aus nzz.ch, 30.12.2014, 08:37 Uhr
Max Weber als Mediensoziologe
Siegfried Weischenberg hat ein grosses Werk über Max Weber verfasst. Es ist eine Fundgrube für jeden, der sich mit der Bedeutung der Medienforschung gründlicher beschäftigen will.
von Stephan Russ-Mohl
Was machen Medienforscher, wenn sie kurz vor oder lange nach der Pensionierung noch im Vollbesitz ihrer Geisteskraft und Analyseschärfe sind? Sie zeigen den Jungen noch einmal so richtig, was sich stemmen lässt – endlich befreit von den Mühlsteinen der Hochschulbürokratie und von zu vielen gelangweilten, auf Wissenschaft nur noch wenig neugierigen Studierenden.
Der seinerzeit bereits über 80-jährige Doyen der Schweizer Kommunikationsforschung, Ulrich Saxer, hat uns mit der «Mediengesellschaft» sein Opus magnum hinterlassen – 968 Seiten stark. Hans Mathias Kepplinger, der wohl produktivste Empiriker seiner Generation, sichtet derzeit sein Lebenswerk und republiziert seine wichtigsten Erkenntnisse. Und Siegfried Weischenberg, einer der streitbarsten deutschsprachigen Journalismusforscher, hat sich jetzt mit zwei ehrgeizigen Bänden zu Max Weber auf die fachgeschichtliche Spurensuche begeben – nicht nur um zu zeigen, dass der Soziologe, Ökonom, Jurist und Empiriker auch ein grosser Medienforscher war, sondern auch, um zu zeigen, auf welch absurden Umwegen die junge, mehrfach umbenannte Zeitungs-, Publizistik- und Kommunikations- und Medienwissenschaft immer wieder zu Weber zurückfand.
Rein quantitativ betrachtet, bleibt Weischenberg mit knapp 840 Seiten noch hinter Saxers Vermächtnis zurück. Aber imposant ist seine doppelte Rückschau auf 100 Jahre Webersche Wirkungsmacht und kommunikationswissenschaftliche Fachgeschichte allemal – auch neben und nach all den andern Würdigungen, die bereits zum 150. Geburtstag des Sozialforschers vorgelegt wurden, die aber nicht dem Mediensoziologen Max Weber nachspürten.
Im ersten Band beschäftigt sich Weischenberg mit Webers Erbe vor allem theoriegeschichtlich. Er breitet das – später gescheiterte – Grossprojekt einer Zeitungs-Enquête noch einmal aus, das Weber 1910 dem Ersten Deutschen Soziologentag vorstellte. Mit ihm hatte Weber unstrittig den Acker für die empirische Publizistikforschung bestellt, selbst wenn dessen Saat in Deutschland erst Jahrzehnte später nach den beiden Weltkriegen so richtig aufging.
Eine Gratwanderung
Webers Enquête zielte darauf, die Medien- und Journalismusforschung von Anbeginn an innerhalb der Soziologie zu einem zentralen Thema zu machen, aber dem widersetzten sich andere Soziologen, und Webers Forschungsvorhaben, nach heutigen Massstäben so etwas wie ein «nationales Forschungsprogramm», scheiterte letztlich am fehlenden Geld. Im Gefolge präsentiert Weischenberg – und hier beginnt bereits eine etwas abenteuerliche Gratwanderung – vor allem Jürgen Habermas und Niklas Luhmann als die angeblichen Erben Webers.
Im zweiten Buch versucht Weischenberg sich an einer bibliometrischen Spurenlese zu Max Weber am Beispiel der 400 wichtigsten kommunikationswissenschaftlichen Werke. Weischenberg will zeigen, wie sich «Webersche Anregungen, Kategorien und Begriffe» in der empirischen Journalismusforschung niedergeschlagen haben. Er verspricht gar ein «vorläufiges Fazit zur Vermessung der Medienwelt in den vergangenen 100 Jahren», eine «Mischung aus ‹Kassensturz› und ‹Aufräumarbeiten›».
Beide Bücher sind fraglos spannend – und obendrein Fundgruben für jeden, der sich mit der Fach- und Wirkungsgeschichte der Medienforschung etwas gründlicher beschäftigen möchte. Problematisch werden die Bewertungen des Autors allerdings dann, wenn der Polemiker Weischenberg dem Medienforscher Weischenberg in die Quere kommt.
Noelle-Neumann im Visier
So finden etwa Emil Dovifat, einer der Gründerväter der deutschen Zeitungswissenschaft, die sich in den zwanziger Jahren von der Soziologie abspaltete, sowie seine Schülerin Elisabeth Noelle-Neumann wegen ihrer Verfehlungen im Dritten Reich nach wie vor keine Gnade vor Weischenberg, der zum Gesinnungsethiker werden kann, wenn er sich eigentlich als Empiriker auf Spurensuche begeben wollte. Es ist nicht mehr raffiniert, sondern schlitzohrig, wie er solide Quellen – etwa den Dovifat-Biografen Klaus-Ulrich Benedikt – zwar erwähnt, aber letztlich doch übergeht und sich bei seiner Würdigung so ausführlich wie irgend möglich auf windigere Zeugen stützt, um Dovifat einmal mehr am Zeug zu flicken.
Bei Dovifat übersieht Weischenberg geflissentlich, was dieser mit seinem Frühwerk «Der amerikanische Journalismus» geleistet hat – sogar als Pionier einer empirisch-vergleichenden Journalismus-Forschung, die Weischenberg so am Herzen liegt, dass er sie als ein besonderes Anliegen Webers mehrfach hervorhebt.
Elisabeth Noelle, die viel stärker im Fach verankert war als die beiden Säulenheiligen Weischenbergs, Habermas und Luhmann, und die international kaum minder Strahlkraft entfaltet hat als die beiden Grosstheoretiker, wird zwar dank ihrem Netzwerk zu den «heimlichen Herrschern in Deutschland – seit Adenauer und wohl bis nach Kohl» gezählt und verklärt. Ihre Verdienste um die Demoskopie und ihr Hauptwerk, «Die Theorie der Schweigespirale», werden dagegen eher am Rande, zum Teil sogar nur in Fussnoten, erwähnt. Dabei spürt gerade diese Theorie mittlerer Reichweite menschlichem und journalistischem Herdentrieb nach – man ist versucht zu sagen: in bester Weberscher Tradition. Die Schweigespirale wurde übrigens soeben vom renommierten amerikanischen Pew Center wieder aufgegriffen, um zu erklären, wie soziale Netzwerke den öffentlichen Diskurs verändern und die politische Spaltung unserer Gesellschaften vorantreiben.
So geht es leider mit der «durchschaubar strategischen Werkauslegung», die der Autor gerne anderen unterstellt, immer weiter. Zum Schmunzeln lädt das ganze Unterfangen trotzdem ein: Ausgerechnet Weischenberg, der wie kaum ein anderer in der Journalismusforschung für Systemtheorie und Konstruktivismus steht, muss beim Aufarbeiten der Fachgeschichte immer wieder zugestehen, dass die Welt eben nicht nur aus Systemen und dem Weberschen «Gehäuse der Hörigkeit» besteht, sondern auch aus mitunter charismatischen Persönlichkeiten, die mit ihrem Handeln und Entscheiden die Welt und damit die «Systeme» verändern. Bei Weber war das, auch weil er von der Jurisprudenz und der Ökonomie her kam, stets mitgedacht. Lupenreinen Systemtheoretikern musste man diese «Einsicht» indes erst wieder beibringen.
Den Versuch, die Journalismus-Theorie interdisziplinär um ökonomische Dimensionen und damit handlungs- und entscheidungstheoretisch anzureichern, kanzelt Weischenberg noch heute als «unterkomplex» und als «propagandistische Aktivität» ab – was sich auch so deuten lässt, dass sich der Weischenbergsche Mainstream der Kommunikationswissenschaft offenbar zu fein dafür ist, sich mit dem Werk von Nobelpreisträgern der Wirtschaftswissenschaft wie George A. Akerlof, Kenneth Arrow und Herbert A. Simon auseinanderzusetzen. Spätestens an dieser Stelle schiesst Weischenberg ein neuerliches Eigentor – und jeder weitere Versuch, Max Weber für sich zu reklamieren, wird irgendwie unglaubwürdig.
Der Geist von Bologna
An einem nicht ganz unwichtigen Punkt folgt Weischenberg dann übrigens doch den von ihm ungeliebten Ökonomen: Er stellt Bezüge zwischen Webers Bürokratieforschung und der heutigen Wissenschaftswelt her und konstatiert, die Universitäten entwickelten sich mit zunehmender Tendenz «zu Organisationen, deren Bürokratisierung die Autonomie des wissenschaftlichen Personals einschränkt, kreative Forschung behindert und Opportunismus belohnt». Dieser «Geist von Bologna» entspringe «übrigens nicht, wie viele glauben, der neoliberalen Ideologie des Kapitalismus, sondern eher der anachronistischen Bürokratie der Planwirtschaft».
Weischenberg schöpft aus seinem über Jahrzehnte hinweg gut gefüllten Zettelkasten, zeigt aber wenig Bereitschaft, Fachkontroversen, die im Rückblick eher skurril wirken, distanziert, neu und fair zu bewerten. Seine doppelte «Fachgeschichte von Theorien und Querelen» zeigt zwischen den Zeilen immer wieder, wie sehr weiterhin Abneigungen und Sympathien, Glaubensfragen und Ideologien (etwa zu Markt- und Staatsversagen, aber auch zu Medienwirkungen) den durchrationalisierten und angeblich so empiriegesättigten Wissenschaftsbetrieb prägen – und damit auch unfreiwillig, wie sehr im Wissenschaftsbetrieb der Erkenntnisfortschritt Ausprägungen menschlichen Herdentriebs geschuldet ist, der diesen Fortschritt leider wohl öfter behindert als befördert.
So ist ein überaus ambitioniertes Vorhaben doch nur partiell umgesetzt worden. Die Standort-Neubestimmung des Fachs wird von Weischenberg zwar eingefordert, aber die Chance zum Neuaufbruch, der alte Scharmützel und Grabenkriege beenden könnte, verspielt er. Es ist ja kein Zufall, dass die so wichtige öffentliche Diskussion um die Medienrevolution, die wir durchleben, weithin unter Ausschluss der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaft stattfindet.
Anschluss verloren
Generationen von Studenten wurden von ihren Professoren über Jahrzehnte hinweg damit gequält, ihre empirischen Forschungen zu den Theorien von Luhmann oder Habermas «anschlussfähig» zu machen. So trugen die beiden Grosstheoretiker und ihre Epigonen allesamt auf ihre Weise dazu bei, dass das Fach auf seinem deutschen Sonderweg den Anschluss an die Medienpraxis und über eine lange Zeit hinweg auch an die internationale Forschung verloren hat und in der Öffentlichkeit nach wie vor kaum wahrgenommen wird.
Webers Erben sind doch eher Noelle und Kepplinger als Luhmann und Habermas, da mag Weischenberg noch so sehr strampeln und sein Vorurteil kultivieren, Kepplinger betreibe «keine ‹wertfreie Journalismusforschung› im Sinne des Weberschen Postulats», weil seine Studien geprägt seien «von Misstrauen gegenüber einem Journalismus, der Eigeninteressen vertritt und Standesprivilegien verteidigt und bis zu einem gewissen Grade blind ist für die Belange eines demokratisch verfassten Gemeinwesens».
Genau damit haben sich Noelle und Kepplinger in der Tat ihre bleibenden Verdienste um das Gemeinwesen und um den Journalismus erworben, aber dieser Einsicht verweigert sich Weischenberg standhaft. Vermutlich ist das kein Zufall, denn als Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbands war er ja ein paar Jahre lang der Chef-Lobbyist dieser Berufsgruppe.
Siegfried Weischenberg: Max Weber und die Entzauberung der Medienwelt. Theorien und Querelen – eine andere Fachgeschichte. Wiesbaden: Springer VS, 2012.Siegfried Weischenberg: Max Weber und die Vermessung der Medienwelt. Empirie und Ethik des Journalismus – eine Spurenlese. Wiesbaden: Springer VS, 2014.
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