Freitag, 18. Juli 2014

Die ursprüngliche Vieldeutigkeit des Islam.

aus Die Presse, Wien, 17. 7. 2014

Salzburger Festspiele: 
Allah ist vieldeutig, Allah sei Dank
Sehr „ambiguitätstolerant“ sei die klassische islamische Kultur im Gegensatz zum Islamismus gewesen, sagt der deutsche Arabist Thomas Bauer, der am Freitag in Salzburg auftritt.

 

Die Presse: Das Wort Ambiguitätstoleranz kommt aus der Psychologie: Es gibt Leute, die Mehrdeutigkeiten, Widersprüche besser als andere aushalten. Wendet man das auf Gesellschaften an, fallen einem als Erstes nicht unbedingt islamische Länder ein. Früher war das anders, meinen Sie?
Thomas Bauer: Ja, Widersprüche à la „Einerseits mag ich Musik, andererseits gibt es einen Hadith, der das verbietet“ spielten im Islam in klassischer Zeit nicht so eine Rolle. Er ruhte stärker in sich, man musste sich nicht so sehr gegenüber anderen definieren, abgrenzen. Sogar rechthaberischsten Gelehrten war klar, dass ihre Meinung nur wahrscheinlich die richtige war, nicht sicher.

Der Koran als geoffenbartes Gotteswort wird gern für die angebliche Starre des Islam verantwortlich gemacht. Wie mehrdeutig ist Allahs Wort?

Über tausende Jahre ist die Auslegungskultur davon ausgegangen, dass der Koran unendlich viele Bedeutungen hat. Ob der Ursprungstext geoffenbart ist oder nicht, spielt da die kleinste Rolle. Dass der Koran als Gotteswort Ambiguität nicht verhindert, sehen Sie an jedem klassischen Korankommentar, der mehrere Deutungen nebeneinander anführt. Diesen Auslegungsspielraum haben die Juristen auch genutzt. Das Wort Gottesstaat stammt von Augustinus, das gibt es im Arabischen gar nicht. Man wollte Rechtssicherheit, dafür sorgten die Rechtsgelehrten, und diese hatten zwar göttliche Quellen, aber was sie daraus machten, war wieder eine ganz andere Sache. Gerade im Strafrecht spielen religiöse Texte so gut wie keine Rolle. Und wenn doch einmal, wie im 17. Jahrhundert, hatte das politische Hintergründe.

Wissenschaft konnte sich in der islamischen Kultur nicht weiterentwickeln. Was hat das für Sie mit Religion zu tun?

Die einst blühenden Wissenschaften seien durch engstirnige Religionsgelehrte verkümmert – da wirkt das Aufklärungsdenken, dass die Priester Volksverdummer sind. Für den Islam stimmt das nicht, es hat dort kaum Gelehrte gegeben, die gegen die Wissenschaft gekämpft haben. In diesem Punkt hat sich auch die Islamwissenschaft lange Zeit irreführen lassen. Heute weiß man, dass der Grund dafür strukturelle Entwicklungen* sind, die erst viel später eingesetzt haben.

In allen möglichen Bereichen wie Musik oder Sexualität gab es oft ein geduldetes Neben- und Durcheinander unterschiedlicher Werte und Regeln. Diese Inkonsequenz in der Alltagskultur findet man im christlichen Abendland genauso. Interessant finde ich vor allem, wie sehr die Freude an der Ambiguität in der Wissenschaft von den Lesarten des Korans und im Nachdenken über Sprache dominierte...

Das Erstaunlichste an der Lesartenlehre ist nicht, dass es die unterschiedlichen Lesarten gibt, sondern die Freude und Begeisterung, mit der diese Mehrdeutigkeit als göttliche Gnade begrüßt wurde! Auch die arabische Rhetoriktheorie hatte enorme Freude am Uneindeutigen. Es gab immer wieder Strömungen, die von der Interpretationsvielfalt weg und den Text wörtlich lesen wollten; sie setzten sich aber höchstens kurzzeitig durch. Heute geht diese Lesartentradition allerdings etwas unter, die Islamisten ersetzen sie durch Ideologien, die unzweideutig nach westlichem Ideologiemuster funktionieren.

Sie meinen tatsächlich, der Islamismus hat sich die „Ambiguitätsintoleranz“ vom Westen abgeschaut?

Das 19. Jahrhundert ist im Westen eine Zeit, in der man Widersprüche als quälend empfindet und in der sich Ideologien bilden. Genau in dieser Zeit stellt sich auch für die islamische Welt die Alternative, westliche Ideologien zu übernehmen oder sich mit einer eigenen Ideologie dagegen zu behaupten.

Kämpfe um den „wahren“ Islam gab es aber immer schon. Wie passt der alte Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zur islamischen Ambiguitätstoleranz?

In der Frühzeit gab es große Spannungen, aber Sunniten und Schiiten waren in der Geschichte nicht ein großer Gegensatz, sie waren auch nie homogene Gruppen. Rivalitäten gab es immer, aber mit den heutigen sind sie nicht vergleichbar. Die meiste Zeit war das Zusammenleben friedlich, auch im Irak bis ganz zuletzt – der Stamm war dort wichtiger als die Frage, ob man Sunnit oder Schiit ist. Das sind moderne Fronten. Auch die jetzige Solidarität zwischen Assads Alewiten und den Zwölfer-Schiiten in Syrien verdankt sich modernen Verhältnissen.

Die Terrorgruppe Isis beruft sich auf das Kalifat...

Isis macht aus dem Islam, was Pol Pot aus Karl Marx gemacht hat. Das fängt schon damit an, dass man Kirchen zerstört, was man nach dem klassischen Islam nicht darf. Als der Islamismus mit den Wahhabiten in Saudiarabien das erste Mal schlagend wurde – damals noch ohne westlichen Einfluss –, da waren die Hauptgegner traditionelle Muslime. Sie empfanden es als unislamisch, dass man sagte, jemand sei kein Muslim mehr, weil er das und das anders sehe.

Sie sprechen in Salzburg über Einflüsse der islamischen Kultur auf die europäische Dichtung seit dem Mittelalter. Goethe oder Rückert waren fasziniert vom Islam. Wann kam der große Umschwung im westlichen Islambild?

Viel später, als man glaubt. Die iranische Revolution 1979 war ein Wendepunkt, als sich zum ersten Mal ein größerer islamischer Staat nicht in die vom Ost-West-Konflikt geprägte Nachkriegswelt einfügen wollte. Dramatisch wurde es, als der „Ostblock“ zusammenbrach. Man brauchte einen Ersatzfeind. 


ISLAM-DISKUSSION IN SALZBURG

Thomas Bauer, geboren 1961 in Nürnberg, ist Arabist und Islamwissenschaftler an der Universität Münster. In Salzburg ist er Gast bei der Auftaktveranstaltung zur „Ouverture spirituelle“ der Festspiele am 18.Juli 2014. Thema der Vorträge und Diskussion: „Der Islam im europäischen Gedächtnis“.


*Nota.
Herr Bauer, das hätte ich gern genauer erfahren.
JE

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