aus nzz.ch, 10.10.2016
Es gibt nur eine Menschheit
Für
die Anhänger des postmodernen Relativismus gibt es in Bezug auf die
Menschenrechte eine Menschheit erster und eine Menschheit zweiter
Klasse. Das widerspricht der Moral und der Vernunft.
In seinem Grossessay «Les identités meurtrières» – «Mörderische Identitäten» – aus dem Jahre 1998 führt der in Libanon geborene und in Frankreich lebende Schriftsteller Amin Maalouf einen Punkt ins Treffen, der ihm gelegentlich den Vorwurf einbrachte, eurozentrisch zu denken. Der Punkt ist folgender: Die westliche Welt lässt im Umgang mit «unterentwickelten» oder «anderskulturellen» Nationen, in denen die Menschenrechte mit Füssen getreten werden, oft eine fragwürdige Toleranz erkennen.
Man dürfe, lautet das oftmals ins Feld geführte Argument, die Mentalitäten im arabischen und afrikanischen Raum nicht überfordern. Hinter diesem Argument steckt, abgesehen von ökonomischem Kalkül und politischer Diplomatie, eine fatale Herablassung. Man wisse es eben «dort» nicht besser, weil «dort» mangels besserer Einsicht die ethischen Standards der Aufklärung unverstanden blieben.
Derart kann Toleranz ein Zeichen dafür sein, dass man das jeweilige Gegenüber nicht für «voll» nimmt;
man verhält sich, als ob man es mit einem geistig Minderbemittelten
oder einem Kind zu tun hätte, das seine wahren Interessen noch nicht
kennt. «Jemanden respektieren, seine Geschichte respektieren», so
Maalouf, «verlangt, dass man ihn als Angehörigen derselben Menschheit
betrachtet, und nicht als Angehörigen einer anderen, einer
zweitklassigen Menschheit.»
Entweder – oder
Diesem
Verlangen zu genügen, war eines der deklarierten Ziele der postmodernen
Eurozentrismus-Kritik. Die Postmoderne gilt als eine historische – oder
eben posthistorische – Epoche, welche beansprucht, sich jenseits des
Glaubens an eine starke kulturelle Identität zu placieren. Der
pseudoreligiöse Einzigartigkeitsglaube führte zweifellos immer wieder zu
mörderischen Auseinandersetzungen, die vermeintlich kollektiver
Selbsterhaltung galten: wir Deutschen, wir Russen, wir Japaner; und
ferner: wir Christen, wir Muslime, wir Juden . . . Die Liste liesse sich
schier endlos fortsetzen, national, ethnisch, konfessionell. Die
entsprechenden «Identitäten» sind zu einem gewichtigen Teil krause
Phantasmen, die sich um historische Mythen ranken. Zugleich befördern
sie eine schicksalsträchtige und, im schlimmsten Fall, kriegerische
Mobilisierung der Massen.
Daher setzt der Postmodernist auf das, was der Deutsche Odo Marquard,
der Amerikaner Richard Rorty oder, auf seine Weise, der Österreicher
Paul Feyerabend als «kulturellen Polytheismus» empfahlen. Zwar hatte man
in der griechischen und römischen Antike jeweils seine eigenen
religiösen Gepflogenheiten; doch man liess jene der «Barbaren»
pragmatisch gelten. Um des lieben Friedens willen war man im Idealfall
bereit, fremde Gottheiten gleichsam zu «adoptieren», ihnen einen
begrenzten Respekt zu erweisen und Opfer darzubringen.
Gewiss,
beim Juden-Christentum, dessen Gott keine anderen Götter neben sich
dulden wollte, sondern diese im Gegenteil verteufelte, hörte der
imperiale Grossmut auf. «Entweder – oder», das war die Losung der
dekadenten Römer. Entweder die Aufsässigen konvertierten zum verhassten
Vielgötterglauben ihrer sittenlosen Unterdrücker, oder sie fanden den
schmachvollen Martertod am Kreuz.
In
den Augen der Postmodernisten bringt erst die Rede vom kulturellen
Polytheismus den Gedanken der Toleranz zur Vollendung. Dieser Gedanke
verhält sich abweisend, was unsere tief eingewurzelte, weithin
vorfindliche Neigung betrifft, nach der objektiven Wahrheit zu streben
oder zu unterstellen, sie sei uns ohnehin offenbart. So gesehen brächte
der «Westen», der im Namen absoluter Wahrheit einst selbst die
schlimmsten Menschheitsverbrechen rechtfertigte, nun all den verstockten
Wahrheitsgläubigen unserer Zeit die Frohbotschaft eines gedeihlichen
Miteinander.
Spielwiese der Avantgarde
Die
Botschaft lautet: Es gibt nicht die Wahrheit, sei es in Form einer
Religion, eines Ethos oder einer Kultur; es gibt nur die vielen
regionalen Wahrheiten, denn alles hat seinen spezifischen Ursprung und
individuellen Kontext. Und wenn wir Feyerabends «Anything goes»
zustimmen, dann träfe dies sogar auf die moderne Wissenschaft zu: Der
«Hexenhammer» («Malleus Maleficarum») aus dem späten 15. Jahrhundert
wäre demnach nicht weniger rational gewesen als ein gegenwärtiges
Lehrbuch der Physik . . .
Der
Wahrheitsrelativismus ist nie weit über die Spielwiese der
intellektuellen Avantgarde hinausgekommen. Was aber hartnäckig blieb,
war eine Schrumpfform, die man im sogenannten liberalen Diskurs oft
bemerkt. Demnach entspricht es zwar unseren Standards, dass die
Unantastbarkeit der Menschenwürde und die Unverbrüchlichkeit der
Menschenrechte zum Kern einer jeden staatlichen Räson gehören. Ihre
Umsetzung gilt als Bedingung der Humanität. Dennoch kann man immer
wieder die Forderung hören, man solle die «Authentizität» kultureller
Gegenpositionen anerkennen, die aus historisch und geistig anders
fundierten Quellen gespeist werden – heute vornehmlich aus dem theokratischen Erbe des Islam.
Derlei
Bereitschaft zur «Diversion» mag zum Ziel haben, einer weiteren zivilen
Verhärtung des Westens entgegenzuwirken. Leicht jedoch entsteht daraus,
gewissermassen als Kollateralschaden, eine Schwächung jener Prinzipien
des Guten und der Gerechtigkeit, die mit wohlerwogenen Gründen den
Anspruch erheben, nicht bloss regional, sondern universell gültig zu
sein.
Kairoer Aufhebung
Der
Universalitätsanspruch der Ethik steht quer zu allen
Herrschaftsforderungen, die von Männern gegenüber Frauen, Priestern
gegenüber Laien, Nationen gegenüber anderen Nationen, auch Einzelnen,
die geburtlich privilegiert sind, gegenüber einfachen und armen Leuten
erhoben werden. Paradoxerweise muss jedoch gerade dieser Anspruch – aus
der Perspektive des multikulturellen Credos – mit dem Vorwurf rechnen,
eine ganz bestimmte Moral, nämlich die westliche, absolut setzen zu
wollen.
Zwei
Aspekte sind dabei entscheidend. Erstens liegt der aufgeklärten Ethik
das Postulat zugrunde, wonach alle Menschen «gleich» sind – ein
Postulat, das den Staat verfassungsgemäss bindet, keinen willkürlichen
Unterschied zwischen den Geschlechtern, Rassen, Religionen und der
sozialen Herkunft eines Menschen zu akzeptieren. Zweitens gilt, dass
jeder erwachsene und geistig gesunde Mensch aufgrund der ihm eigenen –
allgemeinmenschlichen – Vernunft über eine Autorität verfügt, die ihn
nicht zuletzt in moralischen Angelegenheiten zum obersten Richter seiner
Überzeugungen macht.
Demgegenüber
existiert seit 1990 neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
die sogenannte Kairoer Variante. Darin werden die absoluten Rechte für
alle Menschen bestätigt, indessen mit der Einschränkung, dass sie den
Geboten des Islam nicht widersprechen dürfen. In Artikel 24 heisst es:
«Alle in dieser Erklärung festgelegten Rechte und Freiheiten sind der
islamischen Scharia nachgeordnet.» Kein Menschenrecht wird als solches –
als autonomes Recht des Menschen – anerkannt, weil alles Recht im
Grunde göttliches Recht ist. Das kommt, unverblümt ausgedrückt, einer
Aufhebung der Menschenrechte gleich!
Dürfen
wir angesichts der hier festgeschriebenen Fundamentaldifferenz trotzdem
«eurozentrisch» darauf beharren, dass in ethischen Angelegenheiten dem
menschlichen Urteil die höchste Autorität beizumessen sei? Kurz gesagt:
Ja. Da kein Mensch die Missachtung seiner natürlichen Selbstachtung und
seines Strebens nach Wohlbefinden freiwillig als gerecht akzeptiert,
sind Traditionen, in denen Ungerechtigkeiten geheiligt werden,
unmoralisch. Wird gegen dieses Verdikt der unbefragbare Wille Gottes
gestellt, dann ist darauf, wiederum «eurozentrisch», zu erwidern, dass
kein Gottesbild ein Bild des Gottes aller Menschen sein kann, wenn es
einschliesst, dass nicht alle Menschen gleich sind.
Der freie Wille und das mitfühlende Herz
Wer einer derartigen Sicht der Dinge ihre westliche Signatur vorhält, übersieht, dass es um eine Moral geht, die der menschlichen Natur, ihren Bedürfnissen, Nöten und Freuden am besten entspricht.
John Stuart Mill hat es in seinem Werk «Utilitarianism» (1861) auf
einfache Weise formuliert: Alle Menschen wollen möglichst glücklich und
jedenfalls möglichst leidlos leben. Niemand will sich von Tugendwächtern
drangsalieren lassen, niemand will eine Not erdulden müssen, die einzig
der Befestigung einer Tyrannei, ob göttlich oder irdisch, dient.
Jedes
Lob des Eurozentrismus überzeugt – falls überhaupt – nur, wenn dieser
den Verzicht auf Eurozentrizität im Sinne einer lokalen, geopolitischen
Standortfixierung umfasst. Ethisch geht es um die ganze Menschheit. Kein
geografischer, kein historischer Ort entscheidet über die
Vorzugswürdigkeit einer Weise des Zusammenlebens, sondern allein der
freie Wille und das mitfühlende Herz, geleitet durch die autonome
Vernunft.
Peter Strasser,
Jahrgang 1950, ist Professor für Philosophie und Rechtsphilosophie an
der Universität Graz. Soeben ist aus seiner Feder im Verlag Wilhelm Fink
erschienen: «Morgengrauen. Journal zum philosophischen Hausgebrauch».
Nota. - Nur dies zur römischen Christenverfolgung: Die Christen wurden im römischen Reich nicht verfolgt, weil sie ihren Gott für den einzigen hielten, sondern weil und wenn sie daraus den Schluss zogen, dem Kaiser nicht zu geben, "was der Kaisers war": wenn sie sich weigerten, gemäß dem Staatskultus dem jeweiligen göttlichen Cäsar ihr Opfer darzubringen. - Letzteres war ihnen durch ihre geistlichen Autoritäten aber ausdrücklich erlaubt worden. Nicht ihr Glaube selbst wurde verfolgt, sondern ihre radikalen politischen Konsequenzen daraus.
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