Freitag, 2. Januar 2015

Deutsch-russische Seelenverwandtschaft?

aus nzz.ch, 31.12.2014, 05:30

Deutsch-russische Seelenverwandtschaft
Etwas Besseres als Europa
Uhr Deutsche und Russen verbindet eine alte Faszination. Dichter und Denker beider Länder beschworen eine Seelenverwandtschaft. Dass die Verklärungen in Zeiten des Ukraine-Konflikts nicht mehr greifen, belegt, dass Deutschland endgültig im Westen angekommen ist.

von Jörg Himmelreich

«Die Entstehungsgeschichte deutscher und russischer Humanität, – ist nicht auch sie dieselbe, – eine Leidensgeschichte nämlich? Welche Verwandtschaft in dem Verhältnis der beiden nationalen Seelen zu Europa, zum Westen, zur Politik, zur Demokratie!», ruft Thomas Mann 1918 in seinen «Betrachtungen eines Unpolitischen» verzückt aus. Eine gemeinsame deutsche und russische Humanität der beiden Kriegsgegner am Ende des Ersten Weltkriegs zu proklamieren, beruht auf einer tiefen romantischen Verklärung vermeintlicher kultureller Gemeinsamkeiten und ignoriert die politische Wirklichkeit. Der glorifizierte Sieg Hindenburgs über die Zarenarmee in der Schlacht von Tannenberg 1914 – ein Ausdruck besonderer «deutscher und russischer Humanität»?

Diese irrationale, wirklichkeitsfremde Empfindung deutsch-russischer Gemeinsamkeiten hat ungeachtet zweier Weltkriege bis heute überlebt. Derzeit lebt diese Russland-Romantik wieder in dem Diskurs darüber auf, wie auf Putins militärische und völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die gewaltsame Destabilisierung der Ostukraine angemessen zu reagieren sei. Ist der jüngste bundesdeutsche Aufruf einiger Pensionäre aus Politik und Kultur zu einer neuen Entspannungspolitik gegenüber Putin wieder Ausdruck eines vermeintlich längst der Geschichte angehörenden deutschen Sonderwegs in Europa?

Am Anfang war Leibniz

Dieses gelegentlich wieder hervorbrechende besondere deutsche Verständnis für Russland und seine Gewaltakte entspringt am Ende auch jener deutsch-russischen Seelenverwandtschaft, die Thomas Mann damals beschwor. Zu tief ist sie im deutschen Russlandbild seit Jahrhunderten verankert, als dass sie durch die Westbindung der Bundesrepublik vollständig erloschen oder durch aktuelle politische Krisen infrage gestellt werden könnte.


Mit den politischen Reformen Peters des Grossen öffnet sich das russische Zarenreich erstmals gegenüber dem Westen Europas. Nach dem Sieg über das Königreich Schweden in der Schlacht von Poltawa (1709) im Nordischen Krieg über die Vormacht im Ostseeraum beginnt der Aufstieg des 1721 von ihm gegründeten russischen Kaiserreichs zu einer europäischen Grossmacht. Peters Reformeifer und der damit einhergehende Bedarf an Fachkräften machen das petrinische Russland schnell zum Anziehungspunkt für deutsche Kaufleute, Ärzte, Apotheker, Lehrer, Professoren, Beamte und Offiziere aus den bescheidenen Verhältnissen deutscher Kleinstaaten. Seit dieser Zeit stellen die Deutschen den höchsten Anteil der westeuropäischen Ausländer in Russland.

Die besondere Anziehungskraft Russlands für deutsche Dichter und Denker findet sich schon bei dem deutschen Frühaufklärer und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Verzweifelt bemühte er sich, Peter den Grossen bei dessen Europa-Reisen zu treffen. Der tatendurstige Leibniz verband mit dem damaligen Russland Peters des Grossen den Gedanken einer Tabula rasa, die Chance eines gigantischen Modernisierungs- projekts, etwas Neues und Besseres aufbauen zu können als im westlichen Europa: «. . . gleich wie die Aufführung eines ganz neuen Gebäudes etwas Vollkommeneres zu Wege bringen kann als die Verbesserung und Aufflickung bei einem alten», so meint er nicht nur bezüglich seiner Modernisierungspläne für Russland. Für Leibniz ist Russland die Brücke vom europäischen Kulturkreis zum chinesischen, dessen Bedeutung er schon damals erkannte. Zwar trifft er Peter den Grossen 1711, 1712 und 1716 tatsächlich, aber alle seine grossen Pläne zur Modernisierung Russlands setzt Peter nicht um.

In diesem Gedankenaustausch sind Elemente zu erkennen, die fortan immer wieder aufleben sollten: Russland hat – aus der Sicht deutscher Intellektueller und Literaten – in seiner agrarischen Rückständigkeit gegenüber dem westlichen Europa gerade deswegen noch seine grosse Zukunft vor sich. Es wird zum verheissungsvollen Land, in dem sich noch all die Ideen und Lehren einer besseren Welt verwirklichen lassen, wie es in einem alten Westeuropa nicht mehr möglich schien. Russland wird zum Projektionsort von Modernisierungsutopien und Weltverbesserungslehren. Leibniz' Tabula-rasa-Vorstellung prägt das deutsche Russlandbild später bei Nietzsche und im frühen 20. Jahrhundert. Und Karriere macht auch sein Denken in geopolitischen Räumen, von Russland als Brücke von Europa nach China – die anderen, «kleinen», politisch machtloseren Staaten und Kulturen zählen nicht. Auch diese Ignoranz gegenüber kleinen Nachbarstaaten aus Gründen politischer Machtpragmatik kehrt heute wieder bei all den deutschen Befürwortern einer leichtfertigen Anerkennung von Putins Interessen.

Historische Interessenskonkordanz

Historisch geht der Aufstieg Russlands zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Europas Machtglacis zeitlich einher mit dem Aufstieg Preussens. In dem Moment also, in dem Russland die Szene der europäischen Grossmachtpolitik betritt, bildet sich gleichzeitig in der machtpolitischen «Pufferzone» der Vielzahl unbedeutender deutscher Kleinstaaten in der Mitte Europas Preussen als weitere Grossmacht heraus. Ist die Machtpolitik auf dem europäischen Kontinent jahrhundertelang geprägt von der Konkurrenz zwischen Frankreich und dem Habsburgerreich um die Vorherrschaft in Europa, wie der Cambridge-Historiker Brendan Simms jüngst noch einmal überzeugend darlegte, so ist Preussen als formaler Teil des habsburgischen «Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation» trotz seiner deutschen Rivalität mit Österreich kein natürlicher Verbündeter Frankreichs.

Diese politische Schwierigkeit eines preussischen oder in der Nachfolge deutschen bilateralen Bündnisses mit Frankreich durchzieht die europäische Geschichte bis in das Nachkriegseuropa des 20. Jahrhunderts und endet mit dem deutsch-französischen Elysée-Vertrag 1961. Die latente strategische Schwäche im preussischen und deutschen Westen zwang daher schon das junge Königreich Preussen im 18. Jahrhundert dazu, wie auch später das Deutsche Reich, wenn möglich gute Beziehungen zu Russland zu unterhalten, es sich zumindest nicht zum Feind zu machen. Denn nur so konnte eine Koalition seiner beiden Nachbarn im Westen und im Osten verhindert werden. Das war eine geopolitische Grundkonstellation, die das kontinentaleuropäische machtpolitische Beziehungsgeflecht bis zu Hitlers Einmarsch in die Sowjetunion 1941 prägte. Erst die europäische Nachkriegsordnung veränderte dies durch die Einbindung der Bundesrepublik in die EU und in die Nato und durch den «Eisernen Vorhang» fundamental.

Wie abhängig das Geschick Preussens und später des Deutschen Reichs von seinem Verhältnis zu Russland war, verdeutlichen folgende Beispiele in der europäischen Geschichte: Die entscheidende Wende zugunsten Friedrichs des Grossen im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) in Europa erfolgte 1762, als Russland unter dem neuen Zaren Peter III. aus der Kriegskoalition gegen Friedrich vorzeitig ausschied. Und erst als es dem Nachfolger Bismarcks 1890 nicht mehr gelang, den geheimen deutsch-russischen Nichtangriffspakt mit Russland fortzusetzen, schloss dieses 1892 einen Bündnisvertrag mit Frankreich – eine verhängnisvolle Entwicklung, die am Ende mit zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte.

Trotz allen ideologischen Gegensätzen erkannten sich die beiden Weltkriegsgegner und Parias der internationalen Gemeinschaft, die Weimarer Republik und Stalins Sowjetunion, bald nach dem Ende des Krieges in dem Vertrag von Rapallo 1922 diplomatisch wieder an. Das geheime Nichtangriffsabkommen des Hitler-Stalin-Pakts 1939 war der Gipfel und das Ende einer mitunter zynischen, machtpolitischen, jahrhundertealten deutsch-russischen Interessenskonkordanz jenseits aller Gegensätze von Ideologie und politischen Werten.

Diese politischen Beziehungen ergänzte eine gegenseitige Verehrung in beiden Literaturen. Nietzsche rühmt in seiner «Götzendämmerung» 1888 Russland als «die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat und die etwas noch versprechen kann» im «Gegensatz zur erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität».

Wie Russland für deutsche Dichter und Philosophen der Projektionsort eigener Phantasmen ist, so ist es die deutsche Kultur auch für Russland. Soweit russische Literaten nach Westen blicken und nicht die slawisch-orthodoxe Autonomie eines «dritten Rom» beschwören, schauen sie vor allem auf die deutsche Kultur. Der deutsche Hauslehrer ist als Figur aus den Erzählungen und Romanen von Gogol bis Tschechow nicht wegzudenken. Der Faust-Stoff wird von Puschkin genauso rezipiert wie von Bulgakow hundert Jahre später. In Gontscharows «Oblomow» ist die Figur des deutschen Freundes «Stolz» der Antipode zum Romanhelden, der an seinem Müssiggang zugrunde geht – ein bezeichnender Beleg für das russische Deutschlandbild. Dostojewski ist zwar von der orthodoxen Berufung Russlands überzeugt, Europa von dessen römisch-katholischer Dekadenz zu erlösen. Deutschland aber sei dabei Russlands natürlicher Verbündeter.

Der «deutsche Russlandkomplex»

In der Weimarer Republik erlebt dieser «deutsche Russlandkomplex» (Gerd Koenen) unter deutschen Intellektuellen seinen Höhepunkt – unabhängig vom politischen Standpunkt –, von Ernst Bloch über Oswald Spengler, Moeller van den Broeck und bis hin zu Thomas Mann, der Dostojewski hymnisch verehrte. Sie alle erliegen einer antidemokratischen und antiwestlichen Anziehungskraft, die die junge Sowjetunion auf sie genauso ausübt wie eine orthodox legitimierte, autoritäre russische Zarenherrschaft auf deutsche Geistesgrössen zuvor. Das sind auch die kulturellen Linien, an denen deutsche Rechtspopulisten mit ihrer Putin-Verehrung heute wieder anknüpfen.

Wie tief eingegraben solche jahrhundertealten Spuren in das kulturelle und politische Selbstverständnis von Staat und Gesellschaft auch heute noch sind, erleben wir in diesem Jahr, wenn Putin mit nie vorgestellter Selbstverständlichkeit an eine altrussische imperiale Expansionstradition anknüpft. Wer vor diesem historischen Hintergrund aber beobachtet, wie selbstverständlich sich die Bundesregierung und die breite Bundesbevölkerung – abgesehen von einigen Irrläufern – heute an die Spitze eines gemeinsamen, von westlichen Werten geprägten Europa gegen Putins Angriff auf die europäische Rechts- und Friedensordnung stellen, der kann beruhigt feststellen: Deutschland ist im Westen doch endgültig angekommen.

Jörg Himmelreich lehrt politische Wissenschaft an der Jacobs- Universität in Bremen.


Zum Bild:
Das ist keine heraldische Darstellung von deutschem Adler und russischem Bären. Es ist das Siegel der Doppelstadt Berlin-Cölln von 1480, nachdem der Kurfürst, residierend in Cölln, die unbotmäßige Berliner Bürgerschaft dem brandenburgischen Adler unterworfen hatte.
JE


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen