Montag, 20. Juni 2016

Eine Feministin in den Grenzen des gesunden Menschenverstands.

aus nzz.ch, 18.6.2016, 05:30 Uhr              Marie de Gournay, wie sie der Lithograf Joseph Langlumé im 19. Jahrhundert imaginierte.  
                                                            
Marie de Gournay, eine Intellektuelle in der frühen Neuzeit
Über die Schwierigkeit, klug sein zu dürfen
Zu den «fast Vergessenen» der Geistesgeschichte gehört Marie de Gournay (1565–1645), eine Femme de lettres, Philosophin und Frauenrechtlerin, die es schaffte, ein eigenes Leben zu führen.

von Ursula Beitz

«Glücklich bist du Leser, wenn du nicht zu dem Geschlecht gehörst, dem man alle Güter verwehrt, indem man ihm die Freiheit versagt [...] und es zu keinen Pflichten, Ämtern und öffentlichen Funktionen zulässt [...] Glücklich auch der, der ohne ein Verbrechen zu begehen, weise sein kann: deine Eigenschaft, Mann zu sein, gesteht dir zu, was man den Frauen verwehrt: jegliches bedeutendes Handeln, jegliches abwägende Urteil und jegliche ausserordentliche Spekulation.»

Ungestraft gelehrt und weise sein zu können, war schon früh der Wunschtraum von Marie Le Jars de Gournay, die 1565 als ältestes von sechs Geschwistern in Paris geboren wurde. Als Marie zwölf Jahre alt ist, stirbt der Vater, woraufhin ihre nun mittellose Mutter die Metropole verlassen muss und sich mit den Kindern auf dem Anwesen der Familie in Gournay-sur-Aronde niederlässt, einem Weiler in der Picardie.

Begegnung mit Montaigne

Die Möglichkeit, auf eigenen Besitzungen zu leben, rettete die Familie zwar vor totaler Verarmung, aber für die wissbegierige Jugendliche bedeutete es gähnende Langeweile und den Verzicht auf weitere angeleitete Bildung. Einzige Zuflucht vor der mütterlichen Absicht, sie auf die traditionelle weibliche Bestimmung von Ehe und Spinnrocken vorzubereiten, stellt die väterliche Bibliothek dar. Hier findet Marie Schriften der römischen Antike, und sie bringt sich, wie sie erzählt, «in heimlich abgezweigten Stunden die klassische Literatur und sogar Latein bei, ohne Grammatik und Hilfe», nur indem sie die französischen Übersetzungen mit den Originalen vergleicht.

Mit achtzehn erlebt die autodidaktisch Gebildete das, was sie als Offenbarung bezeichnet: Ihr geraten die «Essais» von Michel de Montaigne in die Hände, die sie mit Begeisterung verschlingt. Sie ist restlos fasziniert von diesem neuartigen Stil, der philosophische Sentenzen der römischen Klassiker mit persönlichen Betrachtungen und kritischen Äusserungen zu aktuellem Zeitgeschehen verbindet. Die junge Frau brennt darauf, sich mit dem Autor über das Werk auszutauschen, was zunächst zu einem Briefwechsel zwischen den beiden führt. Zu einer persönlichen Begegnung kommt es, als sich Montaigne 1588 zur Vorbereitung einer neuen Ausgabe der «Essais» bei seinem Pariser Verleger Abel L'Angelier aufhält. Von hier aus fährt er nach Gournay zu seiner jungen Leserin, die er inzwischen als «Wahltochter» bezeichnet.

Marie ist ihrem intellektuellen Vater eine wichtige Gesprächspartnerin geworden. Ab September 1588 tritt sie mit Randbemerkungen zu den «Essais» in Erscheinung, «zu dem Zeitpunkt, als Montaigne die Überarbeitung eines Textes begann, zu dem seine junge Bewunderin sich von Anfang an zugehörig fühlte», wie der Renaissanceforscher Jean Balsamo in einer Studie zum frühen Verlagswesen schreibt.

Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt die mittellose Adlige 1591 nach Paris zurück. Hier kann sie auf den wohl durch Montaigne hergestellten Kontakt zu Abel L'Angelier zurückgreifen; sie ist nun auf einen Broterwerb angewiesen. Es sei nicht ganz ausgeschlossen, so Balsamo, dass Marie de Gournay seit dieser Zeit «mit editorischen Arbeiten kleinere Einkünfte erzielte, und obwohl sie nicht aus einer Buchdruckerfamilie stammte, konnte sie Aufgaben einer Korrekturleserin oder Lektorin bei einem Drucker, der für L'Angelier arbeitete, übernehmen». Damit stellt Marie de Gournay eine Ausnahme in der jungen Pariser Verlagswelt dar, denn Frauen waren zwar im Verkauf tätig, aber sie ist die einzige Frau, die in einer Werkstatt tätig war.

Eigene Schriften

Als ambitionierte femme de lettres begnügt sie sich nicht damit, am Werk eines anderen mitzuwirken, sondern sie will auch eigene Schriften publizieren. Ihre erste Veröffentlichung, «Der Spazierweg des Herrn de Montaigne» – der Titel stellt geschickt eine Verbindung zwischen ihr selbst und dem bekannten Mentor her –, erzählt vordergründig die Geschichte einer unglücklichen Liebe aus der Antike: Alinda, eine persische Königstochter, die als Kriegsbeute dem parthischen Herrschersohn versprochen ist, verliebt sich in einen anderen, dem sie am Hof des Zukünftigen begegnet. Dieser erwidert zunächst ihre Liebe, lässt sich aber dazu hinreissen, mit der Schwester des Bräutigams eine Liaison einzugehen. Als Alinda erkennt, dass sie betrogen wurde, ist sie so verzweifelt, dass sie bereit ist zu sterben.

Das Schicksal der persischen Königstochter, die als Spielball in den Machtintrigen der Männer eingesetzt wird, muss die dreiundzwanzigjährige Marie de Gournay so empört haben, dass sie die Geschichte zu einem Gesprächsthema bei ihren Spaziergängen 1588 mit Montaigne machte. Sie nahm Alinda zum Anlass, um mit ihm über die Benachteiligung von Frauen auch zu ihrer Zeit zu diskutieren.

Ihr 1594 erschienener roman discursif nimmt die Liebesgeschichte aus der Antike als Ausgangspunkt für einen Exkurs, in dem beklagt wird, dass Frauen bewusst in Dummheit und Abhängigkeit gehalten würden, damit die Männer leichtes Spiel mit ihnen hätten. Sobald eine Frau jedoch aus dem vorgesehenen Schema ausbreche und sich bilde, müsse sie mit Anwürfen der Männerwelt rechnen: «Jedenfalls wird man sagen, dass es ein heikles Unterfangen ist, weiser zu werden als seine Mitmenschen [...]; und wenn eine Frau nur klug genannt wird, wird man ihr schon übel nachreden.»

Über die Gleichheit

Hier hat sie im Keim das angelegt, was de Gournay zwanzig Jahre später – Jahre, in denen sie sich immer wieder zu gesellschaftlichen und politischen Themen äussert – zu der Schrift «Über die Gleichheit von Männern und Frauen» ausarbeitet. Darin hebt sie augenzwinkernd mit einer rhetorischen Bescheidenheitsfloskel an: «Viele derer, die für die Frauen Partei ergreifen gegen jene dünkelhafte Bevorzugung, die die Männer sich anmassen, stehen diesen in nichts nach, denn sie verschieben den Vorzug wiederum auf die Frauen. Ich meinerseits, [...] begnüge mich damit, sie den Männern gleichzustellen.» Die Autorin argumentiert nicht, sondern zitiert – männliche – Autoritäten der Antike und der Kirchengeschichte, denn, so ihre Erläuterung, die Triftigkeit des Versuchs einer weiblichen Stimme, «die positiven Fähigkeiten der Frauen mit Vernunft zu beweisen, würden die verbohrten Herren wieder bestreiten».

Soziale Herkunft

Die Frauen in Unwissenheit zu halten, sei absichtsvolles Bemühen der Männerwelt – das hätten schon antike Autoren erkannt. Platon führe Lastemia und Axiothea als Ausnahmeerscheinungen an, die zeigten, was Bildung auch bei Frauen bewirken könne: «Platon, dem niemand den Titel des Göttlichen streitig gemacht hat, und Sokrates [...] billigen den Frauen gleiche Rechte, Fähigkeiten und Ämter in ihrem Staat und überall sonst zu.» Dass sie innerhalb der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts einen minderen Status hätten, liege daran, dass man sie absichtlich von Bildung ausschliesse; und es sei «ein Wunder, dass der Mangel an guter Erziehung nichts Schlimmeres» anrichte.

Schon damals ist ihr klar, dass die soziale Herkunft entscheidender für Bildungschancen ist als das Geschlecht: «Um dies zu beweisen: Gibt es denn mehr Unterschiede zwischen Männern und Frauen, als unter den Frauen selbst, je nach der Bildung, die sie erhielten, je nachdem, ob sie in der Stadt oder im Dorf erzogen wurden?»

Die Geschlechterfrage bleibt das, was ihr wohl am wichtigsten ist, aber Marie de Gournay beschränkt ihre Gesellschaftskritik nicht auf diesen Themenbereich. Geschult am Variantenreichtum der grossen römischen Autoren wie Vergil, Tacitus und Sallust, deren Werke sie ins Französische übertragen hat, äussert sie sich in mehreren Traktaten auch zu sprachtheoretischen Fragen und plädiert vehement für die Erhaltung einer Sprache, die reich an Synonymen ist und die auch dialektale Wendungen nicht verachtet.

Keine Puristin

Sie widerspricht darin den Sprachpuristen, die glauben, dass «perfekt zu sprechen, heisse, einfaches und reines Französisch zu sprechen» – und gibt sich damit als noch ganz der Generation der Poetengruppe der Pléiade verpflichtete Traditionalistin zu erkennen. Dies lässt sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts, vor allem für oberflächliche Köpfe bei Hofe, als altmodisch erscheinen. Regelmässige Debatten über poetologische und sprachtheoretische Fragen führt Marie de Gournay mit Gelehrten wie Boisrobert und La Mothe le Vayer, die zu den ersten Mitgliedern der 1635 gegründeten Académie française gehören werden, jener Institution, die bis heute über die Entwicklung der französischen Sprache diskutiert und diese reglementiert. Freilich sollte es bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, bis mit Marguerite Yourcenar die erste Frau in diesen illustren Kreis der «vierzig Unsterblichen» aufgenommen wird.

Ausser zu Erziehungsfragen und zu religiösen Themen hat Marie de Gournay auch zu politisch brisanten Themen das Wort ergriffen. In Pamphleten kritisiert sie mit beissender Ironie den Typus des Höflings, der sich sogar über gute Freunde lustig mache, nur um sich damit bei Höhergestellten einzuschmeicheln. Zu Recht bezeichnet Renate Baader in ihrer Anthologie französischer Autorinnen Marie de Gournay als Moralistin, die es mit den männlichen Autoren ihres Jahrhunderts aufnehmen kann.

Zeit ihres Lebens hat Gournay ihre Texte immer wieder überarbeitet und neu gruppiert. Eine erste Sammlung ihrer Werke erscheint 1626 unter dem Titel: «L'Ombre de la Damoiselle de Gournay». 1641 gibt sie als «Les Advis» eine erweiterte Fassung ihrer Reflexionen heraus, in der auch die «Klage der Frauen» aufgenommen ist. Mit Blick auf ihre eigene Erfahrung fasst sie die Unbill, mit der sich weibliche Gelehrte ihrer Zeit auseinandersetzen mussten, noch einmal zusammen: Keine öffentlichen Ämter bekleiden zu können, nicht weise sein zu dürfen, dem Geschlecht anzugehören, dem «als einziges Glück, als einzige Tugend die Unwissenheit bleibt, die Unterwürfigkeit und die Fähigkeit, den Dummen zu geben».

Das Bemerkenswerte am Leben dieser streitbaren Intellektuellen, die sich nicht scheute, öffentlich das Wort zu ergreifen, ist, dass sie sich nicht nur theoretisch mit der Frauenfrage beschäftigt hat, sondern auch ganz praktisch das Leben einer unabhängigen Frau ohne finanzielle Absicherung durch einen Ehemann geführt hat – und das im frühen 17. Jahrhundert. Sie hat sich auch nicht, wie manche ihrer gelehrten Zeitgenossinnen, in den schützenden Raum eines Klosters begeben.

Als alleinstehende Frau lebte sie mit einer Bediensteten und einigen Katzen im Zentrum von Paris. Im Jahr 1642, da ist sie 78 Jahre alt, diktiert sie im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten einem Notar ihr Testament, in dem sie ihre finanziellen und materiellen Angelegenheiten regelt. Ihr geistiges Testament sind ihre Schriften, die glücklicherweise seit 2002 in einer kritischen Ausgabe vorliegen.

Ursula Beitz studierte Romanistik und Philosophie; sie übersetzt aus dem Französischen und lebt in Heidelberg.


Nota. - Ist es Ihnen aufgefallen? Die kluge Frau beschäftigt sich zu ihrer Zeit ausschließlich mit der Stellung der Frauen in der Öffentlichkeit. Es ist nämlich die Zeit, als eine 'Öffentlichkeit' im bürgerlichen Verständnis überhaupt erst zu entstehen begann - den Beitrag, die der Hof in Versailles dabei spielen sollte und die Frauen dort, hat sie gar nicht mehr erlebt. Erst mit dem Aufstieg der bürgerlichen Klassen unterm Schutz der absoluten Monarchie konnten der Markt sowohl als L'opinion publique Macht über das tägliche Leben der Normalbürger gewinnen; konnte 'das Private' politisiert werden.


In den traditionellen Gesellschaften geschieht ein Austausch nur zwischen Gütern, die der Produzent zufällig übrig hat. Er bleibt ein Phänomen am Rande, lediglich das kleine häusliche Handwerk - Töpfern und Weben - wird bewusst für den Tausch betrieben. Die Vorformen eine Markts bilden sich nur an den Rändern, und das heißt: zwischen den Gemeinwesen aus, und wenn dort in erster Linie Männer tätig sind, die traditionell den Haushalt nach außen vertreten, fällt das weder auf noch ins Gewicht, denn es ist ein Epiphänomen. Das Wesentliche bleibt die Hauswirtschaft, und im Haus haben die Frauen ihre eigenen Zuständigkeiten, die denen der Männer im Prinzip nicht nachstehen.

Mit dem Übergreifen des Marktes und der Öffentlichen Meinungen auf die häusliche Privatsphären ändert sich das. Die Männer begegnen einander auf Schritt und Tritt, während die Frauen am Herd isoliert bleiben. Es entsteht über den traditionellen Gemeinwesen eine Gesellschaft, und dort herrschen allerdings die Männer. Als Scharnier würde später der Salon wirken, dessen Aufblühen Frau de Gournay auch nicht mehr erlebt hat; aber er stand nur den Damen der vornehmen Klassen offen, und Frau de Gournay ahnte es: Der Schlüssel war Bildung. 

Den Rahmen des gesunden Menschenverstands musste sie noch nicht verlassen; aber ihr Leben als alte Jungfer führen.
JE


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