Dienstag, 3. Januar 2017

Was ist die gemeinsame Grundlage Europas?

Pompeji, Meister Chiaro zugeschrieben
aus nzz.ch, 2.1.2017, 07:00 Uhr                                                                               

Der unvollendete Kontinent
Europa lebt vom Handel der Ideen
Solange die Europäische Union lediglich als eine Gemeinschaft für den freien Warenverkehr gedacht wird, bleibt das Projekt unvollendet. Schon Augustinus warb für den freien Austausch der Ideen.

von Jeremy Adler 

Die Idee von Europa enthält zwei radikale Gegensätze: einerseits Aufstände, Revolution und Krieg; andererseits Zusammenarbeit, Kultur und Frieden. Diese Zweiheit lässt sich schon im Mythos erkennen, der dem Kontinent seinen Namen schenkte, wie er bei Virgil und Ovid zu finden ist: Jupiter verwandelt sich in einen Stier und nähert sich sodann Europa, die mit ihren Gefährtinnen am Strand wandelt; sie spielt mit dem Stier, streichelt ihn und umwindet seine Hörner mit Blumen. Daraufhin steigt sie auf seinen Rücken, worauf der Stier ins offene Meer schwimmt und bis nach Kreta, wo der Gott sich ihr zu erkennen gibt.

Diese Mischung aus Eros und Gewalt, diese kühne Begegnung zwischen Mensch und Gott, die hier zum Ausdruck kommt, kennzeichnet Europa bis zum heutigen Tag. Einer der jüngsten Interpreten, Bernard-Henri Lévy, hat diesen Sachverhalt auf eine prägnante Formel gebracht: Identität sei «Mosaik». Europa bedeutet vor allem Vielfalt und Verwandlung. 

Antike und Moderne 

Der erste Versuch, Europa zu definieren, stammt von Strabo, dem weitgereisten griechischen Geografen, der im ersten Jahrhundert lebte: «Europa ist sowohl mannigfaltig der Form nach als auch von Natur aus wunderbar geeignet, die Entwicklung von Menschen sowie auch von Regierungen zu fördern.» Strabo erkannte den Zusammenhang von Geografie, Bildung und Staat, der bis heute Teil der europäischen Idee geblieben ist. Wir gehen demnach nicht fehl, wenn wir im klassischen Altertum das Muster für das heutige Europa suchen. Edward Gibbon schreibt in «The History of the Decline and Fall of the Roman Empire»: 

«Die Städte Griechenlands besassen jene glückliche Mischung von Einheit und Unabhängigkeit, die sich in einem grösseren Massstab, aber lockerer Form bei den Nationen des neueren Europa wiederfindet: Einheit der Sprache, Religion und Sitten, die sie gegenseitig zu Zeugen und Richtern machte; Unabhängigkeit der Regierung, die ihre Freiheit verteidigt und sie anstachelt, nach Ruhm zu streben.» 

Knapper lässt sich der Zusammenhang zwischen Antike und Moderne kaum ausdrücken, zumal Gibbon eine ideale Kontinuität ausbreitet, die, wie er an anderer Stelle darlegt, auch auf dem Höhepunkt des Römischen Reichs zum Ausdruck kommt. Nach dem heutigen Wortgebrauch erkennt Gibbon eine Föderation an, keine politische Einheit, also eine Form von Arrangement, in dem sich die zentrifugalen Kräfte mit den zentripetalen im Gleichgewicht halten. In diesem Gegensatz liegt die eigentliche Aporie Europas. 

Seit der Antike entstanden diverse Vielvölkerstaaten: vor allem das Fränkische Reich bis hin zu Karl dem Grossen, das Heilige Römische Reich und Österreich-Ungarn. Die Brücke, die von der Antike bis in die Neuzeit reicht, schuf Augustinus mit «De civitate Dei», indem er in einem Gegenentwurf zum Untergang des Römischen Reichs eine ideale, die ganze Welt umfassende himmlische Stadt anvisiert, nach der sich Europa fast tausend Jahre lang richtete, zumal bei Karl dem Grossen, den schon ein Zeitgenosse als «Vater Europas» (Pater Europae) gepriesen hatte. Hier fliessen die entgegensetzten Ideen von Rom und Jerusalem im Wunsch nach einer «Vision von Frieden» zusammen.



Im Mittelalter verwandelte sich dies bei Dante in ein zeittypisches Programm für eine Weltherrschaft. Als die Neuzeit anging, änderte sich der Bezugspunkt abermals. Bildete sich für Dante das Christentum als Kern der europäischen Idee, so entdeckte Petrarca das Individuum als Mitte der Welt, wie es Descartes mit seinem Grundsatz «Cogito, ergo sum» in die Philosophie einführte und schliesslich Kant mit seinem «transzendentalen Subjekt» vollendete. Ebenfalls gehören Judentum und Islam zu dieser neuen Welt. Man denke nur an das Aufblühen der Kabbala oder an die islamischen Wissenschaften.

Was war geschehen? Aus einer geografischen bzw. politischen Bühne verwandelte sich Europa in einen kulturellen Schauplatz, in dem Religion und Philosophie das Selbstverständnis bestimmten. Europa wurde zu einer Versammlung von Individuen, sie wurde zur Kultur des Individuums schlechthin.

Hatte Tertullian die Frage «Was hat Athen mit Jerusalem zu tun?» gestellt, setzte es sich Europa zur Aufgabe, die Werte dieser konkurrierenden Vorgänger zu verbinden: Eine übergreifende religiöse Lehre wie die des Augustinus sollte sich mit dem freien Geiste Platons vereinigen. In der Renaissance feierte diese vielfache Verbindung Hochzeit, ob in der Philosophie des Ficino, in der Malerei des Botticelli oder in der Plastik des Michelangelo. Europa hatte sich in eine Kulturgemeinschaft verwandelt.

Entdecker-Lust

Max Weber sieht bekanntlich den Angelpunkt zwischen Antike und Mittelalter im Übergang von einem homo politicus zu einem homo oeconomicus. Dieser trieb das Wachstum des neuen Europa voran, das sich heute als «Markt» versteht. So vollzog sich erstmals in Europa jene von Weber erkannte «Entzauberung der Welt», wodurch unser Kontinent im Alleingang das Zeitalter der Säkularisation herbeiführte. Hier, in diesem pragmatischen Erdteil, beginnen sodann die Reisen eines Marco Polo, eines Francis Drake, eines Amerigo Vespucci. Man kann mit einigem Recht behaupten, Europa habe erstmals die Welt entdeckt.

Mit der Anerkennung des Individuums bürgern sich die Neugier, was die Franzosen als curiosité priesen, sowie die Lust nach Entdeckungen ein. Nicht weniger bedeutsam ist, dass Europa zur Heimat der Wissenschaft wird, indem sich hier die naturwissenschaftliche Revolution von Galilei, Kopernikus und Tycho de Brahe bis hin zu Kepler und Newton vollzieht.

Zur Entdeckung der Welt tritt die Erforschung des Weltraums. Der Europäer ist homo scientificus. Ob in der Naturwissenschaft Bacons oder in der Politik Machiavellis, die Europäer wenden sich dem Empirismus zu. Dieses eigenwillige Bündel von Ländern zeichnet sich also durch eine entsprechende Vielfalt von untereinander verbundenen Aktivitäten aus, von Anschauungen und Betätigungen, welche vor allem durch die politische Freiheit ermöglicht werden.

Gedankenfreiheit

Heute debattiert man über den freien Austausch von Menschen und von Waren als Prinzip der Europäischen Union. Man vergisst dabei aber, wie sehr Europa vom freien Austausch der Ideen abhängt. Der englische Naturwissenschafter und Philosoph Joseph Priestley, der Entdecker des Sauerstoffs, hat in der Aufklärung diesen Grundsatz befürwortet, der noch im Zeitalter des Kommunismus solche Verfechter wie Andrei Sacharow brauchte, um die Freiheit des Einzelnen zu verteidigen. Europa bedeutet also Gedankenfreiheit, wie es bei Schiller heisst, bzw. offene Kommunikation.

Betrachtet man die moderne Geschichte, so stösst man auf zahllose geistige Verbindungen: Erasmus befreundet sich mit Thomas Morus, dem Autor von «Utopia», der englische Philosoph Thomas Hobbes besucht den Italiener Galilei, ja die geistigen Riesen Newton und Leibniz führen – durch einen Dritten – ein allerdings bitteres Streitgespräch, Rousseau lernt Hume kennen, Kafkas Wege kreuzen sich in Prag mit jenen von Einstein. Der Grundwert Europas ist also die Freiheit, ob im geistigen Gespräch oder in der Politik. So begreift sich Europa nun als Wertegemeinschaft, in der sich Menschen frei bewegen, um ihre Ideen sowie ihre Erfindungen und ihre Waren ungehindert auszutauschen.

Moderne politische Ideale

Die Grundrechte, die jetzt in aller Welt reüssieren, treten in den politischen Umwälzungen hervor, die die Freiheit als höchsten Wert verstehen. Zuerst in der englischen, sodann vollends in der Französischen Revolution. Hier ging Europa also einen grossen Schritt über die Antike hinaus, es wurde zum Hort moderner politischer Ideale.

Freilich gibt es auch höchst fragwürdige Begriffe von diesem Entwurf. Napoleon hegte einen vereinigenden Gedanken, er sprach von den hiesigen Ländern als einem «Agglomerat»; er wollte sie in einen einzigen «nationalen Körper» verschmelzen. Ihm schwebte eine «grosse europäische Familie nach dem Modell der Antike» vor, es sollten «überall die gleichen Gesetze, Prinzipien, Meinungen, Gefühle, Anschauungen und Interessen» herrschen. Diese Homogenisierung fand starken Widerspruch, vor allem bei Madame de Staël und bei Benjamin Constant, der eine Föderation der Nationen als Gegenentwurf vorschlug.

Allerdings trat der fragwürdige Plan eines homogenen Staates in der Epoche des «Dritten Reichs» wieder hervor. Der Kronzeuge nationalsozialistischen Rechts, Carl Schmitt, nahm noch nach dem Zweiten Weltkrieg diese Stellung ein, als er den Begriff des «Nomos» – also des Rechts – einführte, um eine neue politische Einheit in Europa zu begründen. Doch ist sein Terminus zutiefst problematisch, da er ihn früher in seinen antisemitischen Schriften ab 1933 gebrauchte, um das «abstrakte» jüdische Gesetz zu tilgen. Schmitts Nomos bezieht sich in bedenklicher Weise primär auf einen gemeinsamen «Boden», nicht auf einheitliche Werte.

Selbst Jürgen Habermas, der sich als Intellektueller für die Idee Europas wie kaum ein anderer eingesetzt hat, blieb nicht ganz frei von Schmitts Denken. Dieses befürwortete jedoch nicht so sehr Kultur und Zivilisation, Freiheit und Gleichheit, Wissenschaft und Technik als den mechanisierten Mord – auch dies eine europäische Erfindung. Wer also der Idee eines vereinten Europa mit Zurückhaltung begegnet, mag wegen dieser recht negativen Versuche für seine Bedenken gewisse Gründe vorbringen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg waren es wohl die Politiker, welche die europäische Idee am ehesten vorantrieben. Namen wie Robert Schumann und Jean Monnet sind allbekannt. Nur einer, Václav Havel, hat mit kühner Präzision sowohl als Staatsmann als auch als Intellektueller in seiner Aachener Rede, also in der Stadt Karls des Grossen, die Probleme des Kontinents von Grund auf neu beleuchtet. Seine Gedanken reichen bis in die Vorgeschichte zurück, kreisen jedoch um Ideen, die mit Augustinus ihren Anfang nehmen.

Für Havel bedeutet Europa vornehmlich «Zeit für Kontemplation und Reflexion». Es eröffne sich hier «das Geheimnis von Sein und Erlösung», und seine Aufgabe in jeder Krise bestehe darin, «sein eigenes Gewissen wieder zu entdecken». Unterscheidet Augustinus zwischen der irdischen und der himmlischen Welt, so sucht Havel die himmlische Rettung auf Erden durch politische Mittel. Dabei ist sein Ansatz frei von jedem Utopismus.

Die Völkerrechtsgemeinschaft

Europa will nicht nur als politische Einrichtung, sondern als Rechtsgemeinschaft verstanden werden – ein Unterschied, den man leicht übersieht. Verschiedene Konfliktfelder in der EU haben die Sicht auf das ideale Europa verdeckt: so z. B. die Vorherrschaft der Union, der Imperativ der Integration, die Vereinheitlichung der Normen, das Diktat einer Verfassung. Auch erscheint vielen das durchaus veraltete Problem der Souveränität unlösbar. So stand der immer stärkere politische Ausbau Europas der rechtlichen Verbindung existierender Strukturen im Wege.

Kaum einer ist jedoch mit den Versuchen vertraut, den Souveränitätsbegriff, der auf Bodin und Hobbes basiert und vor allem durch Rousseau korrigiert wurde, aber im Grossen und Ganzen von Theorien und Positionen aus dem Zeitalter des Absolutismus herrührt, zu modernisieren. Indessen bieten fortschrittliche Denker und Gelehrte – beginnend mit den Aufklärern Wolff und Kant über Laski und Kelsen bis zu von Simson, MacCormick und Kirsch – eine zeitgemässere Vision: Sie plädieren für einen auf dem Völkerrecht basierenden Pluralismus.

Diese auf gemeinsame Werte rekurrierende Konstruktion reicht potenziell weit über die Union hinaus, sie bezöge auch Länder wie die Schweiz, Liechtenstein, Island, Norwegen und das Nach-Brexit-England ein, indem sie – das Projekt de Gaulles weiterentwickelnd – eine «vom Atlantik bis zum Ural» reichende Föderation schaffte. Es geht nämlich darum, eine gesicherte kontinentale Existenz auszubauen, eine geistige und soziale Ordnung, die auf dem Vorbild des internationalen Rechts von Grotius über Kant bis Hans Kelsen gründet, also auf einer von Egoismus, Ideologie, Politik wie jederlei Interesse befreiten Justiz. Hier wird der einzelne Staat zum «Organ der Völkerrechtsgemeinschaft». Dieses Europa bleibt noch immer zu entdecken.

Der britische Schriftsteller Jeremy Adler ist Professor emeritus für deutsche Literatur und Senior Research Fellow am King's College London.


Nota. -  Gott, ist das trivial. Er schreibt über Europa, und nicht einmal fällt das Wort Abendland. Das ist das Land, wo die Eule der Minerva aufsteigt. Auf Weisheit erheben alle Anspruch, sie streiten nur, wo man sie findet. Bei uns im Westen - damals fing er an der anatolischen Agäisküste an - sagte man vor rund zweieinhalb tausend Jahren: in deinem eigenen Urteil. Das ist, was bis heute das Abendland zusammenhält, und was es von allen andern unterscheidet.

Die Brücke von der antiken Bildung zum modernen Europa war Augustinus? Tatsächlich war es die Römische Kirche. Man mag sie nicht für einen Hort der Freigeisterei halten; doch hat sie eben das bewahrt, was dem Islam als das Heidnische daran vorkommt: Während der Koran Gottes eignes Wort ist, das der Erzengel Gabriel dem Propheten direkt auf die Zunge gelegt hat, ist die Bibel, das Neue Testament zumal, lediglich Zeugnis: von Menschen vor Menschen. Sie haben sich nicht gescheut, in Konzilien zu entscheiden, was wahr ist und was falsch, und so von Anfang an. Nie hat die abendländische Vernunft gezögert, zu urteilen. 

Sie war allerdings im Dogma befangen, das seine zweifelhafte Legitimität stets dadurch zu erkennen gab, das an ihm vernünftelt werden muss, um es geltend zu machen. Das ist die andere Vokabel, deren Fehlen noch mehr verblüfft als 'das Abendland': Wer für sich ein eigenes Urteil beansprucht, das aber doch von Andern anerkannt werden soll, muss sich der Vernunft ergeben. Der antike homo politicus konnte sich noch unbefangen den Vorteilen und den Sitten seines Gemeinwesens überlassen - der aus "der Freiheit eines Christenmenschen" hervorgegangene Bürger, homo oeconomicus, muss sich allenthalben vor dem Richtspruch der Vernunft ausweisen - die nämlich, weil sie für alle gleichermaßen gilt, die Freiheit jedes Einzelnen möglich macht, und umgekehrt: Nur Freiheit jedes Einzelnen, nur eigenverantwortliches Urteilen eines Jeden, macht Vernunft möglich. 

Wenn es für Europa eine gemeinsame Grundlage gibt, dann ist es diese. Gemeinwesen, die andere Voraus- setzungen für sich in Anspruch nehmen, schließt sie aus. Nordamerika müsste noch fleißig an sich arbeiten, wenn es zugelassen werden wollte; will es aber wohl nicht.
JE


 

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