Die Kultur der Korruption in China
Verlust der Vernunft
So sehr sich die chinesische Kommunistische Partei immer wieder bemüht, der Hydra der Korruption in den eigenen Reihen den Kopf abzuschlagen, das Problem bleibt endemisch. Schon Konfuzius unterteilte die Menschen in «Edle» und «Gemeine». Es ist diese Differenz, die sich bis heute bewirtschaften lässt.
Lernt gut, um Beamter zu werden, mahnt Konfuzius in den «Gesprächen», denn ein hervorragender Gelehrter solle mit seinem Wissen dem Land dienen. Während der revolutionären maoistischen Ära galt im Parteijargon der Beamte als Diener des Volkes. Im gegenwärtigen China ist der chinesische Volksmund aber zum Schluss gelangt, dass in China der Diener (der Beamte) seinen Meister (das Volk) so oft schlagen dürfe, wie er wolle.
Sowohl offizielle als auch inoffizielle Umfragen zeigen heute deutlich auf, dass eine der tiefsten Verwerfungen in China zwischen den korrupten Beamten und dem Volk verläuft. Die in immer höheren Beamtenkreisen aufgedeckten notorischen Korruptionsskandale drohen die Legitimität der Partei zu untergraben.
Weiterhin den Kotau machen
In der Volksrepublik China genossen die Beamten seit je Privilegien. Während der Kulturrevolution durften nur die Beamten die offiziellen internen Nachrichten abonnieren, denn sie verfügten angeblich über das gereifte Bewusstsein, um sich schadlos mit den ungefilterten Informationen aus dem bourgeoisen Westen und über die Volksfeinde auseinanderzusetzen, während das Volk davor geschützt werden musste. Die Beamten speisten im Gegensatz zum Volk in erlesenen Restaurants und wurden medizinisch in erstklassigen Spitälern behandelt, weil ihre Gesundheit wichtiger war für den Aufbau des neuen China als diejenige des normalen Volkes. Die Diener des Volkes seien unersetzlich, hiess es früher in der offiziellen Formulierung der Partei. Den höheren Wert der Beamten erkannte man auch daran, dass ein Beamter für ein bestimmtes Delikt höchstens seinen Posten verlor, während einer aus dem gewöhnlichen Volk dafür zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.
Mit dem Beginn der wirtschaftlichen Privatisierung in den späten achtziger Jahren stellte sich vorübergehend die Illusion ein, dass auch die Beamten bald für immer ihre Immunität verlieren würden, denn die ins Meer des Kommerzes getauchten Haifische brauchten keinen Parteisekretär mehr, weder im Geschäftsleben noch im privaten Leben. Bald erkannte man aber, dass die für das Business nötigen Stempel in den Händen der Volksdiener verblieben waren – die Haie, so gross sie auch sein mochten, mussten weiterhin vor den Beamten den Kotau machen. Der Unterschied zu früher bestand darin, dass auch die Beamten von der Marktwirtschaft zu profitieren verstanden.
Ein eklatantes Beispiel war der inzwischen gefallene einstige Parteistar Bo Xilai. Als Bo in Dalian das Sagen hatte, griff der millionenschwere Geschäftsmann Xu Ming tief in die Tasche und kam für alle möglichen Annehmlichkeiten von Bo Xilai und seiner Familie auf, von Sportwagen bis zur Finanzierung von Studienplätzen für den Sohn im englischen Elite-Internat Harrow sowie an den Universitäten Oxford und Harvard, einschliesslich des Lebensunterhalts der Frau Bos, die den Sohn in England betreute. Als Gegenleistung erhielt Xu grünes Licht für seine Geschäfte, mit denen er seine Kasse rasch wieder füllte.
Bo Xilai dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. In der gegenwärtig laufenden Anti-Korruptions-Kampagne zählt er zu den «Tigern», aber auch die Ausmasse eines Korruptionsfalls einer «kleinen Fliege» wie des ehemaligen Eisenbahn-Vizedirektors von Hohhot in der Mongolei sind schwindelerregend. Im Laufe von knapp 22 Monaten Amtsdienst hatte der Beamte in seinen Wohnungen in Peking und Hohhot neben anderen Schätzen 88 Millionen Yuan, also 4 Millionen Dollar, in bar sowie 43 Kilo in Gold zusammengerafft.
Es gibt in China viele Gründe, weshalb man Beamte bestechen zu müssen glaubt. Die hochrangigen Beamten fällen Entscheide oft allein, während das gewöhnliche Volk ihrer Willkür ausgeliefert ist. Yan Yongxi, ein Beamter, der für die Entschädigungen beim Umzug eines Quartiers in Peking zuständig war, masste sich durch seine Macht an, seiner Mätresse ein Haus zu überschreiben, um ihr für dessen Abriss eine Entschädigung von 7,4 Millionen Yuan zu verschaffen, während gewöhnliche Personen ohne Beziehungen ihn bestechen mussten, um ihre Entschädigungen zu bekommen.
Die «Edlen» und die «Gemeinen»
Zum Kreislauf der Korruption gehört auch die Tatsache, dass man in China für alles Beziehungen braucht, sei es ein Arzttermin, ein Spitalaufenthalt, medizinische Pflege oder auch nur Kostenrückerstattung durch eine Krankenkasse, insbesondere aber für die Schulauswahl, den Schuleintritt und schliesslich die Arbeitssuche. Die Höhe der zur Bestechung eingesetzten Beträge nimmt dabei inflationär zu. Bestehende Beziehungen müssen auch gepflegt werden. Wer sich die hohen «Investitionen» in die richtigen Beziehungen am besten leisten kann, sind die hohen Beamten selber. Sie verfügen durch ihre Macht über ein grosses Netzwerk und stellen die eigenen Beziehungen auch im Tausch gegen andere Privilegien zur Verfügung.
Warum ist es aber in China so schwierig, Gesetzen gegen die Korruption Nachachtung zu verschaffen? Welches kulturelle Gedankengut steht dem entgegen? Unweigerlich kehrt man hier wieder zum Konfuzianismus zurück, der die chinesische Kultur am tiefgreifendsten beeinflusste. Gemäss der konfuzianischen Lehre ist der Mensch vernunftbegabt. Aber sie teilt die Menschen in zwei Klassen: die «Edlen» und die «Gemeinen», wobei der Edle einer ist, der sich zum Beamten qualifiziert oder bereits eine Beamtenfunktion innehat. Gemäss der idealen Konzeption verfügt er über die Disziplin und die Selbstkontrolle, die er durch ständige Selbstkultivierung perfektioniert. Ein solcher Edler benötigt keine Kontrolle von aussen und steht selbstverständlich über dem Gesetz. Gesetze und Strafen bleiben den «gemeinen» Menschen vorbehalten.
Noch heute werden Vergehen von Beamten im Volksmund als «Verlust der Vernunft» dargestellt, was einer Verharmlosung gleichkommt. Wenn Vernunft und Unvernunft lediglich graduell verschieden wären und die Selbstdisziplinierung des edlen Menschen der Normalfall wäre, müssten die gemeinen Menschen lediglich auf das Auftreten eines sauberen Beamten warten. Die chinesische Geschichte ist reich an Legenden über saubere Beamten, aber es sind eben doch nur Legenden.
Die Rückführung auf die Tradition ist freilich in keiner Weise eine Entschuldigung für die immer weiter zunehmende Korruption Chinas und erst recht keine Rechtfertigung dafür, dass die chinesischen Beamten offenbar weiterhin über dem Gesetz stehen. Es stellt sich die Frage, wie wirksam es sein kann, die Korruption durch Kampagnen zu bekämpfen. Statt auch das korrupte juristische System zu ändern, müssten wirksame Kontrollmechanismen etabliert werden. Dänemark, Neuseeland und Finnland weisen derzeit die weltweit geringste Korruption auf – es würde sich für China lohnen, ihre Systeme eingehend zu studieren.
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