Samstag, 29. Februar 2020

Aber Herr Röttgen!


Der gestrige Tagesspiegel zitiert aus einem Welt-Interview mit Nobert Röttgen:

... Der frühere Unionsfraktionschef Friedrich Merz wiederum mahne eine Richtungsentscheidung an, was er auch für falsch halte. „Die CDU ist keine Richtungspartei, sondern die Mitte-Partei, die in alle Richtungen integrieren muss.“ ...

Wie die Karten derzeit verteilt sind, wäre eine offensive Mitte in diesen Tagen eine Richtung. Der Untote will eine Richtungsänderung rückwärts. Das Kontinuitätstandem will keine Richtung, sondern fortgesetztes herum- tasten. Das geht nicht voran, sondern ergibt sich als Mittelwert aus dem, was die andern vorgeben. Das ist juste milieu.

Wie integriert eine offensive Mitte? Indem sie einen Weg weist, der vorwärts führt,
und Zwecke setzt; nicht aber, indem sie links und rechts Themen borgt. Das wird Herr Röttgen ja wohl kaum anders sehen. 1. 3.: Sogar Jens Spahn sieht es so.


PS. Eben lese ich, der versierte Außenpolitiker Röttgen verstünde Erdogans jüngsten Schwenker gegen NATO und EU als eine Art Hilferuf: Mit seinem Bündnis mit Putin habe er sich vergaloppiert, jetzt steht er mit dem Rücken zur Wand und appelliert an seine regulären Verbündeten, ihm aus der Patsche zu helfen.

Wer würde Erdogan seine Pleite nicht gönnen? Doch wichtiger ist: Putin darf man einen Triumph schon gar nicht gönnen. In Syrien wie in der Ostukraine hat er sein Pulver verschossen, er hat keine Trümpfe mehr auf der Hand. Der Moment, ihm zu zeigen, dass sein bonapartistisches Kalkül - nach außen den starken Mann markie- ren, um nach innen die Opposition zu ersticken - nicht aufgeht, ist jetzt. Er ist kein starker Mann, sondern nur ein Hasardeur, der bislang immer Schwein gehabt hat. Dem sollte man ein Ende setzen.

Dass sie in der CDU Wahlkampf haben, ist deren Sache. Aber deutsche Außenpolitik kann keine Pause machen. Dass Röttgen nicht als Kandidat spricht, sondern als Außenpolitiker, gehört in sein Profil. Ob es ihm nützt, und wobei, wird man sehen.






Freitag, 28. Februar 2020

Westgenossi?

aus nzz.ch, 28. 2. 2020

"Umgekehrt kümmerte es die Christlichdemokraten in Thüringen nicht gross, dass sie durch ihr faktisches Wahlbündnis mit der AfD die Bundespartei in eine Identitätskrise stürzen würden. Als sie merkten, was sie bis hin zum Vertrauensverlust bei den eigenen Wählern angerichtet hatten, flüchteten sie in eine Konstruktion zur Rettung ihrer Pfründen. Statt die Bürger rasch an die Urnen zu rufen, um so einen Ausweg aus der verfahrenen Lage zu finden, will man die Pattsituation künstlich verlängern. Selten führten Abgeordnete in solcher Dreistig- keit vor, dass es ihnen hauptsächlich um ihre Mandate und Diäten geht."


Nota. - NZZ-Chefredakteur Eric Gujer meint aber ausdrücklich, dass es sich um keine Ost-Besonderheit handle; die im Westen seien auch nicht besser.

Dass die Genossis seit 30 Jahren im Westen kein besseres Beispiel gefunden hätten, ist aber nur halb richtig. Denn es gibt zwei Unterschiede. Der erste ist, dass der Fetisch Identität im Westen dem Opportunismus immer noch entgegensteht, während er im Osten mit ihm identisch ist.

Und zweitens der Umstand, dass Angela Merkel seit zwanzig Jahren im Westen führend ist. Die ist pragmatisch, aber eben nicht opportunistisch, wie die Griechenland- und die Flüchtlingskrise ultimativ bewiesen haben. De- ren 'Identität' macht aus, dass sie allezeit streng an der Sache orientiert ist und eben nicht an sich.

*

Zwar liebäugelt Gujer zum Schluss unübersehbar mit dem Kontinuitätstandem Laschet-Spahn. Aber er ist so klug, doch gleich anzufügen:

"Ein neuer Mann an der Spitze bringt frischen Wind, jedoch nicht automatisch neue Ideen. Und auch die AfD, die der intellektuellen Entkernung der CDU ihre Existenz verdankt, verschwindet deswegen nicht. Die Götter- dämmerung ist aufgeschoben, aber nicht aufgehoben."

Mit Röttgen wäre es vielleicht anders.
JE




Grünalternativer für Deutschland.


Es ist ein sträflicher Irrtum, die grünen Lebensreformer schlechtweg zum liberalen Deutschland zu zählen. Was in denen alles steckt, müssen erst große Ereignisse ans Licht bringen.





Donnerstag, 27. Februar 2020

Er will nur machen...


... er braucht keine Theorien? Das geht gegen den Welt- und Außenpolitiker Röttgen. Doch bevor ein Regierender was macht, sollte er schon ein bisschen nachgedacht haben. Einfach was machen, das kann Donald Trump auch.



Mittwoch, 26. Februar 2020

Ihr irrt euch; zur Wahl stehen nur zwei.


Was die Union am meisten geschwächt hat in den letzten Jahren, war das jahrelange Trom-melfeuer von Horst Seehofer gegen die Bundekanzlerin. Und dass man es ihm straflos hat durchgehen lassen! 


In der Flüchtlingsfrage ging es um das Wesentliche: Deutschlands Stellung in Europa und der Welt. Die hat er mut- willig beschädigt für einen ungewissen Wahlvorteil in seinem Sprengel. Das ist ihm auf die Füße gefallen - im Spren- gel selbst, wo die CSU mehr verloren hat als die CDU im Bund. Dass ihm Söder einen Tritt verpasst hat, war wohl- verdient, hatte aber nur bayrische Dimension. In deutschem Maßstab hätte man ihn durchprügeln müssen, und das ist nicht geschehen. Was immer geschwafelt wird: Daran hat die CDU ihre Glaubwürdigkeit ver-loren; alles andere kam nur erschwerend hinzu.

Würde das Tandem garantieren, dass dergleichen nicht mehr möglich ist? Nicht, solange der Untote geistern darf; der hält allen andern Heckenschützen die Tür auf. Wenn Laschet also sagt, einen Richtungswechsel werde es unter ihm nicht geben, geht's mir kalt den Rücken runter.


Zur Wahl stehen nur Röttgen und der Untote. Laschet und Spahn stehen für den Plan, sich um eine Wahl herumzudrücken. Wer für sie stimmt, optiert fürs fortgesetze Hängen und Wür-gen. Was das für die CDU bedeutet, interessiert nur in zweiter Linie. In erster Linie führt es Deutschland in Lähmung und weltweite Handlungsunfähigkeit.

Es sei denn, die Union wäre an der kommenden Bundesregierung schon nicht mehr beteiligt. Es geht nämlich nicht darum, wer Wahlen gewinnen kann. Wahlen will man gewinnen, um zu regieren. Aber dafür sollte man wissen, wo- hin in der Welt.







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Dienstag, 25. Februar 2020

Doppelte Nulllösung?


Das Tandem Laschet-Spahn mag das Herz des gewöhnlichen CDU-Manns wärmen. Bündeln, vereinbaren, kom- promisseln - das war stets ihr Lebensstil. Die letzen Jahrzehnte hat er nur, schlecht und recht, überdauert, weil dar- über die übermächtige Frau Merkel präsidierte. Und wenn die sagte, "Sie kennen mich", dann war es Programm, dann war es Richtung.

Aber jetzt soll der Kompromiss selber den Weg anzeigen. Das mag vorübergehend "die Basis" ruhigstellen. Viel- leicht hält's sogar bis zur nächsten Bundestagswahl. Aber den Niedergang der CDU wird es höchstens verzögern und nicht aufhalten. An der Stelle hat der Wiedergänger ganz Recht: Eine Richtungsentscheidung muss kommen, je später, umso schlimmer nicht nur für die CDU.

Die Richtungsentscheidung ist ja nicht eine häusliche Angelegenheit, die en famille zu erledigen wäre. Es geht - der Untote war klug genug, das in seiner Präsentation an die erste Stelle zu setzen - um die Rolle Deutschlands in Euro- pa und daher in der Welt. Doch hat er während seiner diversen Erscheinungen in den vergangenen zwei Jahren noch nicht durchblicken lassen, wie er das versteht; noch, was er davon versteht.

Ein Glück, dass ein Außenpolitiker auch antritt.


Ein Wiedergänger.


aus New Statesman, 18. 2. 20

... The politics of Europe’s largest economy - and what should be the continent’s geopolitical keystone - can be ex- asperatingly parochial. Where turbulent events rage in the outside world, the German political establishment spends astonishing amounts of time and attention on petty squabbles, low-rent imitations of American culture wars and re- litigations of old arguments and rivalries. Much of this is personified in the candidacy of former CDU parliamentary head Friedrich Merz, a cadaverous spectre from the federal republic’s political past who lost a power struggle with Merkel in 2002 and has returned in the twilight of her chancellorship, sculpting the unreconstructed politics of that bygone era into pseudo-populist provocations for the Twitter age. ...




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Montag, 24. Februar 2020

Jack in the box.


Oder wär es Norbert Röttgen?

In sachlicher Hinsicht finde ich nichts, was man ihm vorwerfen müsste. Und persönlich macht er den Einrdruck, als habe er Haare auf den Zähnen, wenn er sie auch nicht raushängen lässt.

Was die CDU jetzt braucht, ist nichts Einvernehmliches, sondern eine Richtungsentscheidung - nämlich eine Kampfabstimmung. Davor graut ihnen an der Parteispitze, doch ohne das können sie sich gleich zu den Sozial- demokraten in die Grube legen. Da gibt's dann keine Rivalitäten mehr.






Sonntag, 23. Februar 2020

'Rechts oder links' hat sich erledigt.


Rechts und links, das war einmal; solange alle Politik nämlich im Zeichen der Aktualität der Weltrevolution stand. Von der blieb schließlich nur die pervertierte Kümmerform des Wettbewerbs der Systeme, und um rechts und links wurde es zusehends blasser. Seit 1990 ist auch damit Schluss, die Weltpolitik zerbröselte in tausend Einzelteile. Richtungsentscheidungen waren nicht mehr angezeigt, die Unterscheidung von links und rechts wurde gegenstands- los.

Soviel von der Metaebene. Auf der Gegenstandsebene sieht es anders aus. Links und rechts haben ihre jahrzehnte- lang gepflegten Identitäten, die wollen ihre Kostgänger sich nicht nehmen lassen - und das sind ihre jeweiligen Plätze im System der Verteilung der politischen Pfründe. Das Ergebnis ist die Kakophonie der Trump, Putin, Orban, Salvini, Johnson, aber auch Sanders, Mélenchon, Tsipras. Macron gehört auf seine Art auch dazu: 'Popu- listisch' sind sie alle; sie können nicht sagen, wozu; aber sie rufen auf, ihnen zu folgen; warum? Um ihrer Identäten willen. Und Schiboleths sind ihre Kurantmünzen.



Angela Merkel stand allein auf weiter Flur, das hat sie zu einem Leuchtturm werden lassen. Aber sie musste jonglie- ren auf einem Berg wetteifernder Identitäten. Man wird sagen müssen, sie hat nicht rechtzeitig daran gedacht, sich im Lande eine eigene Basis zu schaffen - sie war wohl europa- und weltpolitisch zu sehr in Anspruch genommen. Aber wo anders als in Deutschland gibt es noch einen fruchtbaren, nach Befruchtung regelrecht lechzenden Boden für eine Wiederherstellung des Politischen?

Man muss sich bloß klarwerden: Um rechts oder links geht es nicht, sondern um sachlich oder identisch.







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Samstag, 22. Februar 2020

Wichtig und weniger wichtig.


Entscheidend ist, dass die CDU einen Beitrag zur Ausbildung einer Offensiven Mitte in Deutschland leistet. Wenn sie sich dafür spalten müsste, wär's besser, als wenn sie keinen leistete.

Ein Luftikus wie Macron kann so eine Sache dauerhaft gegen die Wand fahren.



PS. In Sachen Äquidistanz fällt mir nur ein: Die Neuheit der Epoche besteht eben darin, dass das, was der Mitte zu tun übrigbleibt, nicht von den Rändern her bestimmt wird, sondern dass die Mitte tut, was richtig ist, und die Identi- schen an die Ränder schiebt.






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Freitag, 21. Februar 2020

Ein eitler alter Affe.



Das Problem ist gar nicht er, sondern der Verein, der imstande ist, ihm Beifall zu klatschen. Dieser Fuß ist so be- kackt, dass Wasser und Seife nicht ausreichen würden.






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Donnerstag, 20. Februar 2020

Identisch und grob.


Da scheißt der Hund drauf?  "Wie grob, Identitäten sind verletzlich!"
Drum.





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Mittwoch, 19. Februar 2020

Dienstag, 18. Februar 2020

Identitätserguss.

Aufbruch und Erneuerung
als wär's 2002 (zur Not kann man immer noch richtigstellen).



Montag, 17. Februar 2020

Schiboleth.


5 Und die Gileaditer nahmen ein die Furten des Jordans vor Ephraim. Wenn nun die Flüchtigen Ephraims sprachen: Laß mich hinübergehen! so sprachen die Männer von Gilead zu Ihm: Bist du ein Ephraimiter? Wenn er dann ant- wortete: Nein! 6 hießen sie ihn sprechen: Schiboleth; so sprach er Siboleth und konnte es nicht recht reden; alsdann griffen sie ihn schlugen ihn an den Furten des Jordans, daß zu der Zeit von Ephraim fielen zweiundvierzigtausend.

Richter 12



 

Sonntag, 16. Februar 2020

Identifiziert euch in stillen Winkeln.


Öffentlichkeit hat andere Zwecke.





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Samstag, 15. Februar 2020

Aber sie haben immernoch einen Platz im politischen System.


Programme haben unsere Parteien seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr. Aber sie haben immernoch einen Platz im politischen System. Der macht ihre Identität aus. Doch die ist nichts, was das Land braucht. 



Freitag, 14. Februar 2020

Das Genossi ist nicht der Mehrheitsdeutsche.

 
Es ist vermutlich nicht einmal die Mehrheit unter den Ostdeutschen. Aber es stellt deren politisches Personal. Das ist natürlich eine Erbschaft der realexistierenden Nischenkultur. Doch die Westparteien haben das Ihre dazu beigetragen. Lieber als Pfeife an der Regierung als kompetent in der Opposition.

Die Partei hat nämlich selber eine Identität: Sie muss an die Fleischtöpfe.


Donnerstag, 13. Februar 2020

Das Genossi ist identisch und will es bleiben.

aus welt.de, 12. 2. 2020

Der Vize-Chef der Thüringer CDU-Fraktion, Michael Heym, hat die Reaktion von Kanzlerin Angela Merkel auf die Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten scharf kritisiert. „Da habe ich mich an tiefste DDR-Zeiten erinnert gefühlt“, sagte Heym der dpa.

Die Möglichkeit einer Wahl Kemmerichs (FDP) mit Stimmen von CDU, AfD und FDP ist in der Thüringer CDU-Fraktion laut Heym vorher besprochen worden. „Es war der gesamten Fraktion bekannt, dass das passie- ren kann“, sagte er. Seiner Meinung nach sei die Wahl Kemmerichs „nicht schlimm. Es war eine kollektive Entscheidung, Kemmerich zu wählen. Einstimmig hat man sich darauf geeinigt“, sagte Heym und betonte, dass es sich um eine demokratische Wahl gehandelt habe.
 

Nota. - War demokratisch, die Identität konnte sich unbehindert kollektiv enfalten. Es war alles in Butter. Und da kommt das FDJ-Mädel mit politischen Sachfragen!
JE




Mittwoch, 12. Februar 2020

Identität und die Wiederherstellung des Politischen.

knajp

Radikale Mitte und Wiederherstellung des Politischen bedeuten dasselbe. Nicht im Olymp der Begriffe, sondern in der historischen Situation, in die wir geraten sind. An der Stelle sachlicher Pläne und Programme für die oder das Gemeinwesen rivalisieren tausenderlei Identitäten mit Bekenntnissen und Schimpfwörtern.

Doch auf eure Identitäten scheißt der Hund. Das Gemeinwesen geht nur an, was das Gemeinwesen betrifft. Das Private ist nicht politisch.

Das war vor einem guten halben Jahrhundert die Geburt der Identitätsseuche: die feministische Kampfparole, das Private sei politisch. "Ist es nicht? Meines schon! Denn es ist ein ganz besonderes Privates, eines von höherer Gel- tung: Identität!" Alias Ich bin Frau.

Meine Identität ist es, weil ich sie als solche erkenne, das kann mir keineR nehmen. Wenn ich sie bekenne, sind lo- gische Einreden gegenstandslos. Es muss auch nicht Frau sein, es kann auch queer sein oder behindert oder esote- risch, wer kann es einem verwehren? Mann und weiß und Ehre und Raucher und karnivor stehen auch zu Wahl, anything goes. Ausschlaggebend ist nur, wer wen übertönt, doch das ist fließend; kann aber Wahlen entscheiden.


Das hat sich im Laufe der Jahrzehnte in alle politischen Lager eingefressen, da hat der schimmlige Maaßen nur allzu Recht. Er selbst beweist es ja. Nur meint er, dass seine Identität viel besser wäre als die der andern, doch wie kann es anders sein? Maßstäbe gibt es nicht, die müssten ja wohl politisch sein - und das begänne, wie die Dinge einmal liegen, mit einem rücksichtslosen Kampf gegen alles Identische.

*

Nicht im Olymp der Begriffe, sagte ich oben. Denn es liegt daran, dass mit dem Ende der Weltrevolution das Poli- tische wirklich in tausend Einzelteile zerfallen ist, und statt von den zerfaserten identischen Rändern her nun aus der radikal sachlichen Mitte neu aufgebaut werden muss.







Montag, 10. Februar 2020

Radikale Mitte.

mmanchete.blogspot.com.br

Radikale Mitte -  so hieß die "Spaßpartei" - damals kam das Wort auf -, die 1950 von dem Kabarettisten Werner Finck ins Leben gerufen wurde und damals einigen publizitären Erfolg hatte. Die Bundesrepublik hatte noch mit der KPD auf der einen und der SRP auf der andern Seite zwei extreme Flügelparteien, und es war nicht auszu- schließen, dass die sich dort festsetzen würden.

An sich klang die Formulierung Radikale Mitte paradox. Radikal, das war der äußerste linke Flügel - die Weltrevolu- tion - und der äußerste rechte Flügel: die je nationale Konterrevolution. Mitte, das war, was als Nullpunkt zwischen den beiden Kräften resultierte: nicht zu viel hiervon, nicht zuviel davon, sondern 'grade richtig'; juste milieu. Mitte war die Resultante von tausend Kompromissen, gibst du mir dies, geb ich dir das, das ging nicht vorwärts, ging nicht rückwärts, sondern schleppte sich hin, und wenn dann ein Donnerwetter dreinfuhr, kamen sie aus dem Mustopp.


Das war im vorigen Jahrtausend. Von der Weltrevolution ist seit 1990 keine Rede mehr. Für nationale Konterrevo- lutionen besteht folglich weltweit kein Bedarf. Das Ende der Geschichte ward ausgerufen, aber dann ging sie doch weiter. Sie heißt jetzt Globalisierung.

*

Radikal war, was an die Wurzel ging; Revolution und Konterrevolution; entweder oder. Entweder oder gibt's nicht mehr. Es gibt nur noch Globalisierung und Digitalisierung, aber das ist dasselbe. Strittig sind sie nicht, sondern nur, was man draus macht. Radikal ist, wer die Sache zuende denkt und draus macht, was der gesunde Menschenverstand - Vernunft muss gar nicht beschworen werden - rät. 

Was digitalisiert werden kann, werden die intelligenten Maschinen übernehmen. Für uns Menschen bleibt an Arbeit nur übrig, was - sei es - lebendige Einbildungskraft, - sei es - menschliche Einfühlung verlangt. Mit andern Worten, die ausführenden und namentlich die verwaltenden Tätigkeiten hätten wir uns endlich vom Halse programmiert. Da aber nicht weniger, sondern mehr produziert werden dürfte, müsste die Verteilung anders geregelt werden als durch den jeweiligen Anteil der Individuen an der produktiven Arbeit: Denn die meisten hätten keinen mehr. 

An einem garantierten Grundeinkommen wird auf die ganz lange Sicht nichts vorbeiführen. Heute erscheint das Problem der Finanzierung als unüberwindliche Hürde. Aber die faux frais durch ausufernde Verwaltungsarbeit, die sachlich immer hinderlicher wird, wachsen weiter: Maschinen können das besser. Es kommt der Tag, da wird das garantierte Grundeinkommen ein Gebot der Sparsamkeit sein. 

*

Hier schließt sich der Kreis. Das ist in einem Land nicht möglich: In das Land, das damit anfinge, würden sich die Migrationsströme der ganzen Welt ergießen. Das ist nur gangbar als ein weltweit geplanter und, so Gott will, abge- stimmter Prozess. 

Und doch muss irgendwo angefangen werden. Die Frage, ob das überhaupt möglich ist, stellt sich schon gar nicht mehr. Es ist notwendig, und da wird die Notwendigkeit den Möglichkeiten schon auf die Sprünge helfen..

*

Langer Rede kurzer Sinn (Sie ahnen es längst): Europa ist die Weltgegend, die mit der überkommenen kapitalisti- schen Wirtschaftsordnung, die den Weltmarkt geschaffen hat und mit der digitalen Revolution die Globalisierung vorantreibt, die längste und man darf wohl sagen: sattsamste Erfahrung gemacht hat. Es kommt ihr zu, auch den Weg heraus zu weisen. Und die Gegend, wo Europa am europäischsten, nämlich am zwiespältigsten ist, ist die unsere. Deutschland in Europa und Europa in der Welt - das ist die Perspektive der radikalen Mitte.
 

16. Oktober 2017


Nachtrag, Juni 2019

Unser aktuelles Parteiensystem ist ein Erbe der Konferenz in Jalta, auf der die Teilung der Welt in zwei Blöcke ein- geleitet wurde. Die Teilung ist überwunden, aber ihr Erbe ist uns verblieben. Das konnte nicht ewig so fortgehen. Mit dem Aufkommen der Piratenpartei schien es sich auflösen zu wollen, aber das war nur ein Strohfeuer. Sein wirkliches Ende wurde die AfD.

Zu Recht, muss man sagen. Rechtspopulismus sagen die Kommentatoren, die so tun, als sei er illegitim. Das ist er nicht. Da die überkommenen Parteien nicht gewillt und auch gar nicht fähig waren, der neuen Weltlage positiv Rechnung zu tragen, drängt sich nun die negative Anwort vor: Es soll wieder werden, wie es war. 

Nichts wird werden, wie es war, in Amerika nicht und nicht im Vereinigten Königreich, und schon gar nicht im neu vereinten Deutschland. Während die andern stetig abstiegen, ohne es wahrhaben zu wollen, stand Deutschland plötzlich da als das, was es auf katastrophal vergebliche Weise zwei Jahunderte lang zu werden versuchte - die neue, unverbrauchte Führungsmacht. Und hat es - nicht wahrhaben wollen.

Im Jahr 2015 ist es unübersehbar geworden: Erst mit der griechischen Schuldenkrise, dann mit dem Ansturm der Flüchtlinge. Nur Deutschland fand sich in der Lage, eine Initiative zu ergreifen, und nach Deutschland strömten sie alle. Angela Merkel hat es im letzten Moment erkannt und die Reißleine gezogen. Die ganze Welt hat es mit Staunen gesehen, und in Deutschland bildete sich unter der Hand eine politische Kraft heran, die gegen Wind und Wetter das Schiff schlecht und recht auf Kurs hielt; eine heimliche Regieruungskoalition über Parteigrenzen hinweg, ein Merkel-Lager, das von der Mitte der CDU bis tief hinein in die Grünen reichte.

Die fortgeführte Große Koalition hat dem paradoxer Weise ein Ende bereitet. Die SPD hätte gerne Opposition in der Regierung gespielt, aber dazu fehlt ihr das Progarmm; von den Köpfen gar nicht zu reden. Sie ist zu einer Sekte geworden, die nur noch ums Überleben kämpft, was jenseits ihres Tellerrands liegt, nimmt sie gar nicht mehr wahr. Dabei hatte Lindner von der FDP ihr ein Geschenk gemacht. Vor dem schwarz-gelb-grünen Bündnis hatte er gekniffen; für so ein Abenteur fehlte ihnen das Programm, von den Köpfen ganz zu schweigen. Wenn schon sonst niemand, hat wenigstens die CDU die Sozialdemokraten gebraucht, damit Merkel weiter regieren konnte. Doch regieren kann mit denen inzwischen auch Angela Merkel nicht. 

Und jetzt ist die CDU selber an der Reihe. Mit Friedrich Merz hätte um ein Haar die gute alte Adenauer-Partei aus der Kalten Kriegszeit Urständ gefeiert. Zwar ist die CSU nach ihrer Klatsche brav und still geworden. Doch dass sie ihre Bataillone ausgerechnet in der Union findet, kann Merkel nun nicht mehr hoffen. Sie hätte ihr eigenes Lager beizeiten formieren müssen. 

Und da sind wir nun. Wer sich nicht in Gefahr begiebt, kommt darin um. Die Wähler, die wegen Merkel für die CDU gestimmt hatten, laufen in Scharen zu den Grünen über - und wer weiß, wohin noch. Und immer noch ist Angela Merkel die einzige Achse, um die herum sich in Deutschland eine neue Mehrheit finden kann.




 

Das Genossi ist identisch...


...und will so bleiben.








Punctum knaxi.


Das hätte ihr keiner zugetraut, und das war auch nie ihre Absicht; das hätte sie aber anpacken müssen, wenn sie das Erbe Angela Merkels weiterführen wollte: der Union ihren bekackten Fuß abhacken. Und wer sich dafür nicht be- rufen fühlt, muss gar nicht erst versuchen, an ihre Stelle zu treten, sonst geht es nur noch tiefer ins Jammertal.

Es gibt eine historische Aufgabe, an der führt kein Weg vorbei, und wenn's hier nicht mit Biegen geht, muss es eben dort mit Brechen gehn.



Donnerstag, 6. Februar 2020

Jamaika-Aus...


...hieß wohl das Wort des Jahres 2017. Mancher meinte, dafür wär's noch zu früh, aufgeschoben sei nicht aufgehoben. Denn die Aufgabe von damals ist ja bis heute nicht angepackt...

Jetzt aber ist es so weit: Wer sich mit Lindner einlässt, setzt sich mit nacktem Arsch ins Fettnäpfchen.


Doch wer sich mit Sozialdemokraten einlässt, betritt eine versunkene Welt.
 

Und wenn es die Union noch immer nicht fertigbringt, sich ihren bekackten Fuß abzuhacken, hilft uns nur noch ein Deus ex machina.

Aber das ist gewiss nicht die selbstverliebte Frau Habeck.


Söder wäre dagegen ein echter Jack in the box. Ob man sich den wünschen soll?






Das kommt vom Rudern, das kommt vom Segeln; das kommt vom Liberallala.

land.nrw

Das ist der Grund, warum der Liberalismus in Deutschland nie zu einer politischen Kraft geworden ist,  und schon gar nicht zu einem Bezugspunkt einer offensiven Mitte: Sie hatten niemals Prinzipien, sondern haben immer nur doktrinäre Haare gespalten, um ihren Opportunismus zu verbrämen. Sie haben sich immer von den einen gegen die andern ausspielen lassen und waren allenfalls Mehrheitsbeschaffer.

Wenn der Thüringer FDP-Mann nun sagt, er habe mit seinen fünf Prozent als Repräsentant der bürgerlichen Mitte kandidiert und als solcher sei er nun eben mal gewählt worden, ist er dumm und frech. Dem Lindner, der links, rechts und sonstwo schmult, ob er sich nicht ein politisches Profil zusammenborgen kann, wird es hoffentlich das Genick brechen. Um sein Rückgrat muss man sich dagegen keine Sorgen machen.





Dienstag, 4. Februar 2020

Als Europa zum Nabel der Welt wurde.

aus Tagesspiegel.de, 4. 2. 2020                                         Zürcher Hauptbahnhof im Jahr 1870 im Bau, ein Jahr vor der Eröffnung

Neue Sicht auf das "lange" 19. Jahrhundert
Fortschritt auf breiter Bahn
Willibald Steinmetz erklärt, wie sich Europa zum Maßstab der Zivilisation erhob.



Europa beginnt in Ägypten. So sah es zumindest Helmuth von Moltke, als er Mitte der 1830er Jahre durch das Osmanische Reich reiste. Für den späteren preußischen Generalfeldmarschall vereinte die Herrschaft des ägyptischen Statthalters Muhammad Ali Pascha zwei Welten: Volkszählungen und Steuern nach europäischem Vorbild hier, Ämterhandel und andere „Laster des Orients“ dort. Erst zusammen ergäben sie eine „noch nie und nirgends erreichte Höhe der Tyrannei“.

Andersherum drang die Welt im 19. Jahrhundert auch mitten ins geografische Europa. Die Straßen Berlins bedecke nur ein dünner Firniss von Zivilisation, stichelte der britische Journalist George Augustus Sala 1864. Darunter liege die reine „orientalische Barbarei“. Einige Jahrzehnte zuvor kommentierte der napoleonische Beamte Auguste Creuzé de Lesser, Europa ende in Neapel, „und zwar schlecht. Kalabrien, Sizilien und der ganze Rest ist Afrika“.

Europa als Zentrum und Peripherie

Europa zwischen Pyramiden, der Orient auf dem Ku’damm? Für die Menschen des 19. Jahrhunderts war der Begriff „Europa“ weit mehr als eine geografische Konvention. Sie verstanden Europa „immer auch als kulturelles und politisches Gebilde“, schreibt der Historiker Willibald Steinmetz in seinem neuen Überblickswerk „Europa im 19. Jahrhundert“. „Sobald von ‚Europa’ als Sammelpunkt bestimmter materieller und zivilisatorischer Standards die Rede war, hatten die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts nicht das Bild eines umgrenzten Flächenraums, sondern ein Modell von Zentrum und Peripherie vor Augen. Es hing vom eigenen Standpunkt ab, wo jeweils die Übergänge, Randzonen und Außenposten lokalisiert wurden.“ Die Europäer entwickelten eine mentale Landkarte, die den Raum einer chronologisch-normativen Ordnung unterwarf. Gebiete – und die dort lebenden Menschen – galten ihnen nun als „fortschrittlich“ oder „rückschrittlich“, „zeitgemäß“ oder „zurückgeblieben“, „modern“ oder „archaisch“.

Wie ist das 19. Jahrhundert eingegrenzt?

Die Anwesenheit von Differenz lässt sich empirisch belegen, ihre Wahrnehmung und Artikulation bleibt Entscheidung des Betrachters. Mit dieser Grundthese beginnt Steinmetz seine gut 650 Seiten starke Studie. „Europa im 19. Jahrhundert“ ist der neueste Teil der Reihe „Neue Fischer Weltgeschichte“, die seit 2012 als Nachfolgerin der „Fischer Weltgeschichte“ erscheint.

Doch was ist überhaupt das 19. Jahrhundert? Die Zäsuren rund um das 19. Jahrhundert haben Historiker lange aus der politischen Geschichte (West-)Europas abgeleitet. Kandidaten waren die Französische Revolution (1789) oder Napoleons Staatsstreich (1799) auf der einen, Beginn des ersten Weltkriegs (1914), Kriegseintritt der USA und Sturz der Zarenfamilie (1917) beziehungsweise Kriegsende (1918) auf der anderen Seite.

Steinmetz, so verkündet er in der Einleitung, will sie alle nicht. Statt seine Geschichte einzelnen „Ereignissen der hohen Politik“ unterzuordnen, spricht er lieber von „Schwellenzeiten“, Zeitabschnitten, in denen sich auf verschiedenen Gebieten besonders viel und besonders schnell änderte. Ein ehrenwertes Anliegen, richten sich historische Entwicklungen üblicherweise nicht nach Sekundenzeiger und Kalenderblatt. So neu, wie Steinmetz es darstellt, ist der Prozessgedanke freilich nicht.

Der tatsächliche Umschwung setzt um 1800 ein

„Schwellen“ findet Steinmetz dann auch für 1800 wie 1900. „Epochemachend“ für erstere sei vor allem die Folge der „atlantischen Revolutionen“. Die Proklamation der universalen Menschen- und Bürgerrechte in Amerika und Frankreich habe „Verheißungen und Bezugspunkte“ in die Welt gesetzt, „an denen sich Regierende, nicht nur in Europa, aber vor allem dort, das 19. Jahrhundert hindurch und bis weit ins 20. Jahrhundert messen lassen mussten“. Industrialisierung (Eric Hobsbawm) und imperiale Ausdehnung (Christopher Bayly) sieht Steinmetz zu dieser Zeit allenfalls als europäische Randphänomene. Um 1900 betont er eine „Entdeckung“ und Normierung der breiten Bevölkerung durch gesellschaftliche Eliten, Technisierung, Traditionschaos. Insgesamt sind das für Steinmetz aber eher „Steigerungen, Beschleunigungen und räumlich-soziale Ausdehnung von Prozessen (...), deren Beginn sich auf die Jahrzehnte um 1800 (...) datieren“ lässt.

Die „Schwellenzeiten“ bilden nicht nur den theoretischen Rahmen von Steinmetz’ „Europa im 19. Jahrhundert“. Der Historiker verarbeitet sie auch im Aufbau des Buches, in dem er das „Schwellenzeit“-Konzept mit einem gesellschaftsgeschichtlichen Rahmen verbindet. Dazu teilt Steinmetz das 19. Jahrhundert in eine erste (Kapitel II) und eine zweite Hälfte (IV). Beide analysiert er separat nach den Grundkategorien Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Politik. Das gesellschaftsgeschichtliche Untersuchungsraster ist eine Vorgabe der Herausgeber von Fischers „Neuer Weltgeschichte“. Mit jeweils gut 200 Seiten stellen sie den Hauptteil des Buches.

Das Bürgertum als neue Kraft

Vor, zwischen und hinter dem zweiten und vierten Kapitel setzt Steinmetz drei kleinere „Schwellenzeit-Kapitel“. Das ist eine nette Idee, gerät in der Praxis aber doch wieder arg traditionell: ein kurzer Abriss über Napoleon und napoleonische Kriege (I), Revolution und Reaktion zur Mitte des Jahrhunderts (III), schließlich „Rückblicke und Ausblicke“ (V). Vom eingangs formulierten Anspruch, der Ordnungsstiftung durch „Ereignisse der hohen Politik“ zu widerstehen, spürt man hier nur noch wenig.

„Europa im 19. Jahrhundert“ ist über weite Strecken eine profunde, flüssig geschriebene Abhandlung des Erwarteten. In der ersten Hälfte lässt Steinmetz das Bürgertum als neue Kraft zwischen Landbevölkerung und Adel erstarken, betont die je nach Land und Region ganz unterschiedlichen Geschwindigkeiten, in der sich technische Errungenschaften wie Webstuhl und Eisenbahn verbreiteten.


Nach der Revolution entwickeln sich dann die ersten Unternehmen zum Global Player, Kunst und Kultur spalten sich in unverständliche Avantgarde und belächelte „Massenkultur“. Auch Frauen, Juden und Sinti fordern nun Freiheit und Gleichheit. An einigen Stellen weitet Steinmetz den Fokus seiner „Weltgeschichte Europas“ auch auf weltweite Verknüpfungen. Meist bleibt die Darstellung aber in einem konventionell-eurozentrischen Rahmen.

Ein Jahrhundert der Dynamik

Spannend, weil für eine „Geschichte für Laien“ eher ungewöhnlich, sind die begriffsgeschichtlichen Akzente. Steinmetz zitiert die einschlägigen „Sattelzeit“-Thesen seines Doktorvaters Reinhart Koselleck: Gott war tot, die Geschichte galt den Eliten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zunehmend als menschengemacht. Zukunft wurde so form- und bestimmbar. Das hatte sprachliche Konsequenzen. „Freiheit“ galt nun nicht mehr als Privileg, das ein Fürst einer Gruppe von Untertanen verlieh, sondern als Recht, das dem Individuum zustand und gegenüber Gesellschaft und Staat eingefordert werden konnte.

„So entstand seit etwa 1800 ein zirkulärer Prozess wechselseitiger Verstärkung verzeitlichter Begriffe, zukunftsgerichteter Handlungen und entsprechend umgebauter Strukturen, ein Prozess, der die außerordentliche Dynamik Europas im gesamten 19. Jahrhundert wesentlich bestimmte.“ Europa veränderte sich, aber die Veränderung war ambivalent. Unter der Flagge von Freiheit und Gleichheit eroberten sich immer mehr Menschen gesellschaftliche Macht und Repräsentanz.

Anpassen oder ausschließen

Gleichzeitig vertieften und systematisierten sich die sozialen Ausschlüsse. Der männliche, heterosexuelle und christliche Staatsbürger stilisierte sich selbst als exklusive Norm. Wer nicht dazu passen konnte oder wollte, hatte schlechte Chancen – auch über erste Emanzipationserfolge hinaus. So gelang es Frauen im letzten Drittel des Jahrhunderts zwar, in einzelnen Berufen Fuß zu fassen. Die Dienerinnen, Lehrerinnen, Krankenschwestern waren in diesen Sparten dann aber schnell unter sich, schlechtere Bezahlung und inhaltliche Abwertung inklusive. Steinmetz zeigt: Auch das „Gender Pay Gap“ ist ein Erbe des 19. Jahrhunderts.

Willibald Steinmetz: Europa im 19. Jahrhundert. Neue Fischer Weltgeschichte, Band 6. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2019. 786 S., 78 €.


Nota. - Während des 'langen' neunzehnten Jahrhunderts entwickelte sich Europa zum Nabel der Welt - indem es den Weltmarkt schuf. Dann kam der Weltkrieg, der Weltmarkt zerfiel, es wurde die Epoche der Weltrevolution. Sie ist misslungen, eine neue Weltordnung kam nicht zu Stande; stattdessen Kalter Krieg, "Wettbewerb der Systeme" und Ausbildung einer Dritten Welt. Und wieder keine neue Ordnung. Ein prekärer Status quo und neuer Anfang.
JE