aus nzz.ch, 10. 7. 2014 Abu Bakr, Gefährte und Nachfolger Mohammeds, schützt diesen gegen die Steinwürfe der Ungläubigen
Das Kalifat im Wandel der Zeit
Statthalter Gottes – Strohmann der Mächtigen
Wie ein Echo aus längst vergangener Zeit mutet die Ausrufung eines Kalifats im Machtbereich der extremistischen Gruppierung Isis an. Wie definierte sich die Macht des Kalifen im Lauf der islamischen Geschichte, und in welchem Verhältnis zur Vergangenheit steht das Selbstverständnis der Extremisten?
Pathetisch verkündete der Sprecher der islamistischen Extremistengruppe Isis, Abu Muhammad al-Adnani, am 29. Juni die Ausrufung des Kalifats und die Einsetzung von Ibrahim Awwad Ibrahim, alias Abu Bakr al-Baghdadi, als Kalifen. Schon die Wahl des Nom de guerre Abu Bakr liess vermuten, dass Ibrahim Grosses im Sinn hatte, war doch Abu Bakr der erste Nachfolger, das heisst der erste Kalif, des Propheten Mohammed gewesen. Al-Baghdadis Vorstellung vom Kalifat kann als eine Neuerfindung gelten; sie deutet eine ultrareligiöse Heilsherrschaft mit mittelalterlichen Ordnungsmustern, die auf die islamische Frühzeit projiziert werden.
Zwischen Moschee und Palast
Als herrschaftliche Ordnung wurde das Kalifat erstmals von mittelalterlichen Gelehrten wie al-Mawardi (972–1058), al-Djuwayni (1028–1085) und al-Ghazzali (1058–1111) systematisch beschrieben. Dabei war man sich schon damals keineswegs einig, ob es überhaupt ein Kalifat geben müsse. Die einen meinten, das Kalifat habe den Zweck, Herrschaft an den Islam anzubinden und die Herrschaftsordnung dem islamischen Recht zu unterstellen; ohne Kalifat würde unter Muslimen nur Zwietracht herrschen. Die anderen erachteten das Kalifat als eine Form von religiöser Vertretung der islamischen Ökumene, die zwar empfehlenswert, aber nicht unabdingbar sei. Theoretisch sollte der Kalif, so al-Ghazzali, zwei Aufgaben erfüllen: die des Imams, das heisst bei ihm die Führung der Muslime in den Angelegenheiten der Religion, und die des Sultans, das heisst die Exekutive einer Herrschaftsordnung. Letztere Funktion aber habe er nicht persönlich auszuüben, sondern an König, Sultane und Fürsten zu delegieren, die sich wiederum vertraglich zur Anerkennung des Kalifen verpflichten müssten.
Das damalige Gerangel um die Legitimität des Kalifats hatte durchaus historische Gründe. Um das Jahr 1000 existierten in der damaligen islamischen Welt gleich drei Kalifate: das abbasidische Kalifat von Bagdad, das ismailitisch-schiitische von Kairo und das umayyadische von Cordoba in Spanien. Nach dem Sturz der Umayyaden in Spanien 1031 und dem der Fatimiden in Ägypten 1171 blieb abgesehen vom allein in Nordafrika anerkannten Kalifat der Almohaden (1130–1269) nur noch das auf einen sehr kleinen Machtbereich geschrumpfte Kalifat von Bagdad übrig, ehe auch dieses 1258 nach der Eroberung durch die Truppen des Mongolen Hülegü unterging. Die symbolische Bedeutung des Kalifats blieb allerdings bestehen: Al-Hakim, ein abbasidischer Flüchtling aus Bagdad, wurde von mamlukischen Fürsten in Aleppo und Kairo 1261 als Kalif eingesetzt, einzig mit dem Ziel, grössere Allianzen bilden zu können.
Denn schon damals war das Kalifat nur noch ein Instrument, Allianzen zwischen Fürsten durch die symbolische Bindung an einen Kalifen zu bilden. Herrschaftliche Macht hatten dieser Kalif und seine Nachfahren nicht. Der letzte dieser sogenannten Schattenkalifen war al-Mutawakkil III., der 1517 vom osmanischen Sultan Selim I. abgesetzt wurde. Im späten 18. Jahrhundert entdeckten die osmanischen Sultane das Kalifat neu und nutzten es, um ihren Geltungsanspruch gegenüber muslimischen Gemeinschaften, die nach den Gebietsverlusten nicht mehr ihrer Herrschaft unterstanden, zum Ausdruck zu bringen. Eine herrschaftliche Funktion hatte das Kalifat auch dann bis zu seiner offiziellen Abschaffung im Jahre 1924 nicht.
Nachfolge des Propheten
Die seit al-Mawardi tradierte scholastische Normenordnung hatte praktisch nichts mit dem damaligen realen Kalifat zu tun. Doch ohne eine historische Imagination kommt heute ein Kalifat nicht aus. Diese bildet einen zweiten Pfeiler, auf den sich der von al-Baghdadi verkündete «Islamische Kalifatsstaat» stützt. Sie bezieht ihre Bilder aus der Zeit der ersten Nachfolger des Propheten Mohammed, der Kalifen Abu Bakr (Kalif von 632 bis 634), Umar (634–644) und Uthman (644–656). Diese drei Personen werden nun als Figuration der spätmittelalterlichen Normenordnung gedeutet und so beschrieben, als wären sie reale Herrscher im Sinne dieser Normen gewesen. Doch die Herrschaftsgewalt der ersten Kalifen lässt sich kaum mit diesen Normen in Beziehung bringen. Dies liegt vor allem daran, dass sie eben als Nachfolger des Propheten Mohammed galten; eine Nachfolgeschaft dieser Art liess sich nur auf jene beziehen, die tatsächlich aus dem direkten Umfeld des Propheten kamen. Die Partei des vierten Kalifen Ali (656–661), des Cousins und Schwiegersohns Mohammeds, hatte von Anfang an darauf gepocht, dass allein die Familie Alis legitimiert sei, die Führung der Kultgemeinschaft auszuüben.
Diese vier ersten, die sogenannten «rechtgeleiteten Kalifen» aber waren keine Cäsaren. Ihre Befehlsgewalt beschränkte sich auf das, was die islamische Kultgemeinschaft kennzeichnete; so waren sie zunächst Vorsteher im Kult. Daneben wirkten sie als Hüter des «Schatzhauses» und damit als diejenigen, denen die Befehlsgewalt über die Gemeinde der Gottestreuen anvertraut wurde, sowie als Schiedsrichter in den Angelegenheiten, die als Verletzung der Grenze zwischen dem Kult und der Sozialwelt galten. Diese Bevollmächtigung war aber verschieden von der Herrschaft, welche die sozialen Verbände, mithin die Stämme, ausübten und die sich zum Beispiel in der Privilegierung bei der Beuteverteilung oder in den Eroberungszügen zeigte. Die Befehlsgewalt der ersten vier Kalifen bezog sich auf Anliegen der Kultgemeinde. Alles Leben jenseits dessen, was sich auf den Kult beziehen liess, unterstand nicht ihrer Autorität.
Dieses frühislamische Kalifat verlor aber nach 660/680 zunächst unter den Umayyaden, dann unter den Abbasiden an Bedeutung, da sich die Kalifen nun nicht mehr als Nachfolger des Propheten sehen konnten, sondern sich stattdessen als «Stellvertreter» oder «Sachwalter» Gottes auf Erden verstanden. Hierzu wurde gerne von den beiden einzigen Stellen im Koran Gebrauch gemacht, in denen der Begriff Kalif auftaucht: In 2:30 wird davon gesprochen, dass Gott Adam als «einen Nachfolger» einsetzen wird, und in 38:26 wird David als jemand bezeichnet, den Gott als Nachfolger (zu ergänzen wäre wohl: früherer Herrscher) eingesetzt habe. Gelesen wurden beide Verse als Hinweis darauf, dass Gott einen Menschen als Herrscher einsetzen könne und dass ein so von Gott privilegierter Herrscher Kalif sei.
Dies erinnert natürlich an die mittelalterliche Diskussion um das Gottesgnadentum und an die berühmte Stelle im Römerbrief 13:1: «Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet.»
Streng genommen gab es also zwei Formen des Kalifats: die frühe Nachfolgeschaft des Propheten Mohammed und die von Gott verordnete Herrschaft. Natürlich stellte sich für islamische Juristen die Frage, wie der Akt der Einsetzung des Herrschers durch Gott gedacht werden könne. Für die meisten ergab sich die Notwendigkeit der Zustimmung. Nur dann könne eine Herrschaft als Kalifat, also als von Gott eingesetzt, gedacht werden, wenn es eine hinreichende Zustimmung der Gemeinde gebe, wenn die Einsetzung durch ein Beratungsgremium erfolge und wenn der potenzielle Kalif über einen Fähigkeitsnachweis verfüge.
Eine Minderheit nutzte diese allgemeine Rahmenordnung, um das Amt des Kalifen theoretisch jedermann zugänglich zu machen, denn allein in der Zustimmung äussere sich der Wille Gottes. Die Mehrheit allerdings beharrte darauf, dass die Nachfolge immer genealogisch zu verstehen sei: Zwar könne ein Herrscher von Gott eingesetzt und damit Kalif sein, aber nur in der genealogischen Nachfolge bilde sich der ursprüngliche Wille Gottes weiterhin ab. Daher war das Kalifat bis 1924 stets eine dynastische Ordnung. Versuche, unabhängig von einer solchen Ordnung einen Kalifen einzusetzen, sind in der islamischen Geschichte stets gescheitert. Das Kalifat wurde so zu einem Qualifikationsmerkmal königlicher Herrschaft und damit zum Bestandteil königlicher Titulatur; der Titel definierte nur noch den nie eingelösten Anspruch, eine Allianz der gesamten islamischen Ökumene zu bilden. Ein Primat der religiösen Auslegung oder gar die Normierung einer islamischen Ordnung fiel nicht in den Aufgabenbereich des dynastischen Kalifats.
Al-Baghdadi beansprucht, beide Formen des Kalifats in einer Ordnung zu vereinen. Symbolisch wurde die Prozedur wiederholt, die der Überlieferung nach 632 zur Bestimmung von Abu Bakr als erstem Kalifen geführt hatte: Die Männer, welche «die Löse- und Bindegewalt innehätten», hätten die Etablierung des islamischen Kalifats verkündet und Abu Bakr al-Baghdadi eingesetzt. Diese frühislamisch inspirierte Szene wird dann kombiniert mit dem normativen Geltungsanspruch eines von Gott eingesetzten Kalifats. Schliesslich wird noch eine genealogische Bestimmung erfüllt, indem al-Baghdadi als Haschemit identifiziert wird, der in direkter Linie vom Propheten Mohammed abstamme.
Renaissance der Kalifatsidee
Nach der Absetzung des letzten osmanischen Kalifen 1924 war der Begriff «Kalif» nur noch Topos einer innerislamischen Selbstauslegung. Alle Versuche, damals bestehende arabische Monarchien mit dem Begriff «Kalifat» aufzuwerten, scheiterten schon im Ansatz. In der politischen Fiktion hingegen zeichnete sich schon 1950 eine Neuerfindung eines republikanisch erscheinenden islamischen Kalifats ab. Es wurde nun für eine Minderheit zur Zentralfigur einer islamischen Utopie, für die der palästinensische Richter Taqi ad-Din an-Nabhani (1909–1977), Gründer der islamischen Befreiungspartei, 1953 sogar eine Verfassung schrieb. Dort heisst es: «Der Kalif ist derjenige, der die Umma in der Ausübung der Herrschaftsmacht und der Durchführung des islamischen Rechts vertritt.»
Das Kalifat selbst wurde definiert als «ein auf Zustimmung und freier Wahl beruhender Vertrag». Der Begriff Kalif hat also nicht mehr den Sinn einer Nachfolgeschaft, sondern den einer transnationalen staatlichen Herrschaft. Doch in al-Baghdadis ultrareligiöser Vision spielt dieser Gedanke keine Rolle mehr. Stattdessen verknüpft er das Kalifat mit einem Heilsversprechen. Al-Baghdadi, der sich nun als «Kalif aller Muslime» und das Kalifat selbst als «Versprechen Gottes» bezeichnet, verkündet, dass die Zustimmung zu seinem Kalifat das Seelenheil garantiere. Entsprechend wird nun der Treueschwur auf den Kalifen zu Pflicht erklärt; wer diesen nicht leiste, sei ein Abtrünniger. Die neue Ordnung heisst nun «islamischer Kalifatsstaat»; al-Baghdadi war sich wohl nicht bewusst, dass die arabische Formulierung «Kalifatsstaat» von vorneuzeitlichen arabischen Autoren fast ausschliesslich benutzt wurde, wenn es um den Untergang des abbasidischen Kalifats im Jahr 1258 ging.
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