Samstag, 24. Januar 2015

Die Arbeitsgesellschaft wird prekär.

aus Der Standard, Wien, 22. Jänner 2015, 10:00

"Es fragt sich, was heute noch ein normaler Job ist"
Die Erwartung, dass eine gute Ausbildung die Existenz sichert, ist weniger denn je berechtigt, sagt der Soziologe Nikolaus Dimmel

INTERVIEW  MARIA STERKL

Arbeit schützt vor Armut nicht, das Phänomen der "Working Poor" nimmt zu. Welche Folgen das hat und warum Jugendliche den Glauben an die "Heilsversprechen" zu Recht verloren hat, sagt der Soziologe Nikolaus Dimmel.
derStandard.at: Gilt die Aussage "Wer sich anstrengt, dem wird es gutgehen" auf dem heutigen Arbeitsmarkt?
Dimmel: Die Sicherheit, dass man mit einer guten Ausbildung auch einen Job finden wird, der die Existenz sichert, ist verschwunden. Das Problem ist, dass unsere gesamte Arbeitswelt und ihre Narrative – "life long learning", "making work pay" – implodiert ist. Wir haben heute Akademiker, die sechs oder sieben Jahre in ein Studium investieren und dafür Einkommensverzicht in Kauf nehmen und Familienplanung aufschieben – und die dann mit 1.200 Euro netto anfangen. Das ist eine zerrüttende Erfahrung. Es gibt eine Untersuchung, wonach in Österreich Soziologen erst mit Ende Dreißig ihren ersten regulär sozialversicherungspflichtigen Job haben. Bis dahin ist es nur ein Hüpfen von einem Projekterl zum nächsten.
derStandard.at: Wie viele Menschen sind in Österreich "Working Poor"?
Dimmel: Rund neun Prozent der unselbstständig Erwerbstätigen, also rund 300.000 Menschen. Sie kommen mit dem, was sie in der Arbeit verdienen, und dem, was es sonst im Haushalt an Erträgen gibt, nicht über die Armutsschwelle.
derStandard.at: Heißt das im Umkehrschluss, dass alle, die keine Working Poor sind, einen Job haben, der ihnen den Lebensunterhalt sichert?
Dimmel: Nein. Die meisten Haushalte haben neben dem Erwerbsarbeitseinkommen auch noch Transferein- kommen – also Kindergeld, Familienbeihilfe –, andere haben Renditeneinkommen, weil sie Wohnungen vermieten oder Ähnliches. Das heißt: Jemand kann in der Arbeit 300 Euro monatlich verdienen, aber 30.000 Euro aus dem Erträgnis eines Zinshauses – er gilt dann nicht als Working Poor. Die Definition ist eine völlig künstliche: Sie sagt bloß, wer in dem Haushalt arbeitet und trotz Unterhaltszahlungen, Familienbeihilfe oder sonstiger Erträge arm ist.
derStandard.at: Das heißt: Es gäbe nach dieser Definition auch Menschen, die, würden sie alleine leben, nicht erwerbsarm sind – zusammen mit anderen hingegen schon. Und umgekehrt.
Dimmel: Ja. Hätte ich für mich selber 1.100 Euro netto, wäre ich oberhalb der Armutsschwelle. Habe ich aber zwei kleine Kinder und keinen Partner, der auch verdient, komme ich mit meinem Drei-Personen-Haushalt auch inklusive Familienbeihilfe ziemlich sicher nicht über die Schwelle. Und umgekehrt: Leute, die selbst Working Poor sind, sind es nicht, weil sie mit einem Partner liiert sind, der genug verdient.
derStandard.at: Heißt das, dass es bei Frauen eine hohe Dunkelziffer an Working Poor gibt?
Dimmel: Davon ist auszugehen, ja. Wobei auch der Staat die Armutslücke verringert. Ohne staatliche Transfer- leistungen wären 44 Prozent armutsgefährdet, mit Transferleistungen sind es zwölf Prozent.
derStandard.at: Wird die Zahl an Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können, zunehmen?
Dimmel: Nirgends sonst in Europa sind die Reallöhne in den letzten 15 Jahren so stark gesunken wie in Österreich. Wir haben zwar immer mehr Jobs, aber auf die einzelne Arbeitskraft entfallen immer weniger Stunden, die dann immer schlechter bezahlt werden. Daher ist zu erwarten, dass die Zahl der Working Poor in Zukunft steigen wird. Die EU-Kommission verfolgt ja das Ziel, Niedriglohnbereiche auszuweiten um auf diese Weise Beschäftigung zu schaffen. Gleichzeitig gibt es immer mehr atypische Beschäftigungsverhältnisse – im Jahr 2013 waren in Salzburg erstmals mehr als die Hälfte der unselbstständig Beschäftigten als atypisch einzu- stufen. Da muss man sich fragen, was heute eigentlich noch ein "normales" Arbeitsverhältnis ist – und ob man mit einem einzigen Job überhaupt auskommt.
derStandard.at: Wem nützt das, wenn es immer mehr Menschen gibt, die von der Arbeit nicht leben können und folglich kaum Steuern zahlen und wenig konsumieren?
Dimmel: Diese "Jobs, Jobs, Jobs"-Perspektive ist eine Art quasireligiöse Fixierung auf Lohnarbeit. Die Indus- triestunden-Produktivität hat in den letzten 25 Jahren derartig zugenommen, dass wir, um das Lebenshaltungs- niveau von Anfang der Neunzigerjahre zu halten, pro Tag nicht mehr als drei Stunden arbeiten müssten. Diese Gewinne wurden nicht weitergegeben, es wurden de facto immer mehr Jobs wegrationalisiert. Die Leute werden heute in einen Kreislauf geschickt, wo sie sich um Jobs bewerben, die nicht mehr existieren. Das ist das Kern- problem. Die Arbeit wird immer stärker automatisiert, die menschliche Arbeitskraft wird nur noch einge- schränkt nachgefragt. Viele Unternehmen reinvestieren ihre Gewinne ja nicht in den Betrieb, sondern in Immobilien, in Finanzkapital. Dort werden Renditen versprochen, die beim Sechs- bis Achtfachen von dem liegen, was man mit Realwirtschaft verdienen kann.
derStandard.at: Warum schneidet Österreich bei der Reallohnentwicklung so schlecht ab?
Dimmel: Die Gewerkschaften sind seit 1993 gegenüber den Arbeitgebern in einer strukturellen Defensive, weil die ständige Abwanderungsdrohung seither ihre Wirkung zeigt. Die Abschlüsse haben mit der Stundenprodukti- vität, mit dem Reichtum der Gesellschaft nicht Schritt gehalten.
derStandard.at: Wie wird man Working Poor?
Dimmel: Das sind oft Menschen in eher einfachen angelernten Tätigkeiten. Oft sind es vererbte niedrige Bildungsbeteiligungen. Diese haben oft wenig in Bildung investiert – vorrangig war, in den Arbeitsmarkt zu gehen, um Geld zu verdienen. Dazu kommt, dass Working Poor oft aus klassischen Familienverbünden herausfallen – also Alleinerziehende, Leute, die in ihrer bürgerlichen Ehe ein Desaster hinter sich haben. Oft haben sie im Lebensarbeitsverlauf auch viele Unterbrechungen, sie switchen immer wieder in die Arbeitslosig- keit und wieder heraus. Dieses ständige Rein und Raus bewirkt eine Art Entmutigung – sie glauben an nichts mehr. Auf einem Arbeitsmarkt, wo Selbstvermarktung der Arbeitnehmer so wichtig geworden ist, wo sich jeder verkaufen muss, sind solche Leute noch einmal schlechter dran.
derStandard.at: Wie wirkt sich das gesellschaftlich aus, wenn die Zahl dieser Entmutigten steigt?
Dimmel: Diese Demoralisierung ist schon auch eine Triebfeder dafür, sich fundamentalistischen Strömungen, sei es im Islam, sei es Pegida, anzuschließen. Dort spielt sich eine Art Selbstvergewisserung ab: "Ich zähle auch noch." Wenn ich junge Menschen mit T-Shirts mit der Aufschrift "Ich bleib Ghetto" sehe, denke ich: Das ist im Grunde die einzig vernünftige Reaktion jener, denen man über Jahre einen meritokratischen Aufstieg verweigert hat. Dieses Problem haben ja nicht nur die Working Poor, sondern alle, die geglaubt haben, dass es wie in den 70er-Jahren sei, dass Leistung mit sozialem Aufstieg belohnt würde.
derStandard.at: Inwiefern unterscheidet sich die berufliche Perspektive der heute 20-Jährigen von der ihrer Großeltern?
Dimmel: Das hat sich massiv verändert. Am Arbeitsmarkt gibt es heute das Anforderungsprofil einer ständigen Verfügbarkeit. Man muss ein flexibler Arbeitskraftunternehmer sein, der lebenslang lernt, der sich ununter- brochen umorientiert. Diese hohen Anforderungen sind völlig kontrastiert von den Einkommens- versprechen, die da gegeben werden. Die logische Schlussfolgerung ist: Wenn einer im Börsengeschäft in fünf Minuten zwei Millionen Euro verdient – was ist dann mein Anreiz, 60 Stunden für 1.300 Euro zu arbeiten? Von daher ist es sehr vernünftig, wenn junge Leute sich zunehmend säkularisieren und an gar keine Heilsversprechen des Arbeitsmarktes mehr glauben. Sie sagen: Der Arbeitsmarkt ist Lotto. Wenn du Mathematik oder Physik studierst, weil es heißt, damit kriegst du einen Job, dann kann keiner sagen, wie es in fünf, sieben Jahren ausschaut – möglicherweise ist die Qualifikation, die du jetzt erwirbst, in zehn Jahren völlig obsolet. Wenn man sich anschaut, wie junge Wissenschafter in Projektverträgen gehalten werden, ist das eine Art feudaler Abhängigkeit. Letztlich ist es nur vernünftig zu sagen: Macht das ohne mich, ich mache etwas völlig anderes.
derStandard.at: Was kann dieses "andere" sein?
Dimmel: Bei den oberen Mittelschichten ist es die Perspektive des Aussteigens, die werden Bergbauern in Osttirol. Bei den unteren Mittelschichten sind es eher Formen der Autoaggression oder Fremdaggression. Vor allem die von dramatischen Verwerfungen betroffenen Modernisierungsverlierer wenden sich eher gewaltbere- iten Widerstandshandlungen zu. Die Jungen steigen aus der Schule aus, und das Leben erscheint wie eine völlig unlösbare Aufgabe – nur die Reaktionen sind schicht- und milieuspezifisch unterschiedlich. Für manche ist der Weg der dramatischen Selbst- und Fremdauslöschung schon attraktiver als das Nachdenken darüber, wie ich in einer bürgerlichen Gesellschaft mit legalen oder herkömmlichen Mitteln, also Bildung, Anstrengung, sozialen Aufstieg erreichen kann.
derStandard.at: Was können Gegenstrategien sein? Wie kann angesichts solcher Vorzeichen Arbeitsmarktpolitik funktionieren?
Dimmel: Raus aus der Privatisierung, Schaffen eines dritten Arbeitsmarktes für die explodierende Masse an – um es neoliberal auszudrücken – unverwertbarem Humankapital. Krankenhäuser, Straßen, Züge, Abwasserentsorgung: All diese Formen der Auslagerung sind gescheitert. Viel notwendige Arbeit wird in Österreich nicht getan, etwa die Gebäudesanierung, umfassende Altenpflege. Da ist es Aufgabe des Staates, Beschäftigung zu generieren. Und: 460.000 Arbeitslose, das ist eine Zahl, die man nicht mehr als Betriebsunfall bezeichnen kann. 
Nikolaus Dimmel ist Soziologe und Jurist. Er lehrt und forscht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg und ist geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Social-Profit-Management.


Nota. - Dieser Beitrag schließt an den vorangegangenen an. Der Tauschwert verfällt, die Arbeitskraft hört auf, die allgemeinst nachgefragte Ware zu sein, die Arbeitsgesellschaft löst sich auf. Der Gedanke an Palliative und Hausmittelchen, wie etwa den weiteres Ausbau der öffentlichen Dienste, liegt nahe, ist aber dem sich anbahnenden historischen Wandel überhaupt nicht ange- messen.
JE 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen