Samstag, 2. Juli 2016

Der Staat ist kein Dienstleistungsunternehmen.

Leviathan
aus nzz.ch, 1. 7. 2016

Replik auf Titus Gebels Gedankenexperiment
Der Staat ist keine Firma
Der Staat schafft die Rahmenbedingungen für einen freien Markt, darum kann er selbst nicht ein Marktteilnehmer im eigentlichen Sinne oder ein Resultat des freien Spiels der Marktkräfte sein.

von Georg Kohler

Was ist der Staat – und warum ist er etwas anderes als ein Anbieter von Dienstleistungen, etwas anderes als ein gewöhnlicher Marktteilnehmer? Oder noch einfacher: Weshalb ist die Institution des Staates marktlogisch nicht zu begreifen? Das sind Fragen, die beantworten muss, wer Titus Gebels Kritik an vorherrschenden Staatsmodel-len entkräften will. Der Staat ist etwas anderes als eine Firma, weil er selber – grundsätzlich betrachtet – Markt-teilnehmer gar nicht sein kann. Wieso? Deshalb, weil es nur durch ihn und sein Funktionieren überhaupt so etwas wie einen Markt, einen Raum rechtsfriedlicher Transaktionen, gibt.

Unüberholt: Thomas Hobbes

Das ist eine Einsicht, die aus guten Gründen und seit bald 400 Jahren von der europäischen politischen Philosophie immer wieder formuliert worden ist. Sie ist grundlegend; spätestens dann und dort, wenn und wo eine sich arbeitsteilig entwickelnde, auf wissenschaftlich-technischem Fortschritt basierende Zivilisation und damit das Bedürfnis nach grossräumigen Märkten existieren.

Der Einfachheit halber zitiere ich dazu – leicht gekürzt – die berühmten Sätze des Thomas Hobbes aus dem «Leviathan»: «Die Menschen, die von Natur aus Freiheit lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie in Staaten leben, allein mit der Absicht ein, für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedenes Leben zu führen, also aus dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen notwendig folgt, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie an die Erfüllung der Verträge und an die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden vermag. Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlasst, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten. – Verträge ohne das Schwert sind blosse Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten.»

Selbst wer wie Hobbes' Landsmann John Locke von einem weniger grimmigen Menschenbild ausgeht, ist genötigt, mit der Möglichkeit zu rechnen, dass im staatsfreien Raum der Rechtsfrieden immer wieder einmal zusammenbricht – und so Gewalt und das «Recht» des Stärkeren zum letzten Richter werden. Die blosse Möglichkeit genügt aber, um die Notwendigkeit einer Institution zu rechtfertigen, die über das Gewaltmonopol verfügt (und es durchsetzt), so dass sie in der Lage ist, law and order und die für den Marktverkehr unerlässliche Vertragssicherheit zu garantieren. Genau deswegen – noch einmal – kann der Staat kein Ergebnis des Marktes sein; denn er selbst und sein Funktionieren liefern die Voraussetzungen für dessen Bestand.

Den zweiten Denkfehler macht Gebels Analyse, wenn sie die Idee des fundierenden Gesellschaftsvertrages mit einem historischen Faktum und der Behauptung verwechselt, der Staat sei als Produkt eines wirklichen Vertragsschlusses zu denken. Zwar mag man etwa Rousseaus «Contrat Social» so lesen, als würde hier eine reale Landsgemeinde als Ursprungsort der Volkssouveränität verlangt. Doch diesen Interpretationsfehler hat die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages längst ausdrücklich korrigiert; etwa durch Kant. Die Begründungslast der Notwendigkeit staatlicher Ordnungsgewalt einer historischen Fiktion aufzubürden, wäre in der Tat lächerlich.

Der Sinn des Gesellschaftsvertragsargumentes ist rechtsmoralischer Natur: Wenn es gelingt zu zeigen, dass es gut für alle ist, eine – wie Hobbes sagt – «sichtbare Gewalt» zu haben, die die «Menschen an die Erfüllung der Verträge und die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden» vermag, dann ist der staatlich realisierte Rechtszwang gerechtfertigt; ebenso wie die entsprechende Bereitschaft (all derer, die im Raum dieser Staatsgewalt leben), auf den uneingeschränkten Gebrauch der eigenen Freiheit zu verzichten, also zu Staatsbürgern – nicht aber zu «Untertanen»! – zu werden. Das Konzept eines fundamentalen «Vertrages», den alle mit allen zu schliessen bereit sind, will also nicht mehr und nichts anderes als ein Kriterium für die Gerechtigkeit und Vernünftigkeit staatsbürgerlicher Freiheitsverzichte liefern. – Ich sehe nicht, wie Gebel diese Argumentation entkräften kann.

Freilich sind mit den jetzt erinnerten Gedankengängen lediglich allererste Schritte getan. In der Tradition der neuzeitlichen politischen Philosophie werden auf der nächsten Stufe vor allem zwei Dinge diskutiert: wie man die etablierte Staatsmacht kontrollieren soll, zum einen; zum anderen, wie die Mitwirkung des Volkes, wie also Demokratie und kollektive Selbstbestimmung weiterhin möglich sind, ohne die Handlungsfähigkeit der Regierung zu lähmen.

Und die «failed states»?

Die meisten dieser Überlegungen erscheinen heute noch stringent. Es lohnt, sich mit ihnen zu beschäftigen. So vermag dann auch klarzuwerden, dass Titus Gebels ungenau gezielte Kritik nicht «den» Staat als solchen trifft, sondern die Staatsentwicklung seit 1945; den Leistungs-, Sozial- und Regulierungsstaat der Gegenwart und dessen paternalistische Neigungen.

Darüber nachzudenken, ist – natürlich – wichtig. Allerdings sollte dann ebenso das komplementäre Problem besprochen werden: das Problem fehlender Staatlichkeit und der Rückkehr jenes «Naturzustandes», von dem Hobbes' Argumentation ihren Ausgang nimmt. Wer chartered cities ein interessantes Konzept findet, der wird auch über failed states reden müssen.

Georg Kohler ist emeritierter Professor für politische Philosophie an der Universität Zürich.


Nota. - Dass der Staat eine Einrichtung sei, die Frieden schafft, damit die Privatleute in Ruhe ihren Geschäften nachgehen können, ist die bürgerliche Idee schlechthin. Sie ist in Europa nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und der Revolutionen in England herrschend geworden; aber erst in den Köpfen der bürgerlichen Klasse. In der Wirklichkeit diente er noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert allerlei andern Zwecken - die sich bei genauerem Hinsehen als die Vorrechte von Sondergruppen entpuppen. Das gilt insbesondere für sein Verhal-ten gegenüber anderen Staaten, wo die Privatinteressen einiger immer wieder vor das Friedensinteresse aller andern getreten sind.

Gegen die bürgerliche Auffassung vom Staat traten im zwanzigsten Jahrhundert Doktrinen auf, wonach dieser mehr zu besorgen habe, als nur die gegebenen Verhältnisse zu wahren, sondern vielmehr das ausgezeichnete Mittel sei, die Verhältnisse zu ändern. In dieser Perspektive wurde es selbstverständlich, dass der Staat aktiv seine eigenen Geschäfte in der Gesellschaft betrieb, als wäre er selbst ein privater Interessent. Man darf sagen, der heute selbstverständlich gewordene Sozialstaat ist das, was von den totalitären Zukunftsprojekten übriggeblieben ist; doch ohne sie wäre er vielleicht nie zustande gekommen.  

Zu rechtfertigen ist das nur mit dem Argument, dass eine demokratisch legitimierter Staat auch dort, wo er mit Privaten konkurriert, keine Partikularinteressen verfolgt (verfolgen sollte: Das Wuchern der Bürokratien dele-gitimiert ihn), sondern die mehr oder minder wohlverstandenen (der Mensch ist fehlbar) Interessen der Allge-meinheit. Wo der demokratisch legitimierte Staat freiheitlich und rechtlich verfasst ist, ist der Meinungskampf darum, wie die Interessen dieser Allgemeinheit am besten zu verstehen seien, Inhalt des politischen Lebens, und wenn alles mit rechten Dingen zugeht, wird vollkommenes Einverständnis niemals zustandekommen. Mit andern Worten, irgendwer ist immer unzufrieden, die Natur der Sache bringt das mit sich. 

Doch eventuelle Lösungen sind immer konkret; entweder mehr so oder mehr so. Und in einem repräsentativen System ist nichts endgültig, es lässt sich prinzipiell alles korrigieren. Doch ob das rechtzeitig geschieht, dafür tragen die wahlberechtigten Staatsbürger die Verantwortung selber, wer sonst?
JE







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