Mittwoch, 28. Januar 2015

Gab es gar keine Epoche der Weltrevolution?

Gerardo Dottori Il duce, 1933 
aus nzz.ch, 28.1.2015, 05:30 Uhr

«Die zerrissenen Jahre» – ein Epochenpanorama der Zwischenkriegszeit
Maligne Moderne

von Oliver Pfohlmann

«Die Flucht vor dem Frieden»: So beschrieb einmal Robert Musil die fatale Begeisterung, mit der im August 1914 unzählige junge Männer in den Krieg zogen. Mit Philipp Blom könnte man sagen: Sie war vielleicht noch mehr eine «Flucht vor der Moderne». Hofften doch viele der Kriegsfreiwilligen, an der Front endlich ihre Männlichkeit wiederzufinden, die ihnen in der anbrechenden Moderne problematisch geworden war: angesichts emanzipierter Frauen, immer mächtigerer Maschinen und der tristen Aussicht auf einen neuartigen Bürojob. Anstelle heldenhafter Kämpfe Mann gegen Mann erlebten die meisten Soldaten aber die Folgen einer entfes- selten Technologie, konstatiert Blom, und statt persönlicher Bewährung erwartete sie ein gesichtsloser Tod. Worin sie sich im Krieg wiedergefunden hätten, das sei just das «überwältigende Zerrbild einer malignen Moderne» gewesen. Letztlich habe es «keine modernere, keine stärker rationalisierte (und gleichzeitig augen- scheinlich keine wahnsinnigere) Umgebung auf der Welt als die Westfront» gegeben. So sei am Ende der Kriegszitterer, der von Trommelfeuer und Stellungskrieg traumatisierte Soldat, der mit angstgeweiteten Augen in die Zukunft starre, zum Signum einer Epoche geworden.

Keine offene Zukunft

Mit einem eindrucksvollen Kapitel über den «Shell Shock», das europaweite Phänomen des Kriegszitterns (heute würde man von «posttraumatischer Belastungsstörung» sprechen), beginnt Philipp Bloms grosses Epochenpanorama «Die zerrissenen Jahre» über die Zwischenkriegszeit. Es ist die Fortsetzung von «Der taumelnde Kontinent» (2008), einem Porträt über das Europa von der Jahrhundertwende bis zum Kriegs- ausbruch. Mit Letzterem zeigte der in Wien lebende Historiker eindrucksvoll, wie schwindelerregend modern bereits die Vorkriegsära war, und avancierte zum gefragten Jahrhundertwende-Experten.



Dass die Belle Epoque später zur guten, alten Zeit verklärt wurde, wie etwa in Stefan Zweigs «Die Welt von gestern», lag, folgt man Bloms neuem Buch, nicht nur an den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, sondern auch an dessen besonderem Ausgang. Denn das Kriegsende war die Folge allgemeiner, völliger Erschöpfung und nicht einer letzten entscheidenden Schlacht. Das «moralische Vakuum», das überall auf einem «zutiefst desillusionierten Kontinent» herrschte, führte dazu, dass der Krieg eine Art Fortsetzung fand. Und zwar im Innern der europäischen Gesellschaften: «Der Krieg hatte sich vom Schlachtfeld in die Köpfe zurückgezogen», weshalb die Zwischenkriegszeit zu einer «Zeit der inneren Konflikte» wurde, so Bloms überzeugende These.

Während der Erste Weltkrieg alles andere als zwangsläufig gewesen sei, habe die Zwischenkriegszeit von Anfang an keine offene Zukunft besessen. Das Leiden an der Moderne, das es schon vor 1914 gegeben habe, sei in der Zwischenkriegszeit dominant geworden, in Europa ebenso wie in den USA – weshalb die Propheten von links wie rechts immer mehr Zulauf erhalten hätten: «Überall zeigte sich das Dilemma, dass die Moderne vehement in das Leben der Menschen eingriff und sie dabei veränderte, diese Veränderung aber mit Angst und Misstrauen beäugt wurde.»

Eine bisher wenig beachtete Schlüsselrolle bei den Konflikten um die Moderne spielte der Gegensatz von Stadt und Land, der in Bloms Darstellung immer wieder begegnet: im Konflikt zwischen dem Roten Wien und der austrofaschistischen Heimwehr nach 1927 ebenso wie bei dem von der Moskauer Zentralregierung verursachten Holodomor, dem Hungermord an der ukrainischen Landbevölkerung 1932. Und in der Prohibitionszeit nach 1920 standen sich das protestantische Amerika der Kleinstädte und Farmen und das der grossen Metropolen gegenüber. Ironischerweise, so Blom, führte aber gerade das Alkoholverbot, dieser Triumph der konservativen Landbevölkerung über die «sittenlosen» Grossstädter, just zu einem neuen Modernisierungsschub: nicht, weil für Millionen von Amerikanern der Gesetzesbruch zur täglichen Gewohnheit wurde, sondern weil sie in den aus dem Boden schiessenden  speakeasies, den Flüsterkneipen, die Kultur der Farbigen kennenlernten wie den Jazz. Und weil nicht zuletzt junge Frauen in diesen verborgenen Räumen neue Geschlechterrollen ausprobieren konnten.

Vom Vorgängerband übernimmt Blom das Prinzip, sich in jedem Kapitel ein Jahr weiter Richtung Zukunft zu hangeln und sich dabei jeweils auf ein Thema zu konzentrieren. Um die mentalen und kulturellen Folgen des Krieges plastisch werden zu lassen, bedient er sich fast durchweg scheinbarer Nebenschauplätze, -episoden oder -figuren und zeigt deren symptomatische Bedeutung auf. Das Kapitel zu 1919 zum Beispiel widmet sich nicht dem Versailler Vertrag, sondern der kurzzeitigen Besetzung der Hafenstadt Fiume durch Gabriele D'Annunzio. Hat Italiens damals bedeutendster Dichter in seinem Möchtegern-Freistaat doch gleichsam nebenbei den italienischen Faschismus erfunden – für Blom ein passender Einstieg in eine Zusammenschau der faschistoiden Strömungen, die sich gleich nach Kriegsende überall auf der Welt formierten, nicht nur in Deutschland, bis hin zum Ku-Klux-Klan in den USA.

Die Aufhänger

Allerdings wirkt Bloms Vorgehen diesmal weniger überzeugend als in «Der taumelnde Kontinent». Das Kapitel über das Jahr 1935 zum Beispiel ist der weltweiten Flüchtlingsproblematik gewidmet, darunter nicht zuletzt den aus Nazideutschland emigrierten Juden und Intellektuellen. Warum aber wird dieses Thema dem Jahr 1935 zugeordnet – und nicht 1934, 1936 oder 1937? Weil Blom für dieses Jahr einen originellen Aufhänger gefunden hat, die Staubstürme, die 1935 den Corn Belt Amerikas verwüsteten und Millionen Menschen über die Route 66 nach Kalifornien flüchten liessen. 

So entscheidet in Bloms Darstellung letztlich das Einstiegsbeispiel über die zeitliche Zuordnung eines Themas: ob es um die Konsequenzen der modernen Physik für das Menschenbild geht (1923, wegen Hubbles Entdeckung zahlloser Galaxien im Universum) oder um die Faszination für schöne, unversehrte Körper in der Zwischenkriegszeit (1936, wegen der Olympischen Spiele in Berlin). Sich gleich an Themen zu orientieren statt an einer Scheinchronologie, wäre womöglich die überzeugendere Lösung gewesen.

Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre. 1918–1938. Hanser, München 2014. 576 S., Fr. 35.90


Nota. - Man möcht' es nicht für möglich halten: Da rezensiert einer das Buch eines Historikers über die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg - und das Wort Revolution kommt nicht einmal vor! Denn dass auch der Buchautor es nicht gebraucht haben soll, vielleicht weil er meinte, sie habe sich am Ende ja doch "in die Köpfe zurückgezogen", das halte ich denn doch für ausgeschlossen.

Es kann doch nicht sein, dass er den großen Exodus aus dem amerikanischen Mittelwesten nach Kalifornien zu Beginn der Großen Depression lediglich für das Thema Migration verwertet und den Aufstieg der CIO und insbesondere Roosevelts New Deal nicht erwähnt - nein, das ist nicht möglich. Es ist nicht möglich, dass er keinen Zusammenhang herstellt zwischen amerikanischem New Deal, deutschem Nationalsozialismus und Stalins Konterrevolution in Russland; und der begonnenen, aber verratenen Welt revolution. Nein, das kann nicht sein.
JE

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