Freitag, 6. Mai 2016

Alltag im Oströmischen Reich.

aus Die Presse, Wien, 30.04.2016                                             aus der Scylitzes-Handschrift, 12./13. Jh.

Der Alltag von Byzanz wird lebendig
Der gute Ausgang von Situationen des täglichen Lebens wurde von Priestern beschworen, vom Almauftrieb über den Fischfang bis zum ersten Bartwuchs und den Lernerfolg.
        

„Wir geben Gott zurück, was er uns gegeben hat.“ Das ist der Sinn der Zeremonie beim Übergang vom Kind zum Mannesalter, wie die Byzantinistin Claudia Rapp ausführt. Manifestiert wird dies an dem ersten Bartwuchs, der mit einer Gebetsformel als Opfergabe Gott überantwortet wird. So geschehen im Alltag von Byzanz, in den Sitten und Gebräuchen, die in Teilen der orthodoxen Welt über Jahrhunderte praktiziert wurden.

In dem Forschungsprojekt des Wissenschaftsfonds FWF „Alltag und Religion: byzantinische Gebetsbücher als sozialgeschichtliche Quelle“ werden anhand der Sichtung der byzantinischen Gebetsbücher (griechisch: Euchologia) Szenen aus dem Alltagsleben aller sozialen Schichten offengelegt. Die Gebetsbücher enthalten im ersten Teil mehrere Liturgien für die Eucharistiefeier sowie die Riten für andere Sakramente wie Taufe, Eheschließung, Begräbnis und Mönchsweihe.
Claudia Rapp, die in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Byzanzforschung leitet und an der Uni Wien Professorin für Byzantinistik ist, legt mit ihrem wissenschaftlichen Team den Fokus aber auf den zweiten, bisher kaum ausgewerteten Teil der Gebetsbücher, die „kleinen Gebete“. 

Diese liefern zum Teil bisher nicht bekannte Einblicke in die christlich-mittelalterliche Gesellschaft von Byzanz. „Es hat mich überrascht, dass sich in den Gebeten alle Belange des Alltagslebens finden, vom Schlafzimmer bis zur Küche, vom bäuerlichen Hofleben bis zu einzelnen Arbeitsvorgängen“, sagt Rapp.

Erlebnis des ersten Schultags 

Es finden sich Gebete für Frauen vor und nach der Geburt, eben das Gebet für den Bartwuchs oder für die Zubereitung des Essens wie das Gebet gegen die Verunreinigung des Käseteigs. Auch der gute Start am ersten Schultag und die Behebung von Lernschwierigkeiten finden sich in den „kleinen Gebeten“. Viele Familien leisteten sich vorerst einen Privatlehrer und entsandten ab etwa dem siebenten Lebensjahr die Heranwachsenden zu einer ebenfalls von einem Privaten geleiteten Lerngruppe. „Das war aber eine finanzielle Frage, die Familie musste auf den Verlust einer Arbeitskraft, nämlich die manuelle Leistung des Kindes verzichten“, so die Byzantinistin.

Ein großer Teil der „kleinen Gebete“ zielt auf die Naturgewalten und die Jahreszeiten ab, so gegen Erdbeben und Dürre, im Frühsommer für einen reibungslosen Almauftrieb, dann für eine gute Weinernte und einen reichhaltigen Fischfang. Ein Gebet, das aus dem Katharinenkloster auf dem Sinai bekannt ist, wird zum Frühlingsbeginn auf den Feldern zitiert, da wird die Abwehr von Ungeziefern und Schädlingen erbeten.

Eine Besonderheit sind Gebete zur rituellen Verbrüderung. Hier handelt es sich um die priesterliche Segnung einer brüderlichen Beziehung zwischen zwei verheirateten Männern, „ein Phänomen, das nur aus Byzanz bekannt ist“ (Rapp). Mit der Bruderschaft, die jeweils nur aus zwei Männern besteht, werden Freundschaften gefestigt oder Feindschaften beigelegt. Die Männer stehen in der Kirche, auf der einen Seite der Priester, auf der anderen das Gebetsbuch auf einem Schemel. Claudia Rapp konnte in den bis jetzt bearbeiteten Gebetsbüchern zwölf verschiedene Gebete zur Verbrüderung in insgesamt 62 Handschriften dokumentieren.

Mehr als 200 Manuskripte

Geschrieben wurden die Gebetsbücher für den Gebrauch von Priestern. Die liturgischen Texte und Gebete waren im gesamten byzantinischen Raum verbreitet, auch während der osmanischen Herrschaft nach dem Fall von Byzanz 1453 sowie in Süditalien.

Im FWF-Projekt ist der Zeitraum vom späten 8. Jahrhundert bis 1650 abgesteckt. Ein Problem stellt dabei die schwere Lesbarkeit der fast durchwegs griechischen Handschriften dar. Ab der Mitte des 17. Jahrhundert setzt sich dann der Druck der Gebetsbücher durch, die bis heute aufgelegt werden. Claudia Rapp geht von mehr als 2000 Gebetsbücher-Manuskripten aus. 450 Euchologia-Handschriften sind bis jetzt bearbeitet und bereits in der neu geschaffenen Datenbank erfasst.

LEXIKON

Alltag im Mittelalter. Von 2015 bis 2018 läuft das vom Forschungsförderungsfonds eingeleitete Projekt „Alltag und Religion: byzantinische Gebetsbücher als sozialgeschichtliche Quelle“. Die wissenschaftliche Edition liegt bei der Abteilung Byzanzforschung des Instituts für Mittelalterforschung der Akademie der Wissenschaften (ÖAW).


Claudia Rapp, Vorstand des Instituts Byzantinistik und Neogräzistik an der Uni Wien, leitet die Byzanzforschung der ÖAW. 2015 wurde sie mit dem Wittgensteinpreis ausgezeichnet. Ihre jüngste Publikation: „Brother-Making in Late Antiquity and Byzantinum; Monks, Laymen and Christian Ritual“ (Oxford University Press, 2015).




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