Mittwoch, 11. Juni 2014

Krise als Normalzustand.

aus nzz.ch, 11. Juni 2014, 05:30                                                                                   eanimusic3d


Ein Symposion der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft
Moral und Politik, Kritik und Krise



«Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.» – Ob das, was Immanuel Kant 1781 in der Vorrede zur «Kritik der reinen Vernunft»* als Signatur seiner Epoche beschrieb, als Charakteristik auch noch unserer Gegenwart verstanden werden könnte – einer Zeit, in der das kritische Urteil in der Willkür und Beliebigkeit des Drückens oder Nichtdrückens von «Gefällt mir»-Knöpfen sich zu verflüchtigen scheint –, sei dahingestellt.

Eine spekulative Erzählung

Die seinerzeit nicht nur von Kant verkündete Inthronisierung der Kritik als letzte und permanente Urteilsinstanz eines öffentlichen und freien Räsonierens hat der Historiker Reinhart Koselleck vor sechs Jahrzehnten in seiner berühmt gewordenen Studie «Kritik und Krise» jedenfalls als Auslöser einer fatalen, geschichtlich sich entfaltenden Dialektik der Aufklärung nachzuzeichnen versucht: Mit moralischem Impetus schwinge sich eine Kritik, die unpolitisch zu sein glaube, zu einer – indirekten – politischen Macht auf, die den moralischen Bogen überspanne und sich als Vollstreckerin eines geschichtlichen Auftrags selbst ins Recht zu setzen wähne. So werde, ob gewollt oder ungewollt, eine Krise in Gang gesetzt, die in Revolution und Terror münde und die im Grunde auch die weltgeschichtliche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg noch bestimme.

Die erstaunlich spekulative Geschichte, die Koselleck in seiner ambitionierten Dissertation erzählt, beginnt beim absolutistischen Staat, der in Reaktion auf die Religionskriege sich als Ordnungsgefüge etabliere und seinen Untertanen einen befriedeten «Raum der Indifferenz» eröffne, in dem die Menschen – politisch zunächst machtlos – ihr individuelles Gewissen ausbildeten. Dieses Gewissen bringe sich, je selbstgewisser es werde, notwendigerweise in einen Gegensatz zu der Ordnung, der es sich verdanke. Anders gesagt: Die Trennung von Moral und Politik, die die zerstörerische Dynamik konfligierender religiös-politischer Wahrheitsansprüche habe bremsen sollen, wende sich gegen den Staat, der die Überzeugungen und Meinungen seiner Untertanen in das Reservat eines privaten Innenraums sperren zu können vermeine.

Es mag auch an der Suggestivität der (nur erst) angedeuteten Überlegungen Kosellecks liegen, dass sie, bei allen Einsprüchen und Korrekturen, die sie auf sich gezogen haben, nach wie vor Resonanz erzeugen. Nicht zuletzt die Wendung «Kritik und Krise» drängt sich gerne auf, zumal in Zeiten, in denen nicht nur Kritik, sondern auch Krisen aller Art zum Normalbetrieb zu gehören scheinen. Das diesjährige Symposion der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, das letzte Woche an der Universität St. Gallen stattfand, stand unter ebendiesem Titel – und nicht wenige der zahlreichen Vorträge griffen den einen oder anderen Aspekt des Koselleckschen Werkes auf.

Soweit der Historiker darin nicht nur einen Geschichtsprozess analysiert, sondern auch einem Verständnis von Politik das Wort redet, das für den demokratischen Staat der Gegenwart Gültigkeit beansprucht, liess sich der Vortrag der Philosophin Elif Özmen (Regensburg) als Gegenentwurf dazu verstehen: Gerade weil «letzte» Wahrheiten nicht das Fundament einer – freiheitlichen – politischen Ordnung sein dürften, werde Kritikfähigkeit zur «demokratischen Tugend», werde die permanente kritische Infragestellung und Selbstinfragestellung zum Modus des politischen Prozesses. Den – politischen – Vorrang der Meinungen vor «letzten» Wahrheiten wollte Özmen allerdings nicht als Freibrief für einen «Subjektivismus» verstanden wissen, der im «politischen Feuilleton» und auch in der politischen Philosophie um sich gegriffen habe. Auch wer Meinungen äussere, verpflichte sich, gute Gründe für sie zu formulieren. – Wahrheit kommt so als das Richtige, das sich rechtfertigen lässt, zumindest im Fluchtpunkt des potenziell unendlichen Austauschs von Meinungen zwar wieder ins Spiel. Das aber heisst keineswegs, dass die öffentliche Diskussion zu dem «moralischen» Bürgerkrieg werden muss, als den Koselleck sie dann doch verzeichnet hat.

Für die Tugend der recht verstandenen Kritik plädierte, ohne es so zu nennen, auch der Historiker Caspar Hirschi (St. Gallen). Zumindest nahm in seinen Analysen zur Herkunft des Begriffs der «Kritik» aus der Philologie eine kritische Tätigkeit beinahe idealtypische Konturen an, die sich als Bestandteil einer «vertextlichten» politischen Praxis verstehen lasse – einer Praxis, die wesentlich durch das Medium des Textes (durch Gerichts- und Verwaltungsakten ebenso wie durch Zeitungen und Zeitschriften) vermittelt sei. Das an historischen Beispielen gewonnene Modell einer solchermassen eingebetteten Kritik kontrastierte Hirschi mit der «konservativen» Vorstellung Kosellecks, nach der Politik, weil Moral ihr äusserlich sei, durch Moral «gefesselt» werde. Er hob es nicht weniger gegen das «progressistische» Pendant ab, gegen eine Auffassung, die darauf setze, dass Mahnrufe und Proteste – wiederum von aussen – in die Politik unmittelbar hineinwirkten.

«Es liegt im Wesen einer Krise, dass eine Entscheidung fällig ist, aber noch nicht gefallen. Und ebenso gehört es zur Krise, dass offenbleibt, welche Entscheidung fällt.» So heisst es in Kosellecks 1959 erstmals publiziertem Buch zu Beginn des letzten Kapitels. – Was aber, wenn eine Krise gar keine Entscheidung heraufführt? Was, wenn der Ausnahmezustand, wie in jüngerer Zeit – angesichts der Staatsschulden-, der Finanzmarkt- und der Klimakrise sowie anderer Phänomene – öfter gesagt wird, zur Normalität geworden ist? Wie lässt sich, was eine Krise ist, dann beschreiben; wie lässt sich eine Krise begreifen, «die nicht mit einer Entscheidung schwanger geht»? Diese Frage stellte Gunnar Hindrichs (Basel) – und beantwortete sie subtil und mit Hegels Hilfe.

Theorie und Rhetorik

Mit ein, zwei gröberen Körnchen Salz lautete die Antwort: Man muss nur die Gesellschaft beschreiben, in der wir leben, die bürgerliche Gesellschaft und ihr marktgesteuertes «System der Bedürfnisse». Diese Gesellschaft nämlich sei letztlich nichts anderes als eine einzige grosse «Krise ohne Entscheidung». Hegel sah die Spannungen und Widersprüche der krisenhaften Sphäre indes in einem «sittlichen Staat» ihren Ausgleich finden. Marx und Engels, deren «Kommunistisches Manifest» Hindrichs als Parallellektüre zu Wort kommen liess, visierten dagegen, wie man weiss, eine widerspruchsfreie, eine klassenlose Gesellschaft an. Das sind beides, folgt man Hindrichs, nur «Platzhalter» einer ersehnten – aber unmöglichen – Entscheidung der Krise. Den Platz für eine ganz andere Entscheidung schien die Schlussbemerkung freihalten zu wollen, in der die Posaune des Jüngsten Gerichts (nämlich ein Zitat aus der Offenbarung des Johannes) zu vernehmen war. Die Verhältnisse, so Hindrichs, spielten sich heute die Melodie, die sie zum Tanzen bringe, selbst vor: «Wer Ohren hat, der höre!»

Krisenrhetorik, so der Ideenhistoriker Harald Bluhm (Halle) mit Blick namentlich auf Karl Marx, Joseph Schumpeter, Leo Strauss und Hannah Arendt, sei eine unvermeidliche Begleiterin jeder Krisentheorie. Und noch kaum eine solche Theorie verzichte auf den dramatisierenden Erzählrahmen, den der Dualismus von «normal» und «pathologisch» aufzuspannen erlaube. Dieter Thomä (St. Gallen) sprach zum Auftakt des Symposions von der Spannung, die dem Verhältnis von Kritik und Krise innewohne. Krisen forderten zur Aktion, zur Entscheidung heraus, Kritik aber trete einen Schritt zurück. In diesem Zwiespalt bewege sich die Philosophie. Der Zwiespalt von Reflexion und Aktion, so darf man vielleicht anfügen, ist die Normalität der Philosophie – die Normalität einer permanenten Krise.

*) KrV, A XX Anm.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen