Conditio techno-humana
Die Erosion der Intelligenz
Eduard Kaeser ⋅ Im Juni 2012 fragte das «Wall Street Journal» im Titel eines Artikels: Warum einen Anwalt anstellen? Computer sind billiger. Thema war eine technologische Innovation im Rechtsgeschäft. Bei einem Gerichtsverfahren ersuchten die Anwälte einer Baufirma um den Beistand eines Computerprogramms. Der Algorithmus übernimmt die zeitaufwendige Dossier-Maloche, die eine Anwaltskanzlei traditionellerweise an subalterne Mitarbeiter oder an billige Temporärfirmen überwälzt.
Weil Ärzte in der Regel zu teuer seien, schlug kürzlich ein Risikokapitalgeber aus dem Silicon Valley vor, das Gesundheitssystem durch Software zu perfektionieren, die sich von der Grundversorgung zur vollen ärztlichen Betreuung entfalten und dadurch letztlich den Arzt ersetzen würde.
Natürlich ersetzen Programme Anwälte und Ärzte nicht. Aber dieses Auslagern von Arbeiten ist Symptom einer tieferen Entwicklung, des Delegierens sowohl manueller wie intellektueller Tätigkeiten an Automaten. Delegieren erweist sich als der zentrale Motor heutiger technischer Innovationen. Die Wirtschaftsjournalistin Annie Lowrey verstieg sich vor kurzem in der «New York Times» gar zur Vision des «virtuosen Zirkels»: Automatisierung schraube uns unaufhaltsam auf Ebenen hinauf, wo wir zu höherwertigen Arbeiten und Aufgaben befreit würden.
Diese Aufwärtsvision kennt offenbar die einfache Frage nicht: Muss man diese höherwertigen Fähigkeiten nicht auch lernen? Wenn uns die Automaten zusehends die Arbeit aus dem Kopf und den Händen nehmen, was tun wir dann mit Kopf und Händen? Die Frage stellt sich längst nicht mehr bloss in Fabrikhallen, sondern auch in Büros. Arbeitsmarktspezialisten sprechen von einem beunruhigenden Phänomen, dem «deskilling», also der Erosion von Fertigkeiten und qualifizierten Tätigkeiten.
Jüngst haben die Ökonomen Paul Beaudry, David Green und Ben Sand in einer Studie festgestellt, dass es Hochschulabgänger in den USA zunehmend schwerer haben, eine ihrer Ausbildung entsprechende Beschäftigung zu finden. Der Arbeitsmarktexperte David Autor vom MIT spricht von einer «Abwärtsrampe» der Fertigkeiten. Das Austrocknen des Marktes für anspruchsvolle, kognitiv fordernde Beschäftigungen erzeuge einen Kaskadeneffekt: Hochschulabgänger sähen sich zur Annahme von Arbeiten gezwungen, die unter ihrem Ausbildungsniveau und ihren Fertigkeiten lägen. Dadurch stiessen sie die weniger Qualifizierten die Rampe hinunter.
Ohne hier nun einen direkten Zusammenhang mit der Automatisierung zu unterstellen, kann man sich trotzdem fragen, wohin eine solche Entwicklung führt, wenn man immer mehr automatische Systeme in den Arbeitsprozess integriert. Neue Technologien definieren nicht nur die Arbeit um, sondern auch den Menschen. Haben wir Adam Smiths Warnung vergessen? «Jemand, der tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, die zudem immer das gleiche oder ein ähnliches Ergebnis haben, verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen.» Es ist höchste Zeit, Arbeit als ein zentrales anthropologisches Problem zu begreifen, statt sie immer nur im technologisch-ökonomischen Tunnelblick anzuvisieren. Denn dieser Blick führt auch zu einer Erosion – der umsichtigen Intelligenz nämlich. Sie ist ernster zu nehmen als alle gegenwärtigen Wirtschaftskrisen zusammen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen