Samstag, 4. Juni 2016

Sind Angststörungen gesellschaftlich bedingt?

aus nzz.ch, 28.5.2016

Der Angst-Experte
«Wir sind die Nachkommen der Ängstlichen»
Der Psychiater Borwin Bandelow ist Experte für Angststörungen. Im Interview erklärt er, warum "normale" Angst sinnvoll ist und was man gegen eine Angststörung machen kann. 

von Jenni Roth

Herr Bandelow, ist Angst schlecht?

Im Gegenteil. Sie leitet uns elegant durchs Leben. Wenn ich morgens mit dem Fahrrad an eine gefährliche Kreuzung komme, habe ich Angst, ich könnte etwas übersehen – also passe ich besonders gut auf und schütze mich auf diese Art. Wenn ich ein lautes Geräusch höre, drehe ich mich sofort um. Wenn etwas komisch riecht, reagiere ich. Dabei haben wir gegenüber Tieren den Vorteil, dass wir besser zwischen verschiedenen Bedrohungen unterscheiden können: Für ein Reh erscheint eine Mutter mit Kind genauso gefährlich wie ein Jäger mit Gewehr.

Sind Angststörungen eine Volkskrankheit?

Sie kommen sehr häufig vor – also ja. Angststörungen sind die mit Abstand häufigste psychiatrische Erkrankung: 18 Prozent aller Menschen leiden mindestens einmal im Leben an einer Angststörung. Bei Depressionen sind es 9,5 Prozent.

Wächst die Zahl der Angststörungen?

Wissenschaftliche Untersuchungen weisen nicht darauf hin. Da es aber erst seit 1980 klare Untersuchungskriterien gibt, sind frühere Zahlen mit den heutigen schlecht vergleichbar. Es spricht aber viel dafür, dass die Zahl der psychiatrischen Erkrankungen wegen der genetischen Mitverursachung auch über Jahrhunderte gleich bleibt – so wie unsere Leber vor 2000 Jahren schon genauso aussah wie heute.

Wie definiert man eine Angststörung?

Zunächst einmal muss man sie abgrenzen von «normalen» Ängsten wie etwa der Angst vor Arbeitslosigkeit, Unfällen oder Krieg: Das sind Realängste, die einen aber nicht in diese schrecklichen Zustände versetzen, die Angstpatienten erleben. Wenn Sie morgens in der Zeitung die neuen Prognosen zu Arbeitslosenzahlen lesen, machen Sie sich zwar Sorgen, aber Sie bekommen über Ihrem Frühstück keine Panikattacke, bei der sie in Todesangst versetzt werden.

Wo verläuft die Grenze?

Ich sollte mich in Behandlung begeben, wenn ich mehr als 50 Prozent des Tages über Angst nachdenke. Oder wenn aus der Angst Probleme im Beruf entstehen, in der Familie. Wenn ich anfange, wegen der Angst übermässig Drogen oder Alkohol zu konsumieren.

Was für Angststörungen gibt es denn?

Die Panikstörung kann überall und jederzeit auftreten: auf der Strasse, auf dem Sofa. Die Symptome sind Herzrasen, Schwindel, die Angst zu sterben oder Atemnot. Oft ist die Form verbunden mit einer Agoraphobie, also einer Angst vor öffentlichen Plätzen: Die Betroffenen befürchten, sie könnten hier eine Attacke bekommen – und dann hilflos ohne medizinische Hilfe in der Kirche sein, im Kino, in einem Restaurant, in der Bahn. «Agora» zwar heisst «Platz», aber die Leute haben meist nicht Angst vor leeren Plätzen. Eigentlich müsste es «Agorasophobie» heissen, «Shopping-Angst». Denn die Attacken treten oft in Fussgängerzonen, beim Einkaufen auf.

Was gibt es noch?

Eine weitere Angststörung ist die soziale Phobie: Sie ist am weitesten verbreitet – wird aber leider selten behandelt, weil sich die Betroffenen aus Schüchternheit nicht trauen, zum Arzt zu gehen. Diese Phobie bezieht sich auf die Angst vor sozialen Situationen: ein Gedicht aufsagen, Reden halten, mit Fremden sprechen oder mit Vertretern des anderen Geschlechts. Es ist also auch eine krankhafte Form des Schüchternseins. Drittens gibt es die generalisierte Angststörung. Das ist eine an sich normale Angst vor realen Gefahren wie Unfällen oder Krankheiten – aber in übertriebener Form. Etwa eine Mutter, die täglich ihre Tochter anruft, um zu fragen, ob sie gesund sei. Dabei machen sich die Patienten «nur» Sorgen, aber sie leiden auch unter körperlichen Symptomen.

Wer ist besonders anfällig für Angststörungen?

Es ist eine Mischung aus Erziehung, Erlebtem, Krankheiten und Umwelteinflüssen. Vor allem aber spielt der genetische Faktor eine grosse Rolle. Man hat das vor allem in Zwillingsstudien untersucht: 30 bis 70 Prozent der Angststörungen sind vererbt. Bei einfachen Phobien etwa vor Spinnen oder Dunkelheit sind es 70 Prozent.

Wenn ich mich vor Spinnen fürchte, ist das doch eher anerzogen...

Nein, hier geht es nicht um ein Modelllernen oder um Erziehung. Es ist tatsächlich die Spinnenphobie selbst, die erblich ist. Auch wenn es heute in unseren Breitengraden kaum eine Spinne geben dürfte, die beisst oder sticht: Früher waren Spinnen gefährlich – wer sie nicht fürchtete, starb an den Bissen und konnte sich nicht fortpflanzen. Die Angsthasen von damals sind also unsere Vorfahren. In der Entwicklungsgeschichte überlebten die Ängstlichen. Früher dachte man, dass der Mensch mit einer formatierten Festplatte geboren wird und alle Ängste durch schlechte Lebenserfahrungen entstehen. Wenn das so wäre, hätte es in der Menschheitsgeschichte zu viele Totalausfälle gegeben. Den bösen «Klapperschlangen-Fehler» macht man also nur einmal: Man könnte die Erfahrung, dass der Biss tödlich ist, gar nicht nutzen. Daher sind viele Ängste angeboren: Wenn ein Affe im Zoo geboren wird, und man zeigt ihm nach drei Wochen ein Schlangenvideo, erschrickt er sich sofort.

Bringt denn also auch eine Angststörung unter Umständen Vorteile?

Wer unter einer sozialen Phobie leidet, bringt oft gute Leistungen, weil diese Leute sich immerzu kritisiert fühlen. Sie denken, ich bin untauglich und sehe nicht gut aus – wie kann ich also Anerkennung bekommen? Tolle Romane entstehen oft im stillen Kämmerlein – Angst ist dann der Raketenmotor für Erfolg. Aber die anderen Formen der Angst haben keine wirklichen Vorteile. Wenn Sie etwa ein Rendez-vous haben, und der Mann bekommt eine Panikattacke, denken Sie vielleicht auch: «O Gott, was kommt da auf mich zu?» Nun gut, oft sind es interessante, sensible Menschen. Und die wecken Beschützerinstinkte . . .

Sind Angststörungen ein gesellschaftliches Tabu?

Angstpatienten werden oft zum Gespött: Viele mögen lachen, wenn man vor einer Fussgängerzone Angst hat – bei einer Depression lacht wenigstens keiner. Manche Arbeitgeber stellen keine Angstpatienten ein, weil sie denken, auf die kann man nicht bauen, das sind unsichere Kandidaten. Das ist aber Unfug: Oft sind es sehr sorgfältige, gewissenhafte, kontrollierte Menschen.

Gibt es kulturelle Unterschiede – sind etwa die Schweizer anfälliger für Angststörungen als die Inder?

Es gibt sogenannte Knock-Door-Untersuchungen, die ähnlich funktionieren wie Wahlumfragen: Auf der ganzen Welt werden repräsentative Stichproben mit einem strukturierten klinischen Interview durchgeführt. In Frankreich, Japan, Libanon – und die Häufigkeit von Angststörungen ist überall dieselbe.

Also ist das Ausmass von Angststörungen auch kein Spiegel unserer Gesellschaft?

Nein, die Gesellschaft ist nicht schuld an der Angst. In Südafrika etwa gäbe es viel mehr Grund zur Angst als bei uns, aber Angststörungen kommen dort nicht häufiger vor.

Aber ist die Selbstwahrnehmung in unserer durchpsychologisierten Gesellschaft nicht anders?

Der Unterschied ist, dass man sich bei uns eher in Behandlung begibt. Trotzdem suchen laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nur 50 Prozent der Betroffenen Hilfe. Die Leute trauen sich oft nicht, sie haben Angst vor einer Stigmatisierung. Sozialphobiker sowieso – die denken dann zum Beispiel: «Der Therapeut lacht sich doch kaputt!» Viele trauen den Ärzten auch nicht zu, dass sie ihnen helfen können. Das vorherrschende Bild ist immer noch: Wer zum Psychiater geht, liegt auf der Couch und muss seine Mutterbeziehung analysieren. Die Patienten sind dann ganz überrascht, wenn eine Verhaltenstherapie oder ein Medikament wirkt.

Wie gut sind die Heilungschancen?

Wenn man nach allen Regeln der Kunst vorgeht, im Zweifel das Medikament wechselt, mehrere Anläufe versucht und das Ganze mit einer Verhaltenstherapie kombiniert, dann werden 85 Prozent der Fälle sehr gut gebessert.

Wer lässt sich behandeln?

Zwei Drittel der Patienten sind Frauen. Auch das ist in der Menschheitsgeschichte begründet. Vereinfacht gesagt: Der mutige Mann, der früher am meisten Mammutschnitzel von der Jagd heimbrachte, bekam die bessere Frau. Während diese ihre Nachkommen versorgen musste – wobei Ängstlichkeit um die Kinder sehr sinnvoll war.

Ist soziale Phobie nicht doch eine Modekrankheit?

Natürlich soll man nicht allen Schüchternen die Diagnose «soziale Phobie» geben. Man schätzt aber, dass etwa ein Viertel der Alkoholabhängigen Patienten mit einer sozialen Phobie sind – denn mit Alkohol überwindet man leicht die sozialen Ängste. Auch die Suizidraten bei Menschen mit einer sozialen Phobie sind sehr hoch. Daher ist es fast zynisch, von einer erfundenen Krankheit zu sprechen.

Der Psychiater Borwin Bandelow ist stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Göttingen und ein Experte für Angststörungen.

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