Mehr oder weniger Integration?
... Grossbritanniens
Austritt bringt unangenehme Fragen auf den Tisch. Zwar sind Paris und
Berlin in den vergangenen Jahren noch enger zusammengerückt, wenn es um
entscheidende Fragen der EU ging. Aber dieser Partnerschaft ist
umgekehrt proportional zur demonstrierten Verbundenheit die Substanz
abhanden gekommen. In zentralen Fragen der Wirtschafts- und
Finanzpolitik herrscht vor allem zwischen der CDU-Politikern Merkel und
dem Sozialisten François Hollande keine Übereinstimmung. Frankreich
gehört eigentlich wirtschaftlich zu den Sorgenkindern der Union, aber um
deutsche Dominanz zurückzubinden, tut Merkel so, als seien beide in
vergleichbarer Verfassung. In der Flüchtlingskrise liess Hollande die
Kanzlerin allein, indem er sich auf den lauernden Front National berief.
Die
ersten vertiefteren Stellungnahmen zur britischen Entscheidung zeigen
dieses Dilemma. Wie die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung»
berichtet, haben der deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier und
sein französischer Amtskollege Jean-Marc Ayrault ein Papier über die künftige Gestalt der EU
ausgearbeitet. Dieses will demnach den Moment dazu nutzen, die
Integration erst recht zu vertiefen und in wichtigen Politikfeldern
zusammen mit Gleichgesinnten in Europa auch neue Institutionen zu
schaffen. Dass unterschiedliche «Ambitionsniveaus» existierten und
diesen Rechnung zu tragen sei, floss etwa in die Abschlusserklärung des Aussenministertreffens der Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) am Samstag in Berlin ein. Mit dem Kanzleramt soll das Papier nicht abgestimmt sein.
Mehr oder gerade weniger Integration – Steinmeier und Ayrault dürften als linke Politiker damit genauso wie der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz
eher auf einer Linie liegen als mit Merkel oder Finanzminister Wolfgang
Schäuble, die deutlich vorsichtigere Aussagen machen. Überhaupt gehört
zu dem deutschen Dilemma die Frage, ob Grossbritanniens Austritt nun
auch über die Finanz- und Wirtschaftspolitik hinaus nach stärkerer
deutscher Führung ruft. Eine solche müsste allerdings zwingend die
Interessen der ostmitteleuropäischen EU-Staaten einbeziehen. Einige von
ihnen waren unzufrieden darüber, vom Treffen am Samstag ausgeschlossen
zu sein. Einen Bedarf nach dieser Führungsrolle gäbe es wohl. Während
einige Staaten das mit alten Ressentiments verbinden, fürchten andere
gerade Deutschlands Zaghaftigkeit.
Die
SPD versucht sich die aufkeimende Grundsatzdiskussion über die Gestalt
der EU für parteipolitische Zwecke und zur Abgrenzung von der Kanzlerin
und vom Koalitionspartner zu nutzen. Schon in seiner ersten Stellungnahme
verlangte Gabriel einen Kurswechsel gerade Deutschlands – die Abkehr
von der sogenannten Austeritätspolitik als Antwort auf die wachsende
Skepsis gegenüber der EU. Am Samstag doppelte er an einer
Parteiveranstaltung nach. Mit der Euro- und mit der Flüchtlingskrise
sind die Zweifel an der EU in Deutschland aber gerade nicht im Sinne der
Sozialdemokraten gewachsen. Merkel und die Konservativen scheinen das
eher zu verstehen. Sie sieht auch keinen Sinn darin, nun zur Strafe mit
Grossbritannien möglichst «garstig», wie sie es nannte, zu verfahren.
Das wird schon ein erster Test dafür sein, welche Schlüsse Deutschland
aus dem Brexit ziehen will. Steinmeier und die Franzosen sind nämlich
anderer Meinung als die Kanzlerin.
Nota. - Über Jahrhunderte lag Großbritanniens Interesse auf den Weltmeeren. Davon war seine Rolle in Europa bestimmt: die kontinentalen Mächte gegeneinander ausspielen, damit sie einander nicht hochkommen ließen und ein starkes Europa nicht das britische Weltreich gefährden könnte. Sein natürlicher Rivale war Frankreich, und Britanniens Rolle als Garant des europäischen Gleichgewichts verlangte zuerst, Frankreich gegen das langsam wieder aufstrebende Deutschland zu hetzen. Dafür nahm es sogar in Kauf, dass sich Frankreich in Europa mit Russland verbündete - Großbritanniens Erzfeind in Asien.
Das britische Weltreich ist längst vergessen (außer offenbar in England), eine positive Rolle in Europa zu spielen ist das Inselreich nicht gewöhnt, dafür ist es sich zu fein und - dafür fehlt ihm längst die Kraft. Doch um nicht ganz in weltweiter Bedeutungslosigkeit zu versinken, ist es auf Europas Stärke angewiesen. Für ein starkes Europa braucht es kein abseits stehendes Zünglein an der Waage, das alle gleich klein hält, sondern einen Schrittmacher mittendrin, der zeigt, wo und wie es weitergeht, und Tempo macht.
Ein polnischer Außenminister sagte mal, er fürchte sich nicht davor, dass Deutschland eine zu große Rolle in Europa spiele, sondern davor, dass es sie nicht spiele. Inzwischen haben aber auch wir eine Partei - vielleicht nur eine ephemere -, die meint, nationale Selbstständigkeit durch weltweites Raushalten und provinzielle Kleinstaa-terei wahren zu können. Die Bundesregierung hat solchen Neigungen nicht in der Griechenlandkrise und nicht in der Flüchtlingskrise nachgegeben. Jetzt, wo der Zahltag näherrückt, wird die doch hoffentlich nicht weich werden.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen