «übertriebenen Wünschen nach Erneuerung». Das hinderte die Mehrheit der Abgeordneten nicht daran, ihm nach seiner Rede frenetischen Beifall zu spenden. Die Magie der königlichen Person war ungebrochen. Die zahlreichen Broschüren aus dem Wahlkampf im Frühjahr 1789 hatten die grossen Fragen herausgestellt, die die Nation bewegten, nämlich die Finanzen in Ordnung zu bringen und dem Land eine Verfassung zu geben, die neben der Macht des Königs auch dem Willen des Volkes gerecht wird, die dessen Freiheiten anerkennt und dem Königreich Frieden und Glück sichert.

Doch auch Frankreichs Finanzminister Jacques Necker, das Idol der Bürger, ging in seiner mehr als dreistündigen Rede auf diese Erwartungen nicht ein, sondern beschränkte sich darauf, die katastrophale Finanzlage des Königreiches in allen technischen Details darzustellen. Zu sehr fürchtete der frühere Genfer Bankier die Unberechenbarkeit einer Versammlung, die seine schwierige Finanz- und Anleihepolitik nur gestört und die er darum am liebsten politisch an den Rand gedrängt hätte. Doch genau das Gegenteil trat in den folgenden Tagen und Wochen ein, auch weil Necker zu schwach und der König zu unentschlossen war.

Wachsender Druck

Am folgenden Tag gingen Adel und Geistlichkeit daran, in getrennten Sitzungen die Legitimation ihrer Abgeordneten zu überprüfen. Der dritte Stand sah sich vor der schwierigen Entscheidung, ob er offen gegen die Abstimmung nach Ständen vorgehen sollte, was einen Schritt in die Illegalität bedeutet hätte. Vorerst beschloss man, nichts zu beschliessen und abzuwarten. Aber man gab sich einen neuen Namen, der das neue Selbstbewusstsein andeutete: Man nannte sich députés des communes (Abgeordnete der Gemeinden).

Doch auch diese neue Selbstbezeichnung stiess auf die heftige Ablehnung des Adels. Nachdem alle Vermittlungsversuche der königlichen Minister gescheitert waren, sahen sich die députés des communes schliesslich zu kühnen Entschlüssen aufgefordert. Denn der öffentliche Druck auf die Deputierten wurde immer grösser; vor allem stellte die Versammlung der Wahlmänner von Paris, angestiftet von jungen radikalen Publizisten wie Jacques-Pierre Brissot, sehr viel weiter gehende Forderungen. Man forderte von den Deputierten in Versailles nicht nur Standhaftigkeit; Brissot bestand auf einer Verfassung, die Frankreich dringend brauche, und auf der Garantie der Menschen- und Bürgerrechte als Grundlage einer Verfassung der Freiheit. Der dritte Stand fasste nun den Beschluss, die Abgeordneten der beiden Stände zu einer gemeinsamen Prüfung der Legitimation der «Vertreter der Nation» einzuladen. Das war der offene Bruch mit den Regeln der ständischen Ordnung und dem Gehorsamsgebot des Königs. Die Entscheidung wurde erleichtert durch erste Risse und Absetzbewegungen in den beiden privilegierten Ständen. Nun stand die politische Frage nach der Namensgebung wieder im Raum. Wollte man «Nationalversammlung» sein oder nicht; wollte man die politisch-rechtliche Gleichheit herstellen oder doch bei dem Namen «Versammlung der Gemeinen»* bleiben und damit die ständische Trennung anerkennen.

Nach zweitägiger Debatte nahm man den Vorschlag des völlig unbekannten Abgeordneten Legrand, sich als «Nationalversammlung» zu bezeichnen, mit grosser Mehrheit an. Auch band man sich durch einen feierlichen Treueid an das Amt, das man sich gerade selber verliehen hatte. Schliesslich billigte man sich das Recht auf Steuerbewilligung zu und stellte die Gläubiger des Staates unter den Schutz der Nation, was für die Financiers eine wichtige Garantie darstellte und die Nationalversammlung erst einmal vor dem Zorn des Königs und des Hofes schützte.

Ballhausschwur

Eine erste Bekräftigung erfuhr die Verfassungsrevolution vom 17. Juni drei Tage später. Inzwischen hatten sich eine Mehrheit der Geistlichkeit und eine Minderheit des Adels dafür ausgesprochen, sich dem revolutionären dritten Stand anzuschliessen. Als die Abgeordneten der neuen Nationalversammlung am 20. Juni vor den verschlossenen Türen des Grossen Saals im Regen standen – der Hof hatte den Saal kurzerhand geschlossen –, kam es zum Machtkampf. Die Abgeordneten begaben sich in einen schmucklosen, leeren und grossen Raum im nahe gelegenen Ballhaus. Hier verkündete der Präsident der Versammlung, der Astronom Bailly, den feierlichen Schwur: Die Mitglieder der Nationalversammlung gaben sich darin das Versprechen, nicht auseinanderzugehen und überall zusammenzutreten, wie die Umstände es erfordern würden, um eine Verfassung zu schaffen und sie auf sichere Grundlagen zu stellen. Das war ein historischer Moment, den der Maler Jacques-Louis David in einer Zeichnung gedeutet hat. Die Szene des Schwurs im kahlen Ballhaus, über dem ein Vorhang, ergriffen vom Wind des Wandels, weht, hat sich in das europäische Bildgedächtnis eingegraben. Sie zeigt eine völlig veränderte Lage. Die Versammlung ist nicht mehr nach strengen ständischen Regeln geordnet, sondern hat sich als Versammlung unabhängiger Individuen zu lockeren Gruppen zusammengefunden; in der Bildmitte eine starke Szene der Versöhnung und Einheit: Ein Ordensgeistlicher, ein Weltgeistlicher und ein evangelischer Pfarrer reichen einander die Hände.

Bald danach kam der Moment, in dem sich die versammelte Nation dem Willen des Königs offen widersetzen musste. Königliche Truppen umstellten das Gebäude und forderten die Abgeordneten auf, bis zum 23. Juni, dem Tag der überraschend angekündigten «königlichen Sitzung», keine Beratungen mehr durchzuführen. Graf Mirabeau bekräftigte den Widerstandswillen der Nationalversammlung: «Wir werden nur der Macht der Bajonette weichen.» Daraufhin wiederholte die Versammlung ihre früheren Beschlüsse und beschloss die Unverletzlichkeit ihrer Mitglieder. Das musste auch der Oberzeremonienmeister zur Kenntnis nehmen und verliess rückwärts schreitend den Raum, so wie man sich sonst nur in Gegenwart eines Königs verhalten musste. Frankreich hatte – vorerst – zwei Souveränitäten: den König und die Nationalversammlung.

Hans-Ulrich Thamer ist Professor für neuere Geschichte an der Universität Münster.

*) Députés des communs werden sie wohl schon am Anfang genannt haben, Abgeordnete des gemeinen Mannes, of the commons. JE

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