aus nzz.ch, 5.1.2015, 05:30
Spiegeleffekte im Verhältnis von Russland und Europa
Janus wechselt sein Gesicht
Der Kampf um die Krim und die östliche Ukraine wird von Russland nicht nur politisch und militärisch, sondern auch diplomatisch und propagandistisch ausgetragen. Die Sprache spielt dabei eine bedeutsame Rolle. In ihr reflektieren sich auch die Widersprüche, die sich mit dem Bild und Selbstbild Russlands verbinden.
von Felix Philipp Ingold
Dass der russische Präsident Wladimir Putin bei westlichen Beobachtern und Mediatoren als unzuverlässig, unglaubwürdig oder gar unaufrichtig gilt, hat vorab mit seiner widersprüchlichen Begriffsverwendung zu tun. Auch gutmeinende Vermittler oder Kommentatoren sind konsterniert, wenn die Annexion der Krim als «Befreiung» oder «Heimholung» bezeichnet wird und wenn nachweisbare Waffenlieferungen offiziell als zivile Hilfsgüter ausgegeben werden. Ebenso ist man erstaunt, dass die europafreundliche Bevölkerungsmehrheit der Ukraine sowie deren Regierung im Kreml-Diskurs zu einer militanten «faschistischen Bande» oder die stets auch tatarisch bevölkerte Krim zum russischen «Tempelberg» mutieren, zu schweigen von den vielfältigen Beschuldigungen der EU und der Nato, denen man ein «aggressives Verhalten» und gleichzeitig die «Errichtung künstlicher Grenzen» vorwirft. Derartige rhetorische Kapriolen erinnern an die Hochzeit des Kalten Kriegs, als die militärische Okkupation Ungarns oder der Tschechoslowakei sowjetischerseits als «Bruderhilfe» und die kriegsrechtliche Drangsalierung Volkspolens als «Schutzmassnahme» gegen angeblich staatsgefährdende gewerkschaftliche Machenschaften gerechtfertigt wurden.
Kein schlichtes Entweder-oder
Wenn die heutige russische Diplomatie aus aktuellem Anlass erneut dazu tendiert, statt belastbarer Argumente und Beweise ideologische Floskeln ins Gespräch zu bringen, die das eigene politische Handeln eher vernebeln als klären, und mehr als das – wenn sie das, was real geschieht, in Abrede stellt oder ins Gegenteil verkehrt, so hat dies eine weit zurückreichende Tradition, die schon im alten Zarenreich systematisch praktiziert und im westlichen Europa mit Verwunderung, oft auch mit Verdruss zur Kenntnis genommen wurde.
Es ist durchaus bemerkenswert, dass Putins erklärtes Vorhaben, die sogenannten «neurussischen» Gebiete, die gegenwärtig zur Ukraine gehören, der Russländischen Föderation «anzunähern» oder «anzugliedern», implizit auf das weithin bekannte Phänomen der fassadenhaften «Potemkinschen Dörfer» verweist, die im späten 18. Jahrhundert eigens für den Augenschein westlicher Diplomaten errichtet wurden. Damit sollte die erfolgreiche Integration «Neurusslands» (das heisst der Krim und ihres taurischen Umlands) ins russische Imperium glaubhaft gemacht werden: Bewegliche Kulissen wurden auf der Besichtigungstour mitgeführt und immer wieder neu aufgebaut, um das Phantom als Realität zu vergegenwärtigen. Die geladenen Staatsgäste durchschauten wohl das Propagandaspektakel, scheinen aber nicht erkannt zu haben, wie sehr die Russen selbst dazu neigten, das Phantasma der «Potemkinschen Dörfer» für die erwünschte Wirklichkeit zu halten.
Dass jenes «neurussische» Phantasma in die heutige russische Realpolitik zurückkehrt, ist deshalb kaum überraschend, sollte aber mit seinen möglichen Konsequenzen auch nicht unterschätzt werden. Zahlreich sind die althergebrachten Vergleiche Russlands mit dem doppelgesichtigen Janus oder einem monströsen Kentauren, der Unzusammenpassendes und Unzusammengehöriges in sich vereint. Die Vergleiche beziehen sich mehrheitlich auf die Scharnierfunktion des Landes zwischen Europa und Asien, und oft sind sie verbunden mit dem Vorwurf, diese verbindende Funktion werde nicht oder zu wenig konsequent oder zu einseitig wahrgenommen – bald wende sich Russland kritiklos dem Westen zu (Stichwort: Imitationskultur), bald öffne es sich östlichen Einflüssen (Stichwort: orientalischer Despotismus), und allzu oft sei es bloss mit sich selbst beschäftigt und kapriziere sich auf einen «Sonderweg» zwischen den Kontinenten.
Peters grausame Modernisierung
Durch ein schlichtes Entweder-oder ist das multiethnische Riesenreich jedoch nicht zu fassen. Russland kann, in welcher historischen Epoche auch immer, weder als eine europäische noch als eine asiatische Nation gelten. Seit der mongolischen Besatzung im 13./15. Jahrhundert ist Russland stets beides gewesen – sowohl europäisch als auch asiatisch, beides in wechselndem Ausmass, doch beides zu gleicher Zeit. Beispielhaft dafür ist das Regime Peters des Grossen, der sein geschichtsbildendes Reformwerk – die Europäisierung Russlands, die Errichtung Petersburgs als «neues» Amsterdam oder «neues» Venedig – mit der grausamen Konsequenz der Goldenen (mongolo-tatarischen) Horde ohne Rücksicht auf menschliche Verluste durchgesetzt hat: mit massenhafter Zwangsarbeit und Zwangsumsiedlung, mit der totalen Tribunalisierung der Alltagswelt, mit der staatlichen Vereinnahmung der Kirche, mit gewalthafter Beseitigung kultureller Traditionen.
In konservativen Kreisen des Adels und der Orthodoxie glaubte man an dem rücksichtslosen Reformzaren diabolische Züge zu erkennen, weshalb ihn viele für einen «Judas», einen «Untergeschobenen» oder gar den «Antichrist» hielten. Bekanntlich waren die Nachfolgerinnen und Nachfolger Peters I. auf dem Zarenthron mehrheitlich deutscher Herkunft; mit deutschen Fachleuten wurden Spitzenpositionen der Regierung, der Armee, der Verwaltung, des Wissenschaftsbetriebs besetzt, so dass Regimekritiker seit dem späten 18. Jahrhundert verächtlich vom «knuto- germanischen» und «holstein-tatarischen» Herrscherhaus sprachen. Mit Ausnahme der verhältnismässig kurzen frankophilen Ära unter Katharina II. blieb diese deutsche beziehungsweise preussische Perspektivierung für das russische – das offizielle wie das intellektuelle – Selbstverständnis bestimmend.
Für Paul I. war das Preussentum «jedweder Nachahmung wert», das russische Volk hielt er für eine dumpfe und träge Masse, nannte es «ma chienne de nation». Man verwaltete, man exerzierte, man philosophierte in germanischer Manier. Schiller, Schelling, Hegel wurden zu Vordenkern in einem Land, das gleichzeitig die Leibeigenschaft, die Zwangsrekrutierung und die staatliche Zensur hochhielt. Es war stets das Andere, Fremde, an dem das neuzeitliche Russland Mass nahm, sich orientierte, um sich selbst zu verstehen.
Der Typus des europäischen Russen, der sich via Deutschland oder Frankreich kulturell imprägnierte und oft auch im Ausland lebte, war zumeist auch ein typischer Patriot, und nur als solcher war er ein «ganzer» Russe. Das gilt für die progressiven «Westler» und die konservativen «Slawophilen» gleichermassen, wenn auch in unerwarteter, wiederum typisch russischer Spiegelung.
Bei den Slawophilen handelte es sich durchweg um hochgebildete, meist weitgereiste und weltgewandte Intellektuelle, die Europa als «das Land der heiligen Wunder» (Chomjakow, Gogol, Dostojewski) zu schätzen wussten, zu Hause aber als Verfechter eines autochthonen Russentums, einer volksnahen Autokratie und eines russischen Sonderwegs abseits der europäischen Bühne auftraten: Was sie als typisch russisch und damit als einzigartig ausgaben, war in Wirklichkeit typisch deutsch, war eine offenkundige, geradezu plagiatorische Übertragung weltanschaulicher Positionen der deutschen Romantik auf das Zarenreich.
Die Westler wiederum, die ihren ideologischen Gegnern an Vaterlandsliebe und Volksnähe ebenbürtig, wenn nicht überlegen waren, hielten Russland nur als integralen Teil Europas und als aufgeklärte demokratisierte Nation für zukunftsfähig. – Die gesamte damalige Intelligenz – ob konservativ oder progressiv – rekrutierte sich aus derartigen «russischen Europäern» und war doch zutiefst gespalten. Nicht bloss in ideologischer, auch in persönlicher Hinsicht trat diese Spaltung offen zutage: Der Westler Wissarion Belinski, einflussreicher Anwalt des russischen Hegelianismus, beherrschte keine Fremdsprachen und musste sich die Texte des Meisterdenkers übersetzen lassen, während Sergei Uwarow, wortführender Ideologe der Autokratie, als klassisch gebildeter Intellektueller seine dogmatischen Schriften in französischer Sprache abfasste.
Der Typ des Renegaten
Tatsache bleibt, dass westlerische wie slawophile Russen vorab Europäer waren, Tatsache aber auch, dass wohl niemand auf westlicher Seite die Ambition hatte, ein «europäischer Russe» zu sein. Manche Missverständnisse zwischen Russland und Europa gehen auf diese wechselseitige Verspiegelung und die daraus erwachsende Begriffsverwirrung zurück. Wenn heutzutage Präsident Putin die ursprünglich tatarisch besiedelte Krim als ein «Heiligtum» für «Neurussland» in Anspruch nimmt, ist dies ebenso befremdlich wie das Diktum des erzkonservativen spätromantischen Dichterphilosophen Fjodor Tjutschew, der sein halbes Leben in Europa zugebracht und die Fremde als seine Heimat belobigt hat, gleichwohl aber als engagierter Apologet der russischen Autokratie und Orthodoxie aufgetreten ist.
Aus solcher Spiegelfechterei ging im mittleren 19. Jahrhundert auch der Typus des intellektuellen Renegaten hervor, dem in der Folge zahlreiche herausragende politische und philosophische Publizisten zu einer unverwechselbaren russischen Ausprägung verholfen haben. Fjodor Dostojewski begann als radikaler Sozialist und war Mitglied eines revolutionären Zirkels, wurde verhaftet und nach Sibirien verbannt, von wo er als «bodenständiger» grossrussischer Nationalist und unversöhnlicher Europakritiker in den Literaturbetrieb zurückkehrte. Pjotr Tschaadajew, luzider Geschichtsphilosoph und Zeitkritiker, wurde offiziell für «verrückt» erklärt, weil er Russland in einem offenen Brief als eine unfruchtbare «Leerstelle» in der europäischen Zivilisation bezeichnet hatte, verfasste dann jedoch eine raffinierte Rechtfertigungsschrift, in der er sein desolates Russlandbild durch die Vision einer lichten Zukunft ersetzte – mit dem ins Gegenteil verkehrten Argument, dass Russland gerade wegen seiner Rückständigkeit und Unverbrauchtheit seine grosse Zeit noch vor sich habe, derweil das westliche Europa, ausgelaugt nach seinen eigenen zivilisatorischen Anstrengungen und Erfolgen, dem Niedergang geweiht sei: eine These, die nachfolgend von den Slawophilen übernommen und bis ins späte 19. Jahrhundert kolportiert wurde, obwohl sie in dem bekennenden «Westler» Tschaadajew einen ideologischen Gegner erkennen mussten.
Während Jahrzehnten hat die Auseinandersetzung zwischen Westlern und Slawophilen die intellektuelle Szene Russlands beherrscht, doch allen gegensätzlichen Positionen zum Trotz sollte man nicht übersehen, dass es auch unter den Slawophilen fortschrittliche Kräfte und unter den Westlern konservative Protagonisten gab – war doch selbst der russische Zarenhof ein Hort des reaktionären Westlertums. Demgegenüber gerierte sich im frühen 20. Jahrhundert der Bolschewismus als revolutionäre Spielart des Westlertums, seine Dogmatik beruhte ausschliesslich auf europäischen Textvorlagen, wurde aber – wie einst der Europäisierungsprozess unter Peter dem Grossen – nach dem Vorbild asiatischer Despotien durchgesetzt und war von Beginn an durch fast schon systematische Widersprüchlichkeit gekennzeichnet, einerseits zwischen Wort und Tat, anderseits zwischen Begriff und Bedeutung.
So wurde beispielsweise in bolschewistischen Programmschriften während Jahren die Abschaffung der staatlichen Zensur gefordert, doch bereits ein halbes Jahr nach der Machtergreifung wurde sie unter anderer Bezeichnung erneut eingeführt und verschärfte sich später in einem Ausmass, das alles übertraf, was diesbezüglich in der Zarenzeit praktiziert worden war. Auch bei der kommunistischen Bürokratie, der kirchlich aufgestellten Einheitspartei, der quasireligiösen Staatsideologie und der permanenten Gängelung der Künste handelt es sich um offenkundige Spiegelungen des früheren autokratischen Regimes, das man zwar faktisch, nicht aber ideell überwunden hatte – so wie heute zwar der Sowjetstaat überwunden ist, nicht aber dessen Mentalität und strukturelle Schwerkraft. Dass Wladimir Putin, einstmals Offizier des sowjetischen Geheimdiensts und verlässlicher Parteigenosse, heute als bekennender Christ auftritt und von «heiligen» Orten, Pflichten und Rechten spricht, ist nur eines von beliebig vielen Beispielen dafür, wie leicht sich Begriffe und Bekenntnisse in ihr Gegenteil verkehren lassen.
Man erinnert sich: Derselbe Putin hat zu Beginn seiner ersten Präsidentschaft den alternden Alexander Solschenizyn eigens aufgesucht, um sich bei ihm Rat zu holen – die vormaligen ideologischen Gegner scheinen sich auf Anhieb gut verstanden zu haben und waren sich jedenfalls einig darin, dass Grossrussland zusammen mit der Ukraine und Weissrussland eine unauflösliche nationale Einheit bilde und als solche wiederhergestellt werden müsse. So schnell und so unkompliziert wechselt der russische Janus sein Gesicht.
Das mag irritierend sein, hat aber eine weit zurückreichende mentalitätsgeschichtliche Tradition, die man zur Kenntnis nehmen und im Umgang mit Russland beachten sollte: Politische Zwiegesichtigkeit und bewusst ambivalente Sprachverwendung gehören seit je zur Normalität russischer Selbstdarstellung und bestimmen weiterhin die Technik und Rhetorik der russischen Diplomatie.
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