Montag, 9. Januar 2017

Ist der öffentliche Intellektuelle ausgestorben?

Der Federkiel als Donnerkeil: Emile Zola, der erste öffentliche Intellektuelle,
aus Die Presse, Wien,                                             Emile Zola, der erste öffentliche Intellektuelle

Die Kapitulation des Geistes
Zweifel und Einmischung waren bis ins 21. Jahrhundert die Domäne der Intellektuellen, nun ist ihre Aura verblasst, man hört nicht mehr auf sie. Durch ihre eigene Schuld? Oder hat die Nivellierungsmaschine Internet ihr Werk getan?

 

Eine beachtliche Anzahl von Verlierern hat das vergangene Jahr aufzuweisen: Eine ganze Politikerkaste geriet in der westlichen Welt ins Taumeln, sie hatte offenbar jedes Gespür dafür verloren, was die Bürger eigentlich wollten. Zu den großen Verlierern gehört aber auch jene Schicht, die in der Vergangenheit als Sprachrohr und Avantgarde der Vernunft geachtet wurde: die Intellektuellen. Die Schicht, die durch ihre öffentliche Stellungnahme das Meinungsklima mitgeformt hat, war nie groß, doch in der Gegenwart hört man ihr nicht mehr zu, sie scheint völlig marginalisiert. 

Weil sie sich, selbstverliebt und selbstbezüglich, in Weltfremdheit und verkopfter Geistigkeit allzu sehr von der Gesellschaft entfernt hat? Oder hat die Öffentlichkeit sich von ihr in dem Gefühl, sich der großen Autoritäten entschlagen zu können, distanziert? Ist die Auslagerung des öffentlichen Gewissens an heroisierte Autoritäten nicht ohnehin ein Anachronismus? Weg mit der selbst ernannten Elite, mit Schimpf und Schande!


Die Intellektuellenbeschimpfungen, die in den vergangenen Monaten auch in Qualitätsmedien, nicht nur im rechten Mainstream, verbreitet wurden, scheinen eine letzte Phase in dieser historischen Verschiebung zu sein, mit der die Bedeutung der einst repräsentativen Großdenker endgültig an der Gegenwart zerschellt. Bis ins 21. Jahrhundert hat sich das durch Jean-Paul Sartre geprägte klassische Bild des Geistesmenschen, der auch außerhalb eines wissenschaftlichen Expertentums Stellung zu öffentlichen Themen bezieht, gehalten. Seine inkompetente, aber legitime Kritik wurde akzeptiert. Sartre selbst sprach 1974 davon, es sei die vornehmste Aufgabe des Intellektuellen, sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angehen.

„Man macht Voltaire keinen Prozess“, drückte 1960 der französische Präsident, Charles de Gaulle, seinen Respekt gegenüber Sartre aus, als dieser wegen eines Aufrufs zur Waffendienstverweigerung ins Gefängnis sollte. Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek mit ihren kritischen Interventionen zur österreichischen Politik ist ein Paradebeispiel für die exemplarischen Einzelnen, die dank ihrer institutionellen Ungebundenheit den Mut zur Polarisierung, ja zur Anstößigkeit entwickelt haben, nach dem Leitsatz von Jürgen Habermas: „Der Intellektuelle muss sich aufregen können.“

Allerorten Akademikerbürokraten

„Die Wohlwissenden“ überschrieb Nassim Nicholas Taleb seine „Abrechnung“ mit den „Intellektuellen-Idioten“ in der Neuen Zürcher Zeitung Mitte November 2016. Am Ende des Artikels schreibt der Autor, natürlich selbst ein Intellektueller, davon, dass der Text satirisch angehaucht sei. Doch was soll's: Der Artikel schlug ein. Nun wurde die Kritik an den „allgegenwärtigen Akademikerbürokraten, die sich anmaßen, unser Leben zu regeln“, erst richtig entzündet. Die Vorwürfe, kurz zusammengefasst: Die selbst ernannte intellektuelle Elite sei abgehoben, volksfremd, verstünde die Welt nicht mehr, weil sie sich nur noch mit exotischen Problemen wie Rassismus und Chancengleichheit, Migranten, Minderheiten, Transsexuellen beschäftige.

Der Schritt zum nächsten Vorwurf ist dann, wenn auch nicht logisch, doch kurz: Durch die Fokussierung auf diese Nebenthemen hätten sie, denen doch jede Bedeutung abgesprochen wird, Schuld daran, dass die soziale Frage aus dem Blick geriet und die Wahlerfolge der rechten Demagogen zustande gekommen sind. Die herablassenden Analysen hätten die erzürnten Bürger erst recht in die Arme der Populisten, Ausländerfeinde und Nationalisten getrieben.

Die Angegriffenen zeigen sich erschüttert oder kleinlaut, setzen sich in grüblerischen Artikeln mit dem Vorwurf, weltfremd und elitär zu sein, auseinander. Die britische Autorin A. L. Kennedy fragte zuletzt in einer großen Rede, ob sich die Intellektuellen während des Brexit-Fiebers in ihrem Land damit begnügt hätten, „sich unter Gleichgesinnten gegenseitig zu gratulieren, dass wir alle um die wichtigen Werte wissen“. Sie bekannte, jeden Tag mit dem Gefühl zu erwachen, versagt zu haben: „Ich habe nicht genug getan. [. . .] Wie vielleicht sehr viele von uns in komfortablen, stabilen Demokratien habe ich vergessen, dass der Preis der Freiheit ständige Wachsamkeit ist, und ich habe träges Schweigen und Feigheit für wahrhaft liebevolle Toleranz gehalten.“

Amerikanische Medien, die unzählige Reportagen aus den Arbeitervierteln des Rust Belt abgeliefert haben, fragen sich nun selbstquälerisch, ob sie auf die kleinen Leute vergessen haben. Doch Amerikas Intellektuelle sind nicht schuld an Donald Trumps Wahlsieg, darauf hat der in den USA lebende Germanist Bernd Hüppauf zuletzt in einem Artikel in der „FAZ“ hingewiesen. Für urbane Intellektuelle böten Kultur und Gesellschaft der USA keinen Nährboden, selbst anerkannte Namen wie Susan Sontag, Noam Chomsky oder Norman Mailer seien nie politisch-moralische Instanzen mit gesellschaftlicher Resonanz auch außerhalb der New Yorker Subkultur gewesen. Es war für amerikanische Beobachter ein Kuriosum, wenn in Europa ein Intellektueller wie Günter Grass in einem SPD-Wahlkampf tonangebend mitwirkte, Norman Mailer hatte mit all seiner Kraft vor fünfzig Jahren gegen Richard Nixon gekämpft – ohne Erfolg.

Der Bauunternehmer, der den US-Wahlkampf gewonnen hat, konnte von einem vor allem in der republikanischen Partei tief verwurzelten Antiintellektualismus ausgehen. Apropos: Selbst im vergleichsweise unbedeutenden Österreich haben intelligente Wahlkampfmanager im Kampf gegen den Populismus nicht die Sympathien der heimischen Paradeintellektuellen für ihren liberal-urbanen Kandidaten an die große Glocke gehängt, sondern dessen Verbundenheit mit Volksmusikgruppen, Naturschönheiten und dessen Haustier. Jeder, der Robert Menasse schätzte, war ohnehin nicht in Versuchung, den Gegenkandidaten zu wählen.

Verheerendes Debattenniveau

Selbst in Frankreich, in dem die Einmischung des Geistes ins politische Handgemenge seit Zola Tradition hat, ist blanke Verzweiflung eingekehrt. Alain Finkielkraut klagte, das Niveau der Debatten sei so verheerend, dass er kein Intellektueller mehr sein wolle. Man könne nur noch Mitleid mit Frankreich haben, alles breche zusammen. So gerät die Debatte – auch Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ ist ein Beispiel – in fatale Nähe zu den populistischen Positionen des Front National, so wie in Deutschland Peter Sloterdijk nicht davor gefeit war, mit dem Essay „Lob der Grenze“ hässlichen Vorwürfen ausgesetzt zu sein, nicht zuletzt dem, unter seinem eigenen Denkniveau gelandet zu sein. Die Position eines weltoffenen Optimismus scheint nicht nur den Trump- und Le-Pen-Wählern abhandengekommen zu sein, sondern auch den von ihnen verachteten geistigen Eliten.

Martin Burckhardt hat in einem spannenden Text in der Kulturzeitschrift „Lettre“ vor Kurzem darauf hingewiesen, dass der Bedeutungsverlust des Intellektuellen Begleiterscheinung einer umfassenden historischen Verschiebung, eines „politischen Wetterwandels“, sei. Er vergleicht dieses Verschwinden mit dem Tod des Kanarienvogels, der als Begleiter der Bergleute im Schacht eine gefährliche Ansammlung von Kohlenmonoxiden anzeigt. Heute ist der Primat einzelner Denker durch die „Weisheit der vielen“ abgelöst, wie man in der Aufbruchszeit des Internets euphorisch gesagt hat, als man geglaubt hat, durch das Netz ließe sich in einer konzertierten Aktion ein Prozess gemeinsamer Urteilsfindung finden, gleichsam „das Beste der Menschheit“. Daraus wurde eine Anhäufung disparater, zufällig versammelter Individuen, eine Cloud mit früher unvorstellbaren Erregungskurven, die durch Social Bots angeheizt werden, die aus hundert aggressiven Kommentaren schnell Tausende wüste Beschimpfungen generieren. So wird der öffentliche Diskurs „ein höllisches Gebräu aus Klatsch, böswilliger Erfindung, Rassismus, Aufhetzung zum Hass und Obszönität“ (A. L. Kennedy). 

Aus der Utopie wurde eine Dystopie.

Die großen Massen erreichte der öffentliche Intellektuelle auch in der Vergangenheit direkt nicht, aber er konnte sich auf Meinungsmacher in tonangebenden Medien verlassen. Heute ist seine Stimme nur noch eine unter vielen Tausenden in der diffusen Wolke der sozialen Netzwerke. Erübrigt hat sich die Funktion des Intellektuellen – also dessen, der dem Wortsinn nach „zwischen den Zeilen lesen“ kann – freilich nicht. Man kann nur hoffen, dass Aggression, Ressentiment, Lautstärke, von Fakten losgelöste Denunziation als Elemente des öffentlichen Diskurses uns nicht in alle Zukunft begleiten werden. Eine Gesellschaft, in der die Stimme der Intellektuellen in der Lawine selbst ernannter Meinungsmacher und narzisstischer Selbstdarsteller untergeht, die sich von der Realität abkoppeln und jede Reflexion als Besserwisserei brandmarken, ist schwer vorstellbar.


Nota. - Als Ersatz politisch weitsichtiger Parteien hat der Intellektuelle nie getaugt. Diese sollten ein klares programmatisches Profil haben, an dem man erkennt, worauf sie hinauswollen, und zweitens über einen Personalstamm verfügen, dem man zutraut, dass sie ihre weite Sicht im Alltag in zweckmäßige Einzelschritte umsetzen können. Letzteres ist Sache von Intellektuellen nicht, und so ist die Regel, dass sie zu den politischen Parteien Abstand halten und sich zu Tagesfragen nur äußern, wenn sie Bedeutung "über den Tag hinaus" haben. Das heißt eigentlich: wenn sie moralisieren können, ohne auf alle Einzelheiten eingehen zu müssen.

Parteien mit klarem programmatischem Profil gibt es nicht mehr, ihr Personal besteht aus Karriereklempnern, die sich Sachkenntnisse in den Bereichen aneignen, wo sie Chancen auf nachhaltiges Fortkommen vermuten. Das liegt aber hauptsächlich wohl daran, dass die Zeiten, in denen große gesellschaftspolitische Weichenstellungen nötig und möglich schienen, vergangen sind. Heute scheint es immer weniger auf Weitsicht als auf unbeirrte kleine Schritte im Tagesgeschäft anzukommen. 

Moralische Instanz ist auch nicht mehr vonnöten, die Schwarmidiotie der Neuen Medien hat sie überflüssig gemacht; bislang haben sie Political Correctness ausgeströmt, das war der Geist der Zeit. Das wird sich jetzt womöglich ändern, es wird vielleicht das Ressentiment der gefühlt Zukurzgekommenen den Ton angeben. Das könnte den Intellektuellen einen neuen Frühling bescheren

Es kann aber auch sein, dass wieder große weltpolitische Richtungsentscheidungen erforderlich werden, dann werden doch wieder mehr die Parteien als die Prediger gefordert sein. Denn das verlangt eher klaren Blick und gesunden Menschenverstand und weniger poetische Gestimmtheit. Um die Richtungsentscheidungen wird man nämlich mit Sachargumenten kämpfen müssen, und wenn man wieder zulässt, dass die von Befindlichkeiten vernebelt werden, gewinnen nicht die Intellektuellen, sondern die Demagogen.
JE



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