Mittwoch, 4. Juni 2014

Die Ordnung der Zeit.

Dalí
aus nzz.ch, 4. Juni 2014, 05:30

Aleida Assmann über «Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne»
Geschichten und Geschichte
Lea Haller ⋅ Von nicht weniger als einer «Kontinentalverschiebung» in unserer Zeitordnung handelt dieses Buch. In den 1980er Jahren sei, so die Literatur- und Kulturwissenschafterin Aleida Assmann, die moderne Trennung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine Krise geraten: In Bewegung kam vor allem die Vergangenheit. Statt ein von der Gegenwart klar abgetrennter Raum zu sein, mit dem sich lediglich professionelle Historiker beschäftigen, bricht sie mit ökologischen Folgeschäden, traumatischen Erinnerungen und kollektiven Gedächtnis- und Wiedergutmachungsansprüchen über uns herein. Gleichzeitig ist uns die Zukunft als Ideal und Utopie abhandengekommen. Die natur- und gesellschaftsverträgliche Fortsetzung einer nachhaltigen Gegenwart ist das Maximum, was wir uns von ihr noch erhoffen.

Vielgestaltige Umbrüche

Wie ist es dazu gekommen? Wie konnte sich innerhalb kürzester Zeit eine klar strukturierte, lineare Zeitachse auflösen? Gründe gäbe es einige aufzuzählen: Umweltprobleme und Ölkrise machten die «Grenzen des Wachstums» bewusst. Randgruppen organisierten sich und forderten die bürgerliche Elite heraus, die das Modernisierungsprojekt vorangetrieben hatte. Und das Ende des Kalten Kriegs läutete in den westlichen Demokratien den Niedergang des Sozialvertrags zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein, mit dem man im Systemstreit den Kapitalismus als Fortschrittsideal legitimiert hatte. Dass diese vielgestaltigen Umbrüche auch mit einem neuen Zeitverständnis einhergingen, erscheint plausibel. Es sind allerdings nicht die Gründe für den Wandel, die Assmann interessieren, sondern das, was Philosophen, Soziologen, Historiker und literarische Zeitzeugen zu ihm sagen, wie sie ihn wahrnehmen und bewerten.

In mäandrierenden Schlaufen und ohne Angst vor Redundanz breitet die Autorin zunächst auf zwei Dritteln des Buches den Aufstieg des modernen Zeitregimes aus, wobei ihren Überlegungen vor allem Analysen Reinhart Kosellecks Pate standen: Etwa um 1770 hat eine Verschiebung im Geschichtsbewusstsein stattgefunden – von den Geschichten zur Geschichte, vom Plural zum Kollektivsingular. Damit verlor die Geschichte den Charakter des Exemplarischen; die Vergangenheit wurde in eine universale Zeitachse eingefügt. Kulturen konnten nun miteinander verglichen und als mehr oder weniger fortschrittlich auf dem Zeitpfeil aufgereiht werden. Gleichzeitig – und verstärkt durch die Industrialisierung – wurde der zuvor offene Zukunftshorizont zum designierten Entwicklungsziel. Durch permanente Selbsterneuerung sagte sich die moderne Gesellschaft von der Vergangenheit los – beziehungsweise sie überliess sie der Bewertung der Historiker, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts als Vergangenheitsspezialisten professionalisierten.

Dieser Doppelimpuls von Zerstören und Bewahren – also die zukunftssichere Vergangenheitsentsorgung und die gleichzeitige Überhöhung des Historischen im Monumentalen – wurde bereits im 19. Jahrhundert kritisiert. Friedrich Nietzsche beispielsweise hielt nichts von der These, dass die Weltgeschichte einen Sinn habe und ihr kontinuierlicher Fortschritt durch Vorher-Nachher-Vergleiche belegt werden könne: «Die Weltgeschichte ist kein einheitlicher Prozess. Das Ziel derselben ist fortwährend erreicht», schrieb er 1874. Die wachsende Kritik am bürgerlichen Weltverbesserungsoptimismus verhinderte allerdings nicht, dass das Modernisierungskonzept auch nach zwei Weltkriegen nochmals handlungsleitend wurde – mit dem Unterschied, dass man sich nun nicht mehr von den unzivilisierten Barbaren abgrenzte, sondern vom kommunistischen Ostblock.

Mit dem Ende des Kalten Kriegs, mit dem zunehmenden Bewusstsein für die Opfer und Verlierer der technokratischen Moderne und mit dem Aufkommen digitaler Informationssysteme, so Assmann, wurden in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sowohl Vergangenheit als auch Zukunft neu «verhandelbar». Vergangenheitsbewältigung lässt sich nicht mehr auf Hochschulen beschränken, sie ist eine politische und gesellschaftliche Aufgabe. Zukunft wird heute nicht mehr geplant, sondern datenbankgestützt modelliert – Katastrophen lassen sich in Szenarien antizipieren, die Auswirkungen von Finanzkrisen hochrechnen, und für Straftäter werden per Software forensische «Legalprognosen» erstellt.

Auf diese neuen Vergangenheitsdiskurse und Zukunftstechnologien geht Assmann allerdings nicht näher ein. Stattdessen lässt sie Kulturpessimisten zu Wort kommen, die den vermeintlich klar geordneten Zeitverhältnissen der Moderne nachtrauern. Hans-Ulrich Gumbrecht diagnostizierte eine Krise des Vergessens infolge der enormen Speicherkraft elektronischer Medien – uns sei die Fähigkeit zur Auswahl abhandengekommen. François Hartog beklagt den Niedergang der professionellen Geschichtswissenschaft durch die «Heritage-Industrie» – man habe das Monument durch das Memorial ersetzt und Geschichte damit zum Gegenstand partikularer Interessen gemacht.

Die gute Nachricht

Die gute Nachricht und Aleida Assmanns Hauptaussage ist: Der «Fall des Zeitregimes der Moderne» ist nicht bedauernswert, sondern eine Erlösung. Was die Moderne fein säuberlich getrennt hat, um Ordnung in der Welt zu schaffen, wird heute wieder «organischer» miteinander verbunden: Erinnern und Vergessen, Verstehen und Tradieren, Sinnstiftung und Gestaltung. Der von Jan und Aleida Assmann bereits in den frühen 1990er Jahren geprägte Begriff des «kulturellen Gedächtnisses» betont die Verschränkung der Zeitstufen: Die Vergangenheit ist nie endgültig vergangen und somit nicht objektivierbar.

Das Ende des Trennungsprinzips ist also kein Skandal, sondern ein Stück zurückgewonnene Normalität. Wir haben uns von einem hegemonialen Zugriff auf «die Geschichte» im Singular verabschiedet und lassen wieder vielfältige Entwicklungen und Deutungen zu – «Geschichten» im Plural. Die feinere Mechanik dieser Neuordnung, die Gründe für den Wandel und eine Interpretation seiner konkreten Auswirkungen rückt das Buch leider nicht in den Blick.

Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. Hanser, München 2013. 334 S., Fr. 31.90.

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