Donnerstag, 22. Januar 2015

Industrie 4.0?

Roboter schweissen die Karosserie eines Volkswagen.
aus nzz.ch, 22.1.2015, 05:30 Uhr

Potenzial von Industrie 4.0
Das Internet kommt in die Fabrik
Noch sind es meist kühne Visionen und die hohen Erwartungen, die das Bild einer digitalisierten Fertigung prägen. Eine Verschmelzung der industriellen Prozesse mit Informationstechnologie ist nicht ohne Tücken.

von Giorgio V. Müller

Das Schlagwort Industrie 4.0 ist in aller Munde. Über kaum ein anderes Konzept ist in den vergangenen Jahren in der Industriebranche so viel diskutiert worden wie über die (angeblich) vierte industrielle Revolution. Trotzdem ist das entsprechende Wissen darüber, was alles damit zusammenhängt und welche Massnahmen zu treffen sind, um als Gewinner aus dieser Transformation hervorzugehen, offenbar nach wie vor recht bescheiden (vgl. untenstehenden Text). Gleichzeitig werde medial und in der Politik «viel Schaum geschlagen und schön geredet», erklärt der Wissenschafter Rainer Drath, der Experte im deutschen ABB-Forschungszentrum Ladenburg für dieses breite Thema ist. Es gebe in der Öffentlichkeit noch viel Unverständnis darüber, was Industrie 4.0 bedeute und wie diese Vision umgesetzt werde, sagt er. Doch Industrie 4.0 werde kommen und kein Gebiet des Technologiekonzerns unberührt lassen, sagt er überzeugt.

Immer kürzere Revolutionen

Die wichtigsten vier Phasen der industriellen Fertigung haben gemeinsam, dass sie sich in immer schnellerer Folge abspielen. Ende des 18. Jahrhunderts machte der erstmalige Einsatz der Wasserkraft und der Dampfmaschine eine mechanisierte Fertigung möglich. Die zweite Phase begründete die mit dem Fliessband verbundene Massenproduktion. Mitte der 1970er Jahre begann die Automatisierung, als Computer und Roboter in der Fabrik Einzug hielten. Die ersten Merkmale der vierten industriellen Revolution waren kurz nach der Jahrtausendwende spürbar, als der Durchbruch des Internets ganz neue Möglichkeiten eröffnete. Damit war auch die Einführung von Internetfunktionen in der Produktion möglich, mit der physische und virtuelle Systeme miteinander verbunden werden.



Das internationale Beratungsunternehmen Deloitte, das schon vor einiger Zeit eine Studie über die digitale Zukunft des Standorts Schweiz verfasst hat («Werkplatz 4.0»), versteht darunter sowohl die vertikale Vernetzung intelligenter Produktionssysteme (Smart Factories) als auch die horizontale Integration globaler Wertschöpfungsketten, die auch Kunden und Lieferanten mit einbezieht. Das erlaubt eine Beschleunigung sowie durchgängige Anpassung der industriellen Prozesse, weil sie nicht nur zentral gesteuert und überwacht, sondern auch modifiziert werden.

Empfehlungen für die KMU

In Deutschland, wo sich wegen der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Industrie schon seit einigen Jahren verschiedene Gremien mit dem Thema befassen, hat z. B. das Information Management Institut (IMI) der Hochschule Aschaffenburg bereits konkrete Handlungsempfehlungen erarbeitet, die vor allem den mittelständischen Unternehmen die Transformation zu Industrie 4.0 erleichtern sollen. Das passt gut ins Bild der im Vergleich mit der Schweiz stärker angewandten Industriepolitik in Deutschland, wo das Thema seit 2012 ein strategisches Projekt der Bundesregierung ist. Und die Aktivitäten der verschiedenen Verbände werden in einem gemeinsamen Lenkungskreis (Plattform Industrie 4.0) koordiniert und verbunden.



Höchste Priorität müsse der Flexibilisierung der Produktion eingeräumt werden, schreibt das IMI. Während die Hardware zunehmend standardisiert wird, sind für die Kunden dank dem Einsatz von Software immer kleinere Stückzahlen möglich bis hin zur Losgrösse 1, der absoluten Individuallösung. Gemäss Jan-Henning Fabian, dem Leiter des ABB-Forschungszentrums Ladenburg, ist vor allem die Automobilindustrie daran sehr interessiert. Bei der Herstellung von Luxuswagen sei eine individualisierte Fertigung, die auf alle Wünsche des Kunden Rücksicht nehme, schon heute der Fall. Das übergelagerte Ziel davon bleibe jedoch immer, die Produktivität für die Kunden zu erhöhen.

Die Verbindung von Industrie und Informatik verläuft jedoch nicht ohne Reibereien, denn kulturell sind die beiden Bereiche doch recht verschieden. Die Vertreter der Industrie würden sich eher konservativ verhalten, während sich die Informatiker gerne innovativ und progressiv gäben, aber mit den extrem hohen Anforderungen an die Sicherheit und Verfügbarkeit moderner Automatisierung weniger vertraut seien, sagt Drath. Für die Industrie hätten die Stabilität und die Verfügbarkeit der Technik absoluten Vorrang, weshalb sie sich stets eher vorsichtig und abwartend gegenüber neuen Technologien verhalte. Die Realisierung von Industrie 4.0 werde deshalb meist von der Technologieseite angetrieben, die bei diesem Thema der Industrie um Jahre voraus sei. Laut Drath versteht ABB ihre Aufgabe darin, das Machbare in den Dienst des Sinnvollen zu stellen. Deshalb erarbeite das Unternehmen eine Referenzarchitektur, die Altinvestitionen schütze. Für ihre Kunden sei der Investitionsschutz von grosser Bedeutung, sagt auch Jan-Henning Fabian. Das erfordert geradezu ein schrittweises, evolutionäres Vorgehen, damit die Revolution gelingt. Selbst der US-Technologiekonzern IBM empfiehlt einen dualen, evolutionären Ansatz, bei dem bestehende Maschinen und Teile erst nachträglich mit vernetzter Intelligenz ausgerüstet werden.

Mit der zunehmenden Einbindung ins globale Netz – oder im ersten Schritt in ein firmenspezifisches Netzwerk (private cloud) – werden Sicherheitsaspekte akut, denn die bisherige organisatorische Trennung zwischen Büro und Fabrik wird aufgehoben, und der Datenfluss stoppt nicht mehr vor dem Fabriktor. Nur wenn die IT-Sicherheit gewährleistet ist, wird sich Industrie 4.0 in der Fabrikautomation durchsetzen. Angesichts der immer mehr offenen Schnittstellen für die Kommunikation in der industriellen Umgebung ist das nicht einfach.

Europa als Gewinner?

Doch welche Firmen sind für diesen globalen Trend am besten gerüstet? Laut Drath orientieren sich die Asiaten daran, was bei europäischen Unternehmen geschieht, deren Stärken in einer Standardisierung und einer die Hersteller übergreifenden Vernetzung lägen. Dieses Querschnittdenken sieht auch Ralf Schulze vom Beratungsunternehmen CSC als den Trumpf der Europäer. Im Wettbewerb um Fachleute müsse die Fertigung «stadtkonform» werden, also dort sein, wo die Mitarbeiter seien. Die Chancen für eine Reindustrialisierung Europas sind also vorhanden, wenn ein grösserer Teil der Wertschöpfung wieder hierhergebracht werden kann.

Die USA hingegen sind technologisch führend. Sie seien «die Macher, die damit beginnen, bevor Standards fixiert sind», sagt Drath. In der Tat herrscht heute noch ein Sammelsurium von unterschiedlichen und zum Teil proprietären technischen Standards in der Automation. Das Thema Industrie 4.0 sei erst lanciert worden, sagt Fabian, sei aber nicht aufzuhalten. «Wir sind uns aber bewusst, dass alles langsam gehen wird», fügt sein Kollege Drath bei.





Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

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