aus nzz.ch, 4. 1. 2015
Soziologe der Risikogesellschaft
Ulrich Beck gestorben
Sein Befund zur «Risikogesellschaft» bahnte ihm eine Karriere, wie sie nur wenigen Soziologen vergönnt ist. Auch viele Politiker holten sich bei ihm Denkanstösse.
ujw. (dpa) Der deutsche Soziologe Ulrich Beck ist im Alter von siebzig Jahren gestorben. Nach einem Bericht der «Süddeutschen Zeitung» starb er am 1. Januar an den Folgen eines Herzinfarkts. Beck war einer der einflussreichen und öffentlich sichtbaren Sozialwissenschafter der Gegenwart. Einem grösseren Lesepublikum wurde er mit dem Buch «Risikogesellschaft» bekannt, das – 1986, im Jahr der Atomkatastrophe von Tschernobyl, erschienen – zum Bestseller avancierte und in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurde.
Kritik an Politik
Beck wurde 1944 im damaligen Stolp in Pommern (heute Slupsk/Polen) geboren. Nach Studien der Rechtswissenschaften, Soziologie, Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaften wurde er an der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Fach Soziologie promoviert und 1979 habilitiert. Nach Professuren in Münster und Bamberg kehrte er 1992 nach München zurück. Als Direktor des Soziologischen Instituts blieb er dort bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009. Als Gastprofessor lehrte er 1995 bis 1998 in Cardiff (Wales) und ab 1997 an der London School of Economics and Political Science. 2011 wurde er Professor der Pariser Wissenschaftsstiftung Fondation Maison des Sciences de l'Homme. Ulrich Beck trat nicht nur als Autor zahlreicher zeitdiagnostischer Bücher, sondern auch als Wissenschaftsorganisator sowie in der Sphäre der Politikberatung in Erscheinung.
In seinem Bestseller «Risikogesellschaft» thematisierte er die Gefahren und Risiken, die die moderne Gesellschaft selbst produziert und die sich politischen Sicherungsmechanismen tendenziell entziehen. Er sah zudem in den modernen Risikogesellschaften die Bedeutung sozialer Klassen abnehmen: «Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch.» In der 2007 erschienenen Studie «Weltrisikogesellschaft» – einer Art Update des Buches von 1986 – beleuchtete er die globalen Risiken der Gegenwart unter verschiedenen Aspekten: unter anderem unter denen der Entgrenzung, der Unkontrollierbarkeit und des Nichtwissens. Beck kritisierte, dass die Politik mitunter den Schrecken inszeniere und die Terrorangst nutze, um ungehemmt Sicherheitsgesetze und Überwachungsinstrumente auf den Weg zu bringen.
Leidenschaftlicher Kosmopolit
Ulrich Beck war leidenschaftlicher Kosmopolit, sein Engagement galt Europa und der Idee Europas. Im Jahr 2012 rief er gemeinsam mit dem grünen Europaabgeordneten Daniel Cohn-Bendit in dem Manifest «Wir sind Europa!» zur Neugründung der Europäischen Union «von unten» und zur Schaffung eines «Freiwilligen Europäischen Jahres» auf. Mit Witz, griffigen Bildern und Bodenhaftung publizierte Beck viele erfolgreiche Bücher – gelegentlich gemeinsam mit seiner Frau und Kollegin Elisabeth Beck-Gernsheim. In «Das ganz normale Chaos der Liebe» (1990) und «Fernliebe: Lebensformen im globalen Zeitalter» (2011) beschrieb das Paar das Zerbrechen traditioneller Werte und Bindungen sowie die neuen Möglichkeiten und Verbindlichkeiten, die sich aus der Individualisierung der Lebensstile ergeben.
Nota. - Begriffliche Schärfe kann die "Risikogesellschaft" nicht für sich in Anspruch nehmen, sie ist eher phönomenal, um nicht zu sagen impressionistisch. Als solche ist sie aber treffend. Wenn sie nämlich nicht so verstanden wird, als ob es heute mehr Risiken gäbe als vordem, sondern dass im Unterschied zur Klassengesellschaft die (Lebens-) Risiken nicht mehr zwischen oben und unten ungleich, sondern über die ganze Gesellschaft gleichmäßig verteilt sind. Auch der Konzernmanager kann heute arbeitslos werden. Doch dass das Risiko immer noch für die einen größer, für die andern kleiner ist, hat sich nichts geändert; das hat Ulrich Beck auch nie behauptet.
JE
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