Montag, 16. Januar 2017

Haben die Intellektuellen versagt?


 
aus nzz.ch,  

Was heisst denken?
Nach Donald Trumps Wahlsieg ist Intellektuellen-Schelte en vogue. Dabei wird grundlegend verkannt, was das eigentliche Geschäft des Intellektuellen ausmacht: denken, nicht handeln – ein einsames Geschäft.

Gastkommentar von Konrad Paul Liessmann 

Es gehört mittlerweile zum guten Ton, angesichts von Brexit, Donald Trump, Marine Le Pen, des italienischen Referendums, der Krise der EU und des Aufstiegs der AfD vom Versagen der politischen, aber auch der intellektuellen Eliten zu sprechen.

Nun, diese Rede ist aus mehreren Gründen verräterisch. Auf wesentliche Teile der etablierten Eliten trifft sie schon einmal gar nicht zu, diese sympathisierten ohnehin mit dem Brexit oder sitzen nun in Donald Trumps Regierung. Auch ist es ein wenig seltsam, gleich von einem Versagen der Eliten zu sprechen, wenn Wahlergebnisse nicht den eigenen politischen Präferenzen entsprechen. Allmählich sollte es sich herumgesprochen haben, dass eine Demokratie sich auch dadurch auszeichnet, dass oppositionelle Kräfte welcher Art auch immer in einem gesetzlich vorgegebenen Rahmen die Möglichkeit haben, Wahlen zu gewinnen und damit politische Verantwortung zu übernehmen. Das kann mitunter unangenehm sein, aber weder fällt eine Gesellschaft deshalb auseinander, noch droht gleich die Herrschaft des Pöbels.

Die Frage des Versagens

Aber es ist reizvoll, einmal prinzipiell darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen Eliten versagen können. Man wird dieses Versagen ja nicht nur auf die je eigene Interessen- und Klientelpolitik beziehen können, sondern auf die Verfasstheit der Gesellschaft überhaupt. In diesem Sinne könnte angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2008, angesichts einer europäischen Migrationspolitik, die diesen Namen nicht verdient, angesichts zahlreicher ungelöster und verschärfter sozialer Spannungen, angesichts der Hilflosigkeit der europäischen und der amerikanischen Politik bezüglich des von ihr mitverschuldeten Desasters im Nahen Osten, angesichts einer perennierenden Schwäche gegenüber dem islamistischen Terror durchaus von einem Versagen gesprochen werden: Die Aufgaben, die sich die politischen und ökonomischen Eliten stellen, können von diesen nicht gelöst werden.

Eine besondere Pointe besteht dabei darin, dass eine Elite, die versagt, aufhört, eine Elite zu sein. Denn der Anspruch auf Macht und Privilegien kann ja nur dadurch gerechtfertigt werden, dass es sich um eine Auslese der Besten und Fähigsten handelt. Scheitern diese, waren sie wohl nicht gut genug. Am Status der Elite selbst unter diesen Bedingungen festzuhalten, hinterlässt deshalb oft den unangenehmen Eindruck, dass es nur um Macht und Privilegien geht und nicht um jene Verantwortung, die diese erst rechtfertigen. 

Zeichnung: Gut

Tröstlich ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Kritiker dieser Eliten, sollten sie Erfolg haben, demselben Mechanismus verfallen werden. Dass Macht korrumpiert, wissen wir seit Platon. Erstaunlich, dass wir bei jedem einschlägigen Skandal so tun, als geschähe dies zum ersten Mal.

Damit sind wir bei den Intellektuellen. Auch diese hätten versagt. Das stimmt allerdings nicht. Denn Intellektuelle können gar nicht versagen, weil sie nichts zu tun haben. Intellektuelle, das ergibt sich schon aus dieser Bezeichnung, sollen nicht handeln, sondern denken. Oft genug ist ihnen dies zum Vorwurf gemacht worden und hat sie dazu verführt, sich zu engagieren, Partei zu ergreifen, Empfehlungen abzugeben und Forderungen zu unterschreiben. Wann immer sie durch solche Aktivitäten reüssieren konnten, war es danach meistens schlimmer als zuvor. Trotz Emile Zolas «J'accuse»: Nicht der Aufruf, nicht die Anklage ist das eigentliche Geschäft des Intellektuellen, sondern die in und vor der Öffentlichkeit vorgetragene kritische Analyse der Gesellschaft.

Dass diese immer möglich ist, zeigen etwa nun wiederentdeckte Befunde, die der amerikanische Philosoph Richard Rorty und der deutsche Soziologe Ralf Dahrendorf in den neunziger Jahren vorgelegt hatten: Sie diagnostizierten aufgrund der Globalisierung tiefgreifende soziale Spannungen, die zur Aushöhlung der Demokratie und zu einer autoritären Versuchung als einziger Alternative führen könnten. Tatsächlich wurden diese Überlegungen ignoriert, man begnügte sich damit, die von dieser Dynamik negativ Betroffenen als Globalisierungsverlierer, Abgehängte und Bildungsferne ihrem Schicksal zu überlassen und sich anderen Fragen zuzuwenden, etwa denen einer korrekten Gender- und Minderheitenpolitik am Campus. 

Spechblasen und Filterblasen 

Aus Gesellschaftskritik wurde Symbolpolitik. Ohne die Entrechteten und Benachteiligten gegeneinander auszuspielen: Statt ständig nach neuen politisch korrekten Sprachvorschriften zu suchen, wäre es vielleicht auch angebracht gewesen, in einer kritischen Diskursanalyse zu zeigen, wie sehr allein ein Begriff, der den «Verlierer» enthält, schon der Rhetorik einer Wettbewerbsideologie verfallen ist, die es eigentlich verböte, solche Termini unreflektiert zu übernehmen. Globalisierung ist kein Spiel, bei dem acht Milliarden Menschen unter gleichen Bedingungen starten und das die Besseren gewinnen.

Was aber hiesse es unter den gegenwärtigen Bedingungen, beim öffentlichen Denken als Aufgabe des Intellektuellen zu bleiben? Der mehrfach geäusserte Befund, dass sich zwischen den Filterblasen von Social Media und den Sprechblasen der Talkshows ein Denken, das diese Bezeichnung verdient, schwertut, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Allerdings sind die Akteure des öffentlichen Diskurses nicht ganz unschuldig an ihrer Demontage. Denn nur allzu oft haben sie das Denken selbst diskreditiert und durch Strategien der Selbstimmunisierung durch Moral ersetzt. 

Die Versuchung, den Vereinfachern durch Vereinfachung zu begegnen, ist keine geringe. Warum über eine politische Position nachdenken und nach besseren Argumenten suchen, wenn es genügt, diese als rechts, populistisch, nationalistisch oder konservativ zu diskreditieren oder gleich eine Phobie zu diagnostizieren? Für den Intellektuellen gibt es zwei Gefahren, die es im Auge zu behalten gilt: den Hang zur paternalistischen Volkspädagogik und die Lust an der Pathologisierung des vermeintlichen oder wirklichen Gegners.


Aufklärung – bei Immanuel Kant könnte man es nachlesen – bedeutet nicht, dass die Eliten sich die Dummen im Volk vornehmen und auf Kurs bringen, sondern einen Prozess der kritischen Reflexion und Selbstreflexion, der zuallererst das eigene Denken betrifft – nicht das der anderen. Und man erspart sich keine Auseinandersetzung, wenn man alles, was einem aus guten Gründen nicht gefällt, als krankhafte kollektive Angst, gar als Wahn identifiziert. Man verkennt in der Regel damit nicht nur die Realität, sondern bringt sich auch darum, seine guten Gründe darzulegen. 

Bedeutet das, dass man mit allen Unzufriedenen unter allen Umständen wieder reden muss? Was für Politiker selbstverständlich sein sollte, ist es für Intellektuelle mitnichten. Denken bedeutet nicht, mit allen in ein Gespräch einzutreten. Aber es gehört – und hier sei noch einmal an Kant erinnert – zum Wesen des Denkens, dass man selbständig, mit sich in Übereinstimmung und an der Stelle jedes anderen denken kann. 

Zwischen allen Stühlen 

Was fehlt, ist weniger die reale Begegnung mit dem zornigen Volk als die Phantasie, sich in Lagen und Situationen hineinzudenken, die allen eigenen Erfahrungen und Überzeugungen zu widersprechen scheinen. Dieser Versuch, etwas Unangenehmes zu verstehen, bedeutet allerdings nicht, alles zu akzeptieren oder zu entschuldigen. Ganz im Gegenteil: Wer denkt, ist grundsätzlich intolerant. Denn Denken bedeutet, an der Triftigkeit von Argumenten, an der Plausibilität von Überzeugungen, an der Vernünftigkeit von Deutungen, an der Überprüfbarkeit von Behauptungen festzuhalten. 

Die blosse Meinung ist der natürliche Feind des Gedankens. Deshalb kann Denken auch weh tun. Eine Toleranz, die grosszügig über alles hinwegsieht und an die Stelle des Arguments zum Beispiel eine identitäts- oder geschlechtspolitische Zuschreibung treten oder kollektive Verletzungsgefühle über die Zulässigkeit einer Formulierung oder eines Begriffs entscheiden lässt, hat die Sache des Denkens verraten. Die Sache des Denkens hat aber auch verraten, wer, um schwierigen Wahrheitsfragen aus dem Weg zu gehen, Algorithmen oder Wahrheitskommissionen darüber befinden lassen möchte, was nun gilt und was nicht. 

Denken ist mühsam. Und das Geschäft des Intellektuellen ist es auch. Wer es ernst damit meint, wird sich nicht auf einen Selbstbestätigungsdiskurs unter Gleichgesinnten verlassen, wird sich nicht mit humanistisch getönten Phrasen und Parolen zufriedengeben, wird sich nicht von Medien und den von ihnen verbreiteten Stimmungen vorschreiben lassen, wie und was er zu denken hat.


Und auch die beste Moral kann das Denken nicht ersetzen. Intellektuelle sollten zwischen allen Stühlen sitzen und ihre geistige Unabhängigkeit nicht durch politische Anhänglichkeiten und ökonomische Abhängigkeiten konterkarieren. Das wird nicht immer möglich sein. Aber noch aus diesem Widerspruch könnte die Einsicht gewonnen werden, dass rigide Reinheitsgebote, wo und von wem auch immer sie formuliert werden, ein Übel sein können. 
Letztlich aber ist jeder Denkende mit seinem Denken allein. Denken ist die Sache des Einzelnen, des Individuums, und überall dort, wo die Rechte dieses Einzelnen zugunsten kollektiver Identitäten und ihrer Ansprüche oder aufgrund staatlicher Eingriffe und Zensurmassnahmen beschränkt und desavouiert werden, nimmt nicht nur das Denken Schaden. Eine Freiheit, die nicht als Freiheit des Einzelnen gedacht ist, ist keine. Die Tugend des Intellektuellen ist die Einsamkeit, das Netzwerk sein Laster.

Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Zuletzt erschien im Hanser-Verlag 2016 der gemeinsam mit Michael Köhlmeier verfasste Band «Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist, Adam? Mythologisch-philosophische Verführungen».
 


Nota. - "Ach herrje, das sind ja alles Selbstverständlichkeiten!" - Nein, in Zeiten der politischen Korrektheit sind sie das nicht. Schon gar nicht selbstverständlich ist, dass ein Mann der rechten Mitte so zu Leuten reden muss, die sich als Linke bezeichnen. 

Und darum bedarf es einer Erklärung. Seit wann ist mit den Wölfen heulen oder mit den Schafen blöken links? 

Das ist es, seit es eine Linke in einem historisch verständlichen Sinne nicht mehr gibt. Entstanden ist die politische Linke als die Partei, die der Revolution nahestand; der bürgerlich-demokratischen zunächst, der roten und sozialen dann, und schließlich der Weltrevolution. Als die auf sich warten ließ und als sie in Russland in schrecklicher Weise verraten worden war, mussten der Ausbau des (nicht von der Linken eingeführten) Sozial- staats und die Offizialisierung der Gewerkschaften zum Ordnungsfaktor als einstweiliger Ersatz dienen. 

Doch mit der Weltrevolution ist es seit einem Vierteljahrhundert vorbei. Die Arbeiterbewegung, die ihr Träger hätte werden sollen, ist zur Besitzstandswahrerin einer schrumpfenden Minderheit geworden. Mit der Linken ist es aus.

Nicht aber mit der Mentalität der selbstgefälligen, selbstgerechten Kostgänger des Wohlfahrtsstaats auf allen seinen Ebenen. Zählen Sie mal durch, wer alles in diese Rubrik fällt! Sie werden staunend bemerken, dass die zehn Finger Ihrer Hände gar nicht ausreichen. Die sind kein soziales Ganzes, das sich organisieren und gemeinsam kämpfen könnte. Macht haben sie nur, soweit sie die öfffentliche Meinung beeinflussen können, aber das können sie, denn sie sind Lehrer, Journalisten, leitende Beamte... Ihre Schäfchen halten sie nur mittelbar, aber umso sicherer im Trocknen - indem sie sich "für Andere einsetzen", die allein zu schwach dafür sind (und denen nicht immer damit gedient ist), denn was kommt in der Öffentlichkeit dabei rüber? "Wo ein Bedürfnis ist, muss es versorgt werden." Das war jahrzehntelang Konsens in diesem unsern Land. Und damit es korrekt versorgt werden kann, müssen immer auch (zuerst) die Versorger bessergestellt werden.

Dass die zwanghafte Konsenspflege totalitär ist, wollen sie nicht wahrhaben, denn - das darf man schon glauben - das wollen sie ja wirklich nicht. Und dass die Entpolitisierung des Politischen den freiheitlichen Rechtsstaat und die Demokratie untergräbt, im Grunde auch nicht. Darum ist es gar nicht überflüssig, wenn ihnen Konrad Liessmann einige Selbstverständlichkeiten in Erinnerung bringt.
JE 

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