Sonntag, 10. Juli 2016

Über den Kontinenten und zwischen den Stühlen.

Nelson auf dem Trafalgar Square
aus nzz.ch, 8.7.2016, 05:30 Uhr

Unter der Überschrift Der Brexit in historischer Perspektive - Die Engländer haben ihren eigenen historischen Kompass gab Ulrich Schlie vorgestern in der Neuen Zürcher einen kurzen Abriss der Geschichte des britischen Weltreichs - und wie sie England Politik bis heute prägt. 

Hier ein Abschnitt:


Eine Gleichgewichtsidee, Hegemoniestreben und abrupte Kurswechsel prägen die Geschichte Britanniens in Europa. ...

Freunde und Interessen

Winston Churchill, der im Jahr 1965 betagt, hoch geehrt und als einer anderen Zeit zugehörig empfunden verstarb, hat die Mitgliedschaft seines Landes in der Europäischen Union nicht mehr erlebt. In grossen Reden als abgewählter Premierminister, etwa 1946 in Zürich, hatte er sich für eine Partnerschaft Frankreichs und Deutschlands mit der denkwürdigen Begründung ausgesprochen, dass es keine Erneuerung Europas ohne ein geistig grosses Frankreich und ein geistig grosses Deutschland geben könne. Dass auch Grossbritannien Teil dieser Vereinigten Staaten von Europa sein müsse, war ihm dabei nicht in den Sinn gekommen. Die Begründung fürs Abseitsstehen – «Wir Briten haben unseren Commonwealth» – war vergleichsweise einfach. Die gleiche europapolitische Logik wird in einer Handzeichnung Churchills vom 14. Mai 1953 sichtbar. Während eines Essens mit dem deutschen Bundeskanzler Adenauer skizzierte der 1951 ins Premierministeramt Zurückgekehrte auf der Rückseite einer Platzordnung drei einander schneidende Kreise: jeweils einen für das vereinigte Europa (oben), für Grossbritannien (links) und die Vereinigten Staaten (rechts).

Wer nach einer Konstante im britischen Verhältnis zu Europa sucht, der wird sie am ehesten in einem Wort Lord Palmerstons aus der Mitte des 19. Jahrhunderts finden, dem gemäss Britannien keine Freunde hat, sondern nur ewige Interessen. Die Orientierung an Britanniens Interessen ist auch Massstab für die historische Beurteilung Churchills. Im Grunde verdankt Churchill seinen Ruhm, zugespitzt formuliert, einem einzigen Entschluss: der Entscheidung, nach dem Fall Frankreichs und im Moment der äussersten Bedrohung der freien Welt – als deren verbliebener Vorposten in Europa – Hitler und der nationalsozialistischen Herausforderung die Stirn zu bieten. Churchill hatte damals kein Risiko gescheut. Er hatte auf Kampf gesetzt und dabei auch die Möglichkeit der Niederlage in Kauf genommen.

Die Erinnerung an die Kriegsallianz mit Amerika, die Gewissheit, in der Anti-Hitler-Koalition einen wesentlichen Anteil am militärischen Sieg zu haben, waren in den langen Jahren des Niedergangs des Imperiums im Kalten Krieg für viele Briten Antriebskraft, um am gestalterischen Anspruch festzuhalten, auch weiterhin auf der Weltbühne mitzuspielen. Dabei war Churchill schon in den letzten Kriegsjahren mit seinen Vorstellungen insbesondere auf den alliierten Kriegskonferenzen in zunehmenden Gegensatz zum amerikanischen Präsidenten Roosevelt geraten, etwa wenn es um die Beurteilung Stalins oder die Planungen für die Nachkriegszeit, insbesondere mit Blick auf Deutschland, ging.

Es mag aus heutiger Sicht als eine Paradoxie gelten, dass der zentrale Einsatz Britanniens für das freie Europa das Land gefühlsmässig nicht näher mit Kontinentaleuropa verbunden hat. Margaret Thatcher variierte in ihren grossen Europareden, so in Brügge 1988, ganz in der Tradition Churchills die in der britischen Geschichte angelegte Andersartigkeit des Vereinigten Königreiches: das Staatsbewusstsein, die andere Rechtstradition ohne eine geschriebene Verfassung, keine Invasion seit 1066.

Der Aufstieg Britanniens zur Weltmacht hatte zunächst mit der Abwendung von Europa begonnen. Noch im 17. Jahrhundert galt die Insel als eine Welt für sich. Das Land stand abseits der kontinentalen Entwicklung und war von Bürgerkriegswirren zerrissen. Im Dreissigjährigen Krieg hatte der englische König dem Haupt der Protestantischen Union, seinem Schwiegersohn Friedrich V. von der Pfalz, schnöde seine Unterstützung versagt. England wurde nicht einmal Garantiemacht des Westfälischen Friedens. Die Weltreich-Pläne des Diktators Oliver Cromwell blieben Episode. Unter den nachfolgenden Stuart-Königen dann drohte das Land zur Provinz der Bourbonen herabzusinken. Grossbritanniens Verhältnis zu Europa änderte sich erst, als das Konzert der europäischen Nationen deutlichere Konturen annahm und der Sonnenkönig Ludwig XIV. sich anschickte, das karolingische Reich zu erneuern.

Der Frieden von Utrecht

Der Anspruch Wilhelms von Oranien, formuliert in seiner Thronrede 1701, dem gemäss England die Waage Europas in den Händen halten müsse, sollte erst mit dem Frieden von Utrecht, der 1713 den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, eingelöst werden. Das Prinzip des Gleichgewichts wurde dort erstmals in einem Vertragsartikel festgehalten. Die Idee des Ausgleichs siegte über die Erbfolgeregeln, und die internationale Politik bekam eine neue Balance. Es war ein Frieden ganz nach Britanniens Geschmack. Das Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent ermöglichte Britannien erst, seinen Ambitionen in Kanada und Indien – im Siebenjährigen Krieg – Nachdruck zu verleihen. Das Prinzip des Gleichgewichts wurde von Britannien noch wiederholt für abrupte Kurswechsel bemüht. Schon bald darauf, im Nach-Utrecht-Europa, wählte Britannien in der Quadrupelallianz das Bündnis mit seinem traditionellen Rivalen Frankreich (sowie mit Österreich und den Niederlanden), um spanische Weltmachtsphantasien unter Elisabetta Farnese zu beenden. Die Westminster-Konvention vom Januar 1756, das überraschende Bündnis Englands mit dem Preussenkönig, gehört ebenfalls in diese Kategorie strategischer Kurswechsel, auch wenn es die sogenannte Kaunitzsche Koalition, das gegen Preussen gerichtete Kriegsbündnis zwischen Russland, Frankreich und Österreich, erst auslöste – jene diplomatische Revolution, die bis 1789 für die europäische Staatenwelt prägend blieb.

Britanniens Verhalten gegenüber Europa kann, wie der Historiker Brendan Simms unlängst in zwei lesenswerten Büchern dargetan hat, als eine fortdauernde Auseinandersetzung mit dem «deutschen Problem» verstanden werden, und es kann ebenso als Reaktion auf französisches Dominanzstreben von Ludwig XIV. über Napoleon bis General de Gaulle betrachtet werden. Flexibilität bei dauerhafter Orientierung an den eigenen Interessen und die Fähigkeit, wenn es sein muss, aufs Ganze zu gehen, bestimmen die Geschichte des Verhältnisses Grossbritanniens zu Europa. Die Kenntnis dieser ihrer Geschichte, die auch die Nationaldichter besungen haben, ist im Selbstverständnis der Briten gegenwärtig. Es darf jedoch bezweifelt werden, und darin liegt vermutlich das Grundproblem des britischen Blicks auf Europa, dass die tiefere Logik einer auf Vergemeinschaftung angelegten europäischen politischen Union je in London verstanden worden ist. Aus der Vergewisserung einer solchen Geschichte kann Gelassenheit erwachsen, auch die Kraft gespeist werden, wo erforderlich, gegen den Strom zu schwimmen. Doch zur britischen Geschichte zählen auch die vielen Spaltungen der Nation: Katholiken gegen Protestanten, Whigs gegen Tories. Nicht zum ersten Mal erweist sich das Land als zerrissene Nation. Britannien hat im sich hinziehenden Niedergang des Empire, auf dem langen Weg des machtpolitischen Abstiegs, seinen Bürgern mehr Wandel zugemutet als viele andere Länder. Haben diese und andere Anpassungen vielleicht die Fähigkeit der Briten, sich umzuorientieren, überfordert? Ist ihnen bei der Brexit-Entscheidung der historische Kompass entglitten? Wer in die britische Geschichte zurückblickt, der erkennt auch einen Zusammenhang zwischen äusserer Stärke und innerem Zusammenhalt. Benjamin Disraeli sprach, als er im 19. Jahrhundert Premierminister war, von Grossbritanniens «two nations» – den Armen und den Reichen; und er sprach davon, sie vereinigen zu wollen. Ohne den Erwerb eines Weltreiches, der mit der Ernennung von Königin Victoria zur Kaiserin von Indien 1876 einen markanten Gipfelpunkt erreichte, wäre ein solches Unterfangen nicht denkbar gewesen.

Ulrich Schlie ist Historiker und war Politischer Direktor im deutschen Verteidigungsministerium. Er lehrt Practice of Diplomacy an der Tufts University, Medford (Massachusetts).


Nota. - Allezeit in Europa die Strippen ziehen, um sich so weit wie möglich raushalten zu können - und freie Hand zu behalten für die laufenden Geschäfte in Übersee: Das war politische Weisheit, solange man über ein Weltreich verfügte, das man unbeschadet von fremder Konkurrenz nach Gutdünken ausplündern konnte; denn so allein ließen sich die "zwei Nationen" auf Dauer unter einem Hut halten. Das Weltreich ist seit einem halben Jahrhundert dahin, aber keine der beiden "Nationen" hat es bis heute, wie es scheint, recht wahrhaben wollen. Großbritannien ist nicht einmal mehr in der Lage, in Europa Strippen zu ziehen, es konnte bestenfalls durch anhaltende Ungezogenheit am Rande die andern um Extrawürste erpressen, aber das war auf die Dauer den andern zuviel und ihnen selbst zu wenig.

Als isolierte Insel werden die zwei und womöglich mehr Nationen wohl einzeln ihrer Wege gehen, und das wäre ein schwerer Verlust für Europa, weil wir ohne britische Kultur nicht ganz wir selber bleiben können.
JE

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