Freitag, 31. Juli 2020

ßie wollen wie das Wasser ßein...

aus welt.de, 31. 7. 2020

Spitze gegen Thunberg
Deutsche Forschungsgemeinschaft löscht Nuhr-Beitrag
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft entfernt einen Beitrag von Dieter Nuhr nach einem Shitstorm von ihrer Website. Der Kabarettist wehrt sich. Er solle mundtot gemacht werden, fürchtet er: „Mir gruselt es ein wenig.“



Die Kampagne der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat einen einfachen Namen: „Gemeinsam #für dasWissen“. Unter diesem Schlagwort will sie nach eigenen Angaben „ihre Überzeugung für eine freie und er-kenntnisgeleitete Forschung in die Gesellschaft tragen“. Eine ganze Reihe prominenter Botschafter unterstützt die Kampagne mit Wortbeiträgen. Neben Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator Ranga Yogeshwar oder der SPD-Bundestagsabgeordneten Yasmin Fahimi war darunter eigentlich auch Kabarettist Dieter Nuhr. Doch dann kam es anders.

Denn die DFG hat den Kommentar des 59-Jährigen, der mit seinen Witzen über das Coronavirus und die Klima-jugend nicht überall gut ankommt, am Freitagvormittag wieder von ihrer Kampagnenseite gelöscht. Zuvor war der Clip auf Twitter kritisiert worden – in dem sozialen Netzwerk ist er nach wie vor abrufbar.

Auf Anfrage von WELT erklärt Nuhr, dass er den Kommentar „gerne speziell für die Kampagne aufgenommen“ habe. Die Entfernung des Beitrags kritisiert er scharf und spricht von „Denunziation“.

Der Kommentar begann mit den Worten: „Wissen bedeutet nicht, dass man sich zu 100 Prozent sicher ist.“ Vielmehr bedeute es, über genügend Fakten zu verfügen, um eine „begründete Meinung zu haben“.

Es sei daher richtig, dass Wissenschaftler ihre Meinung änderten: „Das ist normal. Wissenschaft ist gerade, dass sich die Meinung ändert, wenn sich die Faktenlage ändert.“ Wissenschaft sei schließlich keine Religion, die absolute Wahrheiten verkünde.

Dann folgte in dem Clip ein Seitenhieb auf Klimaaktivisten wie Greta Thunberg und Luisa Neubauer: „Wer ständig ruft: ‚Folgt der Wissenschaft‘, der hat das offensichtlich nicht begriffen“, so der Kabarettist. Wissen-schaft wisse nicht alles, sei aber „die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wich-tig“.

Nuhr tat in seinem kurzen Beitrag also genau, was der DFG zupass kommen dürfte. Schließlich hat sie sich als Verein zur Aufgabe gemacht, Forschung und Wissenschaft in Deutschland zu fördern. Und Nuhr begründete die Relevanz von Wissenschaft – wenn auch nicht unkritisch und eben mit der Spitze gegen die Klimajugend.

Nuhr provoziert immer wieder

Immer wieder provoziert der Kabarattist mit seinen Wortbeiträgen vor allem politisch links orientierte Men-schen. An der aus seiner Sicht zu extremen Einstellung von Thunberg und anderen Klimaaktivisten arbeitet er sich besonders gerne ab.

Linke und Rechte hätten mit Meinungsfreiheit schon immer nur die eigene Meinung gemeint, sagt Dieter Nuhr  

Nachdem die Forschungsgemeinschaft den neuen Clip auf Twitter geteilt hatte, sah sie sich dort heftiger Kritik ausgesetzt. Der Kabarettist sei „Wissenschaftsleugner“, hieß es da; Vergleiche mit Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen wurden gezogen und die Entscheidung der DFG für Nuhr als Werbeträger wahlweise als „hoch-gradig peinlich“, „unerträglich“ und „unterirdisch“ bezeichnet.

Zunächst entschied man bei der DFG, Nuhr gegen die Kritik zu verteidigen. Gute vier Stunden nach der Veröf-fentlichung des Ursprungstweets schrieb die Forschungsgemeinschaft am Donnerstagabend: „Jeder, dessen Statement inhaltlich #fürdasWissen steht“, sei willkommen.

Am Freitagvormittag dann der Kurswechsel: „Liebe Community, wir nehmen die Kritik, die vielen Kommentare und Hinweise ernst“, hieß es. Nuhrs Beitrag sei daher von der Kampagnenwebsite entfernt worden.

Die Kritiker lobten diese Entscheidung. Dafür meldeten sich nun andere Nutzer zu Wort, die „Zensur“ witterten oder es als „bedenklich“ empfanden, dass die Forschungsgemeinschaft dem Druck der Kritiker nachgegeben habe.

Tatsächlich war das Video bereits seit dem 21. Juli auf der Kampagnenseite abrufbar gewesen, wie die DFG auf Anfrage mitteilte. Erst als der Post auf Twitter in der wissenschaftlichen Community und darüber hinaus „zu einer starken und sehr kritischen Resonanz geführt“ habe, „in der es weniger um Nuhrs Statement, sondern um die wissenschaftliche Haltung geht, für die er an anderer Stelle steht“, habe man sich für die Entfernung ent-schieden, so die DFG in einer schriftlichen Stellungnahme an WELT.

Nuhr findet Löschung „geradezu alarmierend“

Dieter Nuhr selbst kritisiert die Entscheidung der DFG scharf. Die Löschung sei „nicht nur merkwürdig, son-dern geradezu alarmierend“, teilt er schriftlich gegenüber WELT mit. „Es wurde bereits des Öfteren versucht, mich als Wissenschaftsfeind darzustellen, weil ich oft darauf hinweise, dass der Begriff der Wissenschaft nicht missbraucht werden darf, um eine absolute Wahrheit zu proklamieren, die nicht mehr hinterfragt werden darf“, so Nuhr.

Der Kabarettist betont, er habe immer wieder darauf hingewiesen, dass er Fridays for Future grundsätzlich für sympathisch halte. Ein Satz wie „Folgt der Wissenschaft“ aber sei „unbrauchbar, weil er suggeriert, es gebe die eine, eben wissenschaftliche Lösung für das Problem des Klimawandels“. Die Schwedin Thunberg, die zum Symbol der Bewegung wurde, ist bekannt für ihren Appell an Politik und Gesellschaft: „Hört endlich auf die Wissenschaft – und handelt!“

Dabei gebe es, so Nuhr, auch unter Klimawissenschaftlern zahllose gut begründete Szenarien und Lösungs-vorschläge. „Diese Tatsache zu erwähnen hat mir viel Ärger eingebracht. Es gibt weltweit – Stichwort cancel culture – zunehmend mächtiger werdende Versuche, kritische Stimmen mundtot zu machen. Die DFG hat sich dem nun angeschlossen. Das ist sehr bedenklich.“

Den Vergleich mit Verschwörungstheoretikern oder die Bezeichnung „Wissenschaftsleugner“ nennt Nuhr „ab-surd und beleidigend“. Wissenschaft sei die „einzige seriöse Möglichkeit, Erkenntnis zu generieren“. Er habe nie gegen „die Wissenschaft“ argumentiert, betont Nuhr. „Man etikettiert mich – völlig abwegig – als wissen-schaftsfeindlich, damit meine Stimme diskreditiert wird.“

Er habe das Gefühl, in der aktuellen Atmosphäre sei es nicht mehr möglich, unterschiedliche wissenschaftliche Thesen zu diskutieren, ohne dafür womöglich beschimpft, bedroht oder ausgegrenzt zu werden. „Es wird immer häufiger denunziert statt argumentiert.“

Seinen Standpunkt machte Nuhr auch in einem Schreiben an die DFG deutlich, das WELT vorliegt. „Sie ‚re-agieren auf Kritik‘. Mit anderen Worten: Die DFG unterwirft sich den Krawallmachern, die im Internet syste-matisch an der Unterdrückung kritischer Stimmen arbeiten, die in der Mitte des politischen Spektrums stehen“, heißt es in dem Brief. „Wohin steuert die DFG? Will sie ein Teil der Meinungswelle sein oder unabhängig? Mir gruselt es ein wenig.“

Die DFG bereut im Nachhinein offenbar ihre Entscheidung, Dieter Nuhr für ein Statement eingeladen zu haben. Die Gemeinschaft teilte WELT mit, man sei „offensichtlich zu einer falschen Gesamteinschätzung seiner Hal-tung gegenüber Wissenschaft und der Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse gekommen“.


Nota. - Das ist nicht neu, dass die rechte Reaktion an der Wissenschaft das bekämpft, was sie wissenschaftlich macht: nämlich das kritische Grundprinzip, das nicht bedeutet, dass jede*r, der* irgendwo ein Haar in der Suppe findet, laut krakeelen darf; sondern dass gelten soll nur, was auf seine Gründe hin überprüft wurde.

Letzteres bedeutet, dass nicht bloßes Lamento den Ausschlag gibt, sondern der unvermeidliche Kampf der Ar-gumente.

Doch Argumente hat die reaktionäre Rechte nie gemocht, und Kämpfen gehen sie solange aus dem Weg, wie sie nicht die geballte Macht der behördlichen Institutionen hinter sich wissen; aber dann - drücken sie ab!

Der Skandal ist nicht, dass es so ist, wie es ist; denn so war es immer. Der Skandal ist, dass sich das gesunde Volksempfinden wie zum Hohn heute auch noch als links bezeichnet.

Links, das bezeichnete, als das Wort aufkam, nämlich in der Deputiertenkammer der restaurierten französischen Monarchie, die paar, die gegen Wind und Wetter zu den freiheitlichen Prinzipien der Revolution hielten und zu allererst für das freie Wort eintraten. 

Denn Zensur war und ist immer ein Werkzeug in der Hand der Machthabenden.

Die offene Auseinandersetzung scheuen sie wie der Teufel das Weihwasser, und erachten die andere Meinung als sündhaften Frevel. Wo aber Beschwörungen nicht reichen, da wollen ßie wie das Wasser ßein, das weiche Wasser höhlt den Stein... 
JE





Dienstag, 28. Juli 2020

Chinas politisches System behindert seinen Aufstieg zur Wissenschaftsmacht.

aus nzz.ch, 28.07.2020,

Wie Chinas eisiges politisches Klima den weiteren Aufstieg als Technologiemacht gefährdet
In wenigen Jahrzehnten hat sich das Land zu einer führenden Forschungs- und Technologiemacht entwickelt. Doch die zunehmenden Einschränkungen der akademischen Freiheit bedrohen die Erfolge.

von Matthias Kamp

In einem vielbeachteten Paper hat der Council on Foreign Relations im vergangenen Jahr vor einem Abstieg der USA bei Forschung und Innovation (F&E) gewarnt. Vor allem bei neuen Technologien wie der künstlichen In-telligenz, so schrieb die amerikanische Denkfabrik, drohten die Vereinigten Staaten den Anschluss zu verlieren. Und die Autoren fügten hinzu: Die neue Führungsmacht auf diesen Gebieten könnte bald China heissen. Das Land von Microsoft, Apple und Amazon müsse dringend mehr Geld für F&E aufwenden, lautete das Fazit.

China hat seine F&E-Ausgaben in den Jahren zwischen 2007 und 2017 um jährlich durchschnittlich 17 Prozent gesteigert; in den USA waren es im selben Zeitraum nur 4,3 Prozent. Und die Erfolge der chinesischen Investi-tionen können sich sehenlassen. Ob bei der Qualität der Hochschulen, der Zahl der wissenschaftlichen Veröf-fentlichungen oder der Patentanmeldungen: In fast allen internationalen Rankings hat sich das Land emporge-arbeitet. Universitäten wie die Tsinghua oder die Peking University können es heute mit ihresgleichen im We-sten aufnehmen. Im Vergleich mit anderen Ländern auf demselben Einkommens- und Entwicklungsstand liegt China bei der Innovationskraft auf Rang eins.

Doch um an die globale Spitze zu gelangen, hat China noch ein gutes Stück Weg vor sich. So rangiert das Land trotz allen Fortschritten bei Forschung und Innovation immer noch hinter den OECD-Ländern. Erst knapp 20 Prozent aller chinesischen Arbeitskräfte haben einen Hochschulabschluss; im OECD-Durchschnitt sind es zwi-schen 30 und 40 Prozent. Die Bildungsausgaben liegen in China bei etwas mehr als 4 Prozent der Wirtschaftslei-stung; der Durchschnitt der OECD-Länder beträgt 5 Prozent. 

Die tief hängenden Früchte sind geerntet

Man muss davon ausgehen, dass die nächsten Stufen auf dem Weg an die globale Spitze der Wissenschaftsnatio-nen deutlich schwerer zu erklimmen sein werden als die bisherigen. Die tief hängenden Früchte, die sich vor allem mit viel öffentlichem Aufwand pflücken lassen, sind eingebracht.

Als echtes Problem könnten sich in den kommenden Jahren das zunehmend eisige politische Klima im Land und die damit einhergehenden Einschränkungen der akademischen Freiheit erweisen. So hatte in den Statuten von Universitäten gestanden, dass die Produktion akademischer Studien und die Führung der Hochschule un-abhängig zu erfolgen habe; mehrere Universitäten aber strichen auf Geheiss des Bildungsministeriums Ende 2019 diese Formulierung. Darunter war auch die traditionsreiche und prestigeträchtige Fu-Dan-Universität in Schanghai.

Spontan versammelten sich darauf in der Mensa der Fu-Dan-Universität Lehrkräfte und Studenten und stimmten die Hymne der Hochschule an. Um die «Freiheit der Gedanken» und die «akademische Unabhängigkeit» geht es in dem Text. Videos von der Versammlung verbreiteten sich in Windeseile in den Online-Foren – ein klares Zei-chen, für wie problematisch Studenten und Professoren das Vorgehen der Behörden halten. 

Die orthodoxe marxistische Lehre wurde wiederbelebt

Staats- und Parteichef Xi Jinping hat den Einfluss der KP auf die Hochschulen des Landes deutlich ausgebaut. Die orthodoxe marxistische Lehre wurde wiederbelebt, das akademische Leben eingeschränkt und das Internet noch schärfer gegen angeblich schädliche «westliche Ideen» abgeschottet.

Chinas Hochschulen müssten zu einem Bollwerk der Führerschaft der Partei werden, hat Xi seit seinem Amts-antritt 2012 immer wieder erklärt. Dieses Vorgehen ist einem Geist nicht förderlich, in dem Kreativität gedeiht, die besten Ideen miteinander wetteifern, Dinge infrage gestellt werden und unerbittlich nach der Wahrheit ge-sucht wird.

Dabei verschenkt China viel Potenzial. Die einheimischen Designer, Softwareentwickler und IT-Ingenieure verfügen über eine grosse Kreativität und viel Ideenreichtum. Liesse man ihnen die nötige Freiheit, käme der Westen noch viel schneller unter Druck.


Nota. - Dass die Bewohner Chinas Schlitzaugen haben und eine gelbliche Hautfarbe, ist kein Grund zur Besorg-nis. Wenn sie auch weit über eine Milliarde Menschen zählen und den Genpool der Gattung H. sapiens stärker prägen werden als irgend eine andere Ethnie, werden sich mit der weltweiten Vermischung physiognomischer Merkmale auch die Geschmäcker entwickeln und werden die Idiosynkrasien verblassen.

Mit der wirtschaftlichen Übermacht wäre es wie bei allen andern Ländern: Monopole sind wirtschaftlich immer schädlich und politisch gefährlich. Die Freiheit der Märkte ist gegen Jeden zu schützen, das hat mit der Nationa-lität nichts zu tun.

Anlass zur Besorgnis gibt es allerdings auf politisch-kulturellem Feld. Erstens steht hinter dem wirtschaftlichen Ausgreifen Chinas auf andere Länder ein unkontrillierter, unberechenbarer totalitärer Staatsapparat im Dienste reiner Machtpolitik. Die Märkte von ihr freizuhalten, ist nicht bloß ein wirtschaftliches, sondern ein politisches Problem.

Insbesondere, weil mit dem wirtschaftlichen Einfluss unvermeidlich eine kulturelle Ausstrahlung verbunden ist. Das ostasiatische Preußentum der Japaner ist an deren eigenen wirtschaftlichen Grenzen steckeneblieben. Kon-fuzianische, in Wahrheit moralfreie Katzbuckelei allein hätte China auf dem Weltmarkt nicht dahin bringen kön-nen, wo es heute ist. Hinzukommen musste Mao Zedongs totalitärer Voluntarismus und zynische Verachtung für die Ideen

Wie man eine revolutionäre und ergo fundamental kritische wissenschaftlichen Lehre* zu  einem Arkanum willkürlichsten Terrors umbildet, ist stalinistische Tradition: mit Gehirnwäsche, Lager und Genickschuss. Es tötet das geistige Leben und hat schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt. Wie es das Ge-sellschaftskorps von Chinas Staatsbeamten auf Dauer agil und unternehmerisch halten soll, ist ein Rätsel.

Aber unternehmerisch müssen sie sein - wenn anders nämlich der Staatskapitalismus, die Basis der bürokra-tischen Diktatur, weiterhin die Oberhand auf einem dynamischen Markt behaupten  - und China gegen die freiheitlichen Ideen von innen und außen immun halten soll.

Kampf der Kulturen? Allerdings. Auf dem Sedativum, dass "eine solche Hybride auf die Dauer nicht lebens-fähig ist", sollte man sich nicht zur Ruhe legen. Man hat schon Überraschungen erlebt.

*

Es sei bei dieser Gelegenheit nicht unerwähnt: Den größten Schaden für den Westen wird der Brexit nicht un-mittelbar durch seine wirtschaftlichen Nachteile für die Eurpoäische Union anreichte; die wird sie schon ver-kraften. Sondern mittelbar, indem er Großbritannien wirtschaftlicxh schwächt und ins Schlepptau der Amerika-ner oder, schlimmer, der Chinesen treibt. Das wäre eine entscheidende kulturelle Schwächung Europas in der Welt.

*) Eine Orthodoxie ist, G. Lukács zum Trotz, im Marxismus schlechterdings nicht möglich.
JE


 

Sonntag, 26. Juli 2020

Politischer Kitsch und die Ära der Demagogen.

aus nzz.ch, 25.07.2020

Wenn die Welt nur noch in Gut und Böse eingeteilt wird, schlägt die Stunde des politischen Kitsches
Je unübersichtlicher und komplexer die Welt, desto grösser der Drang zu moralischer Eindeutigkeit: Phrasen wie «Menschlichkeit kennt keine Grenzen» sind kitschig bis an die Schmerzgrenze. Dennoch bestimmen sie zunehmend das gesellschaftliche Handeln.

von Alexander Grau

Politischer Kitsch hat Hochkonjunktur. Sentimentale Phrasen, penetrante Gefühligkeit und betroffenheits-schwangere Wortblasen bestimmen den öffentlichen Diskurs. Nahezu im Wochenrhythmus formieren sich die Engagierten und Empörten zu Solidaritätsbekundungen, Lichterketten oder Mahnwachen, orchestriert von einer seltsamen Gemengelage aus Moralismus und Aggressivität.

Insbesondere bei Massenbewegungen wie #MeToo, Black Lives Matter oder Fridays for Future paart sich un-geachtet durchaus legitimer Anliegen missionarischer Eifer mit zur Schau getragener Dünnhäutigkeit. Politi-scher Kitsch wird hier zur rhetorischen Waffe, mit deren Hilfe jede Gegenposition als unmenschlich oder un-verantwortlich niedergewalzt wird, ohne dass man sich näher mit Argumenten auseinandersetzen müsste.

Dies gilt umso mehr, als Politik immer an Gefühle appelliert. Kitsch in der Politik ist unvermeidbar. Wer meint, allein mit rein rationalen Argumenten und kühler Sachlichkeit einen Wahlkampf zu gewinnen, der hat ihn schon verloren. Politiker, Parteien und Wahlkampfstrategen zielen daher nicht auf den Kopf, sondern vor allem auf den Bauch der Wähler.

Also erzählen Politiker gerne von ihrer Kindheit in einfachen Verhältnissen, streicheln süsse Kälbchen und her-zen publikumswirksam Kleinkinder. Das ist zunächst vollkommen legitim, wie jede andere Werbung auch. Poli-tische Inhalte verkaufen sich nach denselben Regeln wie Schokoriegel oder Waschmittel. 

Das kitschige Bewusstsein

Doch politischer Kitsch ist nicht einfach nur eine besonders emotionale oder rührselige Art politischer Kommu-nikation. Kitschphrasen von der Sorte «Menschlichkeit kennt keine Grenzen» sind mehr. Sie sind Ausdruck eines Denkens, das selber kitschig geworden ist. Emotionen und Rührseligkeiten sind hier nicht länger Posen des politischen Handelns, sondern strukturieren das politische Denken selbst. Das ist ein wesentlicher Unter-schied.

Politischer Kitsch ist Ausdruck eines kitschigen Bewusstseins, einer inneren Haltung, die sich der komplexen, vielschichtigen, mehrdeutigen Realität verweigert und sich diese süsslich zurechtlegt. Für dieses Bewusstsein sind Phantasien von einer heilen Welt keine verstiegenen Wunschträume, sondern realpolitisch anzustrebende Ziele. Aus realitätsuntauglichen Utopien werden so ernsthaft betriebene Politprojekte.

Das funktioniert nur, weil für das kitschige Denken die Welt im Kern eigentlich immer schon friedfertig und harmonisch ist. Störenfried dieser Harmonie ist der zivilisierte Mensch. Erst mit ihm, mit seiner Gier, seiner Brutalität und seinem Rationalismus, kommen Ungleichheit, Naturausbeutung, Sexismus und Rassismus in die Welt.

Deshalb gilt es, den vorzivilisatorischen Zustand zumindest ideologisch wiederherzustellen. Alle gedanklichen Kategorien, die geeignet sind, zu kategorisieren oder zu diskriminieren, sollen daher eliminiert werden. Da rationales Denken aber darin besteht, zu vergleichen und zu kategorisieren, richtet sich das kitschige Denken gegen die Rationalität selbst.

Die gedankliche Welt des kitschigen Bewusstseins erweist sich als die säkulare Neuauflage der Vorstellung vom verlorenen Paradies samt Sündenfall. Für das kitschige Bewusstsein ist die Welt eigentlich ein Hort des Friedens und der Achtsamkeit, der Gleichheit und Harmonie, der erst durch Gier, Egoismus und die zerstörerische Kraft kalter Rationalität aus dem Gleichgewicht gebracht wurde. 

Schwarz-Weiss-Denken

Motiviert ist diese Gedankenwelt durch eine radikale Ambivalenzverweigerung. Das Ergebnis ist ein manichä-isches Weltbild, in dem es nur Gut und Böse gibt, das Licht und die Finsternis. Im Alltag zeigt sich das kitschige Bewusstsein daher als Verfechter einer rigiden Gesinnungsethik. Was das Gute ist, ist aus seiner Sicht unmittel-bar evident. An ihm gilt es ohne Wenn und Aber festzuhalten. Kompromisse wären ein Verrat an der Sache, da sie dem Unrecht ein Stück entgegengehen und damit selbst Unrecht werden. Vielmehr gilt es, das Gute mit gro-ßer Entschlossenheit durchzusetzen, komme, was da wolle. Wer anderer Ansicht ist, zeigt damit nur seinen Egoismus und seine Unmenschlichkeit.

Doch gesinnungsethische Rhetorik ist in einer Gesellschaft, die sich für antiautoritär und zwanglosen hält, denkbar unpopulär. Zu sehr hat Gesinnungsethik den Beigeschmack von Pflicht, Gehorsam und Autorität, also von Werten, die in einer emotionsgesteuerten Selbstverwirklichungsgesellschaft wenig beliebt sind. Also wird der moralische Rigorismus in moralische Kitschphrasen gegossen.

Das klingt anheimelnder und wirkt sympathischer. Statt etwa klar zu sagen, dass menschliche Individuen sehr unterschiedliche Talente und Fähigkeiten haben, propagiert man lieber die totale Inklusion und träumt von der allgemeinen Verbrüderung, die niemanden ausschliesst und alle nivelliert. 

Massenkonsum der Moral

Umberto Eco hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Kitsch als kulturelles Phänomen ein Produkt der Massen-konsumgesellschaft ist, die Michelangelos «David» millionenfach in die Souvenirshops schwemmt und süß-liche Schlager in der Endlosschleife durch den Äther jagt. Ähnlich wie der ästhetische Kitsch funktioniert der moralische. Er macht moralische Normen massentauglich und vor allem massenkonsumierbar.

Moralische Vollendung ist nun nicht länger das Privileg einiger weniger Asketen und Altruisten. Moralischer Kitsch macht Moral zum Massengut. Jeder kann nun hochmoralisch sein, zu jeder Zeit. Es reicht aus, einfach die richtigen Phrasen abzusondern. Man muss nur für Frieden sein, für Toleranz und natürlich Haltung zeigen. Das alles kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion.

Um wirklich massenkonsumierbar zu sein, muss sich der moralische Kitsch allerdings politisch organisieren. So wird aus dem moralischen Kitsch schliesslich der politische. Da der etablierte demokratische Politbetrieb jedoch auf Kompromissen beruht und auf einem abwägenden Zweckrationalismus, also auf einer Praxis, die das kitschi-ge Bewusstsein verabscheut, formiert sich der politische Kitsch zunächst ausserhalb staatlicher oder parteipoliti-scher Institutionen.

Deshalb gedeiht er vor allem in NGO und Hilfsorganisationen, bei Stiftungen, Initiativen oder medial organi-sierten Massenprotesten. Hier formieren sich die Rührseligen und Gutmeinenden und ernennen sich selbst zur «Zivilgesellschaft», um unmissverständlich klarzumachen, dass es zu ihrem Standpunkt keine legitime Alterna-tive gibt.

Der Siegeszug des politischen Kitsches in den letzten Jahrzehnten ist das Produkt eines tiefgreifenden soziolo-gisch und kulturell bedingten Mentalitätswandels in den westlichen Wohlstandsgesellschaften. Was einmal im Namen der Aufklärung als Befreiung des Individuums aus sozialen Zwängen begann, verdirbt in der postindu-striellen Emanzipationsgesellschaft zu Eskapismus, Narzissmus und Sentimentalität.

Angesichts des Zerfalls traditioneller Institutionen und Überlieferungen bleibt dem verunsicherten Individuum nur noch seine eigene Gefühlswelt als Sinnstiftungsinstanz. Also verschreibt es sich einer unterkomplexen Mo-ral, die Halt, Orientierung und positive Gefühle verspricht. In der heterogenen Welt der späten Moderne wird dieses selbst geschnürte moralische Wohlfühlpaket zum emotionalen Anker.

Entsprechend verteidigt der verunsicherte Mensch unserer Gegenwart seine schlichten moralischen Gewisshei-ten mit grosser Aggressivität. Einseitigkeit wird zur Tugend, Intoleranz zum Gebot der Stunde. Denn nichts verunsichert das kitschige Bewusstsein mehr als der Pluralismus der Weltsichten und moralischen Urteile.

So wird der politische Kitsch zur Gefahr für die Demokratie. Er spaltet die Gesellschaft, verweigert die Kom-munikation und schwingt sich zur Inquisition politischer Korrektheit auf. Die Dialektik der Aufklärung treibt die liberale Vernunft in ihr Gegenteil. Was als Aufbruch des rationalen Subjekts in Freiheit und Selbstbestimmung begann, droht in jakobinischem Tugendeifer unterzugehen.

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und freier Autor. Zuletzt von ihm erschienen sind «Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung» (2017) und «Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität» (2019).


Nota. - Der ästhetische Kitsch ist ein Kind der industriellen Massenreproduktion und ist Urtyp allen Kitschs: In der bürgerlichen Gesellschaft zerfällt die Kunst in drei ungleiche Ströme - den bewährten Mainstream für den Durchschnittsbourgeois, die Avantgarde für die Elite und den Kitsch für alle, denen Konkurrenz zu aufreibend ist und die sich nach Harmonie und Frieden sehnen.

Die Urform politischen Kitschs ist AgitProp. Zuerst bedienten sich die aufständischen Bauern des eben von der Reformation erfunden Mediums der gedruckten Flugblätter, und seit in England das Wahlrecht ausgeweitet wurde, gehörten Fliegende Blätter zum politischen Alltag.

Ein Höhepunkt war die Französische Revolution. Flugblätter vereinfachen und spitzen zu. Marats berüchtigter Ami du Peuple war kein Lehrstück für dialektische Finesse, er war grob und hetzerisch.

Und dann erst die Arbeiterbewegung! Eine unterdrückte Minderheit, die noch darum kämpfen muss, überhaupt ein öffentliches Gehör zu finden, wird nicht flüstern und säuseln, sondern schimpfen und poltern.

Zwiespältig wurde es bei Käthe Kollwitz, die selbst keine Aktivistin war, ihr Publikum aber bei der Arbeiterbe-wegung und ihren Sympathisanten suchte und fand.

Mit dem Sieg der Totalitarismen war mit dem Zwiespalt Schluss. Stalinistischer Herrschaftsagitprop war genau-sowenig, wie Walter Benjamin beschönigte, eine "Ästhetisierung des Politischen", wie der nationalsozialisti-sche, sondern war totalitärer Pomp - schlicht und einfach.

Ist der woke Kitsch, den Alexanter Grau geißelt, totalitär? Eine kämpfende Partei, ja überhaupt eine besondere Meinung zu sein, streitet er ja ab und behauptet, dasjenige zu sein, was korrekterweise ein jeder zu meinen hätte, der nicht in böswilliges Wrongthink verbohrt ist; aber er versteckt sich leidenschaftlich gern in wirklichen und gefühlten Minderheiten, um sich als Opfer darzustellen. Einerseits totalitär im Anspruch, andererseits verfolgte Unschuld - wie das?

Es ist die gestern noch unwidersprechlich herrschende richtige Meinung, die nicht bemerken wollte und bis heu-te nicht bemerken will, dass ihre Selbstgefälligkeit eklig und ihre Gesinnungsschnüffelei abstoßend ist, die nicht wahrhaben will, dass sie den freiheitliche Rechtsstaat entwaffnet und untergraben hat, indem sie das Politische sterilisiert und abtötet.

Was für das Gemeinwesen das Beste und Richtigste ist, ist dasjenige, was am Politischen strittig ist, und was strittig ist, ist am Gemeinwesen das Politische. Und zwar öffentlich, denn für mehr ist das Gemeinwesen nicht zuständig. "Das Private ist politisch" war vor fünfzig Jahren der erste Spatenstich zur Grablegung des Politi-schen. Wer immer was bekennt, darf seither öffentliche Geltung in Anspruch nehmen; zuerst, wenn er angab, dass viele sein Dafürhalten teilen, inzwischen eher, wenn er sich als Minderheit bekennt - unter der Prämisse freilich, dass irgendwo jeder Ausländer ist und irgendeiner Minderheit ein jeder angehört; man muss es bloß ...bekennen.

Die andern sind noch schlimmer? Das sagen die andern auch. Darum weichen sie einander aus, und wo das nicht geht, machen sie es wie weiland die Spartaner in ihren Volksversammlungen: Sie tragen keine Gründe vor, sondern brüllen, so laut sie können, und gewonnen hat, wer die andern übertönt. Das ist das Ende des Politi-schen und die Stunde der Demagogie: des herzberührenden Kitschs im eigenen Sprengel, flankiert von hass-erfülltem Agitprop - auch im eignen Sprengel. Denn am liebsten bleiben sie unter sich.
JE

 



Samstag, 25. Juli 2020

Kann man Wichtigtuerei verbieten?

Hodler

Nach den wirtschaftlichen Interessen der nordstaatlichen Industriellen war der Roman Onkel Toms Hütte von Harriet Beecher-Stowe sicherlich der zweitwichtigste Anlass zur Abschaffung der Sklaverei in den USA. Ihm zu Ehren wur-de in Berlin-Zehlendorf erst ein Straße und dann der dortige U-Bahnhof benannt - weil im Voksmund ein dortiges Ausflugslokal so hieß.

Alan Posener schriebt dazu vorgestern in der Welt:

"Warum haben über 12.000 Leute eine Onlinepetition für die Umbenennung von Bahnhof, Straße und Viertel un-terschrieben? Initiator ist der Basketballspieler Moses Pölking. Der Begriff Onkel Tom bezeichne insbesondere in der afroamerikanischen Community einen Schwarzen, der sich anpasst, sich den Weißen anbiedert, sich selbst aufgibt, sagte Pölking der WELT. Deswegen sei er rassistisch.

Ähm, nein. Gerade deshalb ist der Begriff nicht rassistisch. Wenn ein radikaler schwarzer Bürgerrechtler wie Malcom X einen weniger radikalen schwarzen Bürgerrechtler wie Martin Luther King als Onkel Tom beschimpft, so ist das eine Sache innerhalb der afroamerikanischen Community."

Wichtigtuerei kann leider nicht verboten werden, so wenig wie Dummheit. Aber ächten, ihr Woken, öffentlich ächten kann man sie so gut wie alle Art von wrongthink


Man muss nur endlich damit anfangen. 


Mittwoch, 22. Juli 2020

Entweder Stalinist oder Kinderschänder.

aus FAZ.NET, 22. 7. 2020

Stalinismus-Forscher:  
Historiker Dmitrijew zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt
Der russische Historiker Jurij Dmitrijew erforscht Stalins Massenerschießungen. Nun wurde er zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Kindesmissbrauchs verurteilt. Der Vorwurf ist konstruiert und soll ihn stigmatisieren. 


Es kommt selten vor, dass Karelien, eine nordwestrussische Teilrepublik an der Grenze zu Finnland mit viel Wald und Wasser, im Zentrum der russischen Politik steht. Notorisch ist das Erbe des sowjetischen GULag und Stalins Staatsterror – und seit dreieinhalb Jahren das Vorgehen der Justiz gegen den Historiker Jurij Dmitrijew, das immer wieder Aufmerksamkeit auf Karelien lenkt, auch im Ausland, besonders aber natürlich in Russland, wo sich viele Schriftsteller, Historiker und viele andere Menschen für Dmitrijew einsetzen, mit der Region verbunden.

Auch am Mittwoch kamen wieder rund 200 seiner Unterstützer vor das Gerichtsgebäude in der Republikhaupt-stadt Petrosawodsk, wo ein neues Urteil gegen ihn verkündet wurde. Sein Fall hat Signalwirkung, denn es geht darum, wie Russland unter Präsident Wladimir Putin und dem mächtigen Geheimdienst, dem Putin entstammt, zivilgesellschaftliche Geschichtsaufklärer inhaftiert und stigmatisiert.

Dmitrijew ist dabei kein Einzelfall – aber sein Fall ist besonders schrecklich, denn er ist nicht das einzige Opfer. Der dürre, mittlerweile 64 Jahre alte Mann gehört zu der aussterbenden Generation von Russen, die das Ende der Sowjetunion als Möglichkeit sahen, Staatsverbrechen zu erforschen und zu sühnen. Das brachte Dmitrijew zu „Memorial“, deren Vertreter in Karelien er wurde. Die Organisation wird wegen ihrer Aufklärung über Stalins Terror und aktuelle Menschenrechtsverletzungen in Russland längst als „ausländischer Agent“ drangsaliert.

Dmitrijew hat in den karelischen Wäldern mehrere Orte von Massenerschießungen entdeckt, hat die Erinnerung an die Opfer der in Russland stets „Repressionen“ genannten Staatsterroraktionen geweckt und wachgehalten. Es besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass er wegen dieses Engagements seit Ende 2016 mit kurzen Unterbrechungen in Untersuchungshaft sitzt – und nicht wegen eines angeblichen sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter, der ihm jetzt, maximal rufschädigend, vorgeworfen worden ist.

Staatsanwaltschaft forderte 15 Jahre Haft

Am Mittwochnachmittag sprach das Gericht Dmitrijew dieses Vorwurfs schuldig; die Staatsanwaltschaft hatte 15 Jahre Haft gefordert, das Gericht verurteilte Dmitrijew zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft. In Anrechnung der Untersuchungshaft komme Dmitrijew im November frei, sagte dessen Anwalt. Das Stigma der Verurteilung soll aber bleiben. Es ist ein Urteil auf Wiedervorlage, gleichsam die Korrektur eines Wunders.

Als Dmitrijew vor dreieinhalb Jahre erstmals festgenommen wurde, lauteten die Vorwürfe „Benutzung einer Minderjährigen zur Herstellung von Pornographie“ und „lasterhafte Handlungen ohne Gewaltwendung“, später kam unerlaubter Waffenbesitz hinzu. Es ging um Fotos, die der Historiker von seiner 2005 geborenen Adoptivtochter gemacht hatte, um sich gegen mögliche Behördenvorwürfe zu wappnen, das dünne und oft kranke Kind werde vernachlässigt.

Dmitrijew, der auch eigene Kinder hat, war als kleiner Junge selbst aus einem Kinderheim adoptiert worden, wollte nach eigener Darlegung jemandem zurückgeben, was ihm seine Adoptiveltern Gutes getan hatten. Zum Vorwurf gemacht wurden Dmitrijew im ersten Prozess neun Fotos von insgesamt mehr als hundert, die Dmitrijew gemacht hatte und die das Kind im Alter von drei bis sieben Jahren zeigten.

Gutachter wiesen Vorwürfe zurück

Mehrere Gutachter wiesen die von den Ermittlern daraus konstruierten Kinderpornographie- und Pädophilie-Vorwürfe zurück. Im April 2018 wurde Dmitrijew nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes (es ging dabei um Teile eines Gewehrs ohne Patronen) verurteilt, im Kern aber freigesprochen. Das galt als Sensation, denn in Russland enden fast alle Strafverfahren unabhängig von der Beweislage mit Schuldsprüchen.

Die brüskierten Ermittler legten nach, warfen Dmitrijew nun „gewaltsame Handlungen sexuellen Charakters gegen eine Person unter vierzehn Jahren“ vor. Wieder handelt es sich um die Adoptivtochter. Das erste Urteil, der Freispruch, wurde aufgehoben und Dmitrijew kam schon gut zwei Monate nach dem Freispruch unter den neuen Vorwürfen neuerlich in Untersuchungshaft. Das begleitete das kremltreue Fernsehen, das seinem Publikum schon die Fotos des kleinen Mädchens gezeigt hatte, mit Falschmeldungen, Dmitrijew (der gar keinen Reisepass hat) habe sich nach Polen absetzen wollen. Wie schon der erste Prozess, fand auch der zweite unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Die „Nowaja Gaseta“ fand heraus, dass die Dmitrijew konkret vorgeworfenen Handlungen darin bestanden, seine Tochter im Lendenbereich berührt zu haben, um zu prüfen, ob ihre Unterwäsche trocken war, da sie einige Zeit ihr Bett nässte, was Ärzte bestätigt hatten. Zudem befanden demnach Sachverständige, welche die Verhörprotokolle analysierten, dass die Ermittler Druck auf das Mädchen ausgeübt und ihr inkriminierende Antworten gleichsam in den Mund gelegt hatten. Zudem, so die Zeitung, fielen Erfolge der Ankläger gegen Dmitrijew mit dem Karrierefortschritt eines ranghohen FSB-Agenten zusammen.

Dmitrijew entdeckte Massengrab

Der Geheimdienst FSB steht hinter dem Verfahren, was eine besonders bittere Note hat. Denn der FSB ist der Erbe der Täter, die unter anderem in den Wäldern Kareliens Tausende Menschen erschossen, deren Gräber Dmitrijew gefunden hat. Wie in Sandarmoch, einem 1997 von Dmitrijew entdeckten Massengrab, wo Stalins Henker 1937 und 1938 im „Großen Terror“ Tausende Russen, Ukrainer, Polen Deutsche, Georgier und Angehörige anderer Nationalitäten erschossen, deren Überreste Dmitrijew fand: auf den Rücken gebundene Hände, gebeugte Knie, Genickschuss.

Zum Vorgehen gegen Dmitrijew gehört, dass seit 2016 mit wachsender Vehemenz versucht wird, Sandarmoch umzudeuten zu einem Ort, an dem Finnen während des Zweiten Weltkrieges gefangene Rotarmisten erschossen hätten – Historiker weisen das zurück. Und vermutlich gehört dazu auch, dass ein langjähriger Mistreiter Dmitrijews im Mai vergangenen Jahres ebenfalls wegen Missbrauchs einer minderjährigen Person verurteilt worden ist: Der Historiker Sergej Koltyrin, der das Gemeindemuseum im Sandarmoch benachbarten Ort Medweschjegorsk leitete. Koltyrin, der neun Jahre Haft erhielt, starb Anfang April in einem Gefängniskranken-haus.

Dmitrijew wurde nun von den Vorwürfen aus dem ersten Prozess, die wieder erhoben wurden, freigesprochen (dieses Mal sogar von dem Vorwurf des unerlaubten Waffenbesitzes), aber wegen des angeblichen Missbrauchs verurteilt. Er soll vorerst im Petrosawodsker Untersuchungsgefängnis bleiben. Sollte Dmitrijew wirklich im November freikommen, würde die jährliche Gedenkveranstaltung in Sandarmoch am 5. August das vierte Mal in Folge ohne den Historiker stattfinden.

Dmitrijew will weiter Erinnerung wach halten

Dass er weitermachen will, steht außer Frage: In der Haft arbeitete Dmitrijew zäh und ungebrochen weiter, Anfang dieses Jahres erschien ein neues Buch von ihm zu Sandarmoch. Am 8. Juli wies der Historiker in seinem Schlusswort zum neuen Prozess wieder jede Schuld zurück und definierte nebenbei seine Vorstellung von Patriotismus: Er habe sich bemüht, seine Adoptivtochter zu einem würdigen Bürger und Patrioten zu erziehen, sagte Dmitrijew. Derzeit sei es in Russland üblich, nur auf militärische Erfolge stolz zu sein. Doch sein, Dmitrijews, Weg bestehe darin, jene Menschen „aus dem Nichts zurückzubringen, die durch die Schuld unseres eigenen Staats verschwanden, zu Unrecht verurteilt, erschossen, in Wäldern vergraben wurden wie streunende Tiere“.

Er sei vollkommen einverstanden mit dem Staat darüber, dass man an die im Krieg Gefallenen erinnern müsse. Doch müsse man auch an die Menschen erinnern, „die aufgrund den bösen Willens der Führer unserer Staates starben. Und genau das sehe ich als Patriotismus an.“ Die Prozesse gegen ihn seien „speziell dafür geschaffen, um meinen ehrlichen Namen in Verruf zu bringen und gleichzeitig die Gräber und Friedhöfe der Opfer von Stalins Repressionen in den Schatten zu stellen, die es mir gelang zu öffnen und an denen jetzt Leute zusammenkommen“. Es werde nicht gelingen, diese Erinnerung der Leute zu stoppen, auch wenn er nicht teilnehme, sagte Dmitrijew: „Sie verstummt nicht.“


Montag, 20. Juli 2020

Zeitenwende: die Schlacht von Courtrai.

aus welt.de, 15. 7. 2020                              Bei Courtrai erwiesen sich erstmals Bürgersoldaten zu Fuß gepanzerten Rittern überlegen

„Sporenschlacht“ 1302 
Bürgermilizen vernichteten Frankreichs arrogante Ritter
Um den Aufstand der Flamen niederzuschlagen, setzte Philipp IV. von Frankreich 1302 seine Ritter in Marsch. Bei Courtrai trafen sie auf das leicht bewaffnete Bürgerheer. Das machte wider Erwarten mit den Reitern kurzen Prozess.
 


Über ein halbes Jahrtausend, von Karl dem Großen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts, gelang es dem Ritter, seine privilegierte Stellung in der Gesellschaft des Mittelalters zu wahren. Das verdankte er vor allem seiner militärischen Leistungsfähigkeit. Als schwer gepanzerter Reiter war er die unumschränkte Macht auf dem Schlachtfeld, was es ihm zugleich ermöglichte, seine soziale Position zu verteidigen. Und als adliger Grundherr verfügte er über die Mittel für die notwendige Ausrüstung und das stete Training.

Diese Basis geriet im 14. Jahrhundert in die Schieflage. Der Grund war der ökonomische Wandel, der auch nördlich der Alpen Fahrt aufnahm. Die Städte gewannen einen Wirtschaftskraft, von der das Gros des Adels nur träumen konnte. Das musste der französische König Philipp IV., „der Schöne“, am 11. Juli 1302 schmerzlich erfahren. Ein Bürgeraufgebot der Städte Flanderns vernichtete sein Heer bei Courtrai (flämisch Kortrijk), im Nordwesten des heutigen Belgiens gelegen.

Der deutsche Historiker Hans Delbrück eröffnete in seiner großen „Geschichte der Kriegskunst“ (1900–1920) mit dieser Schlacht den Aufstieg der „Bürgerwehren und Landsturmaufgebote“. Denn Flandern war um 1300 die prosperierendste Region Europas. Die Tuchproduktion und der Handel hatten Städte wie Gent, Brügge und Antwerpen wohlhabend, ihre Bürgerschaft selbstbewusst gemacht. Aus ihrer Einwohnerschaft ließen sich starke Milizen rekrutieren, denen Übung ermöglicht und Ausrüstung zugestanden werden konnte.

Philipp IV. von Frankreich (reg. 1285-1314)

Der Reichtum des Landes weckte die Begehrlichkeiten des Königs von Frankreich. 1297 fiel er mit einem Heer in Flandern ein, erklärte den regierenden Graf Guido I. zum Verräter und setzte ihn gefangen. Französische Beamte übernahmen die Verwaltung, was vor allem hieß, dass sie die Steuern erhöhten.

Das führte 1302 zum Aufstand. Ein jüngerer Sohn des Grafen, Guido, und ein Enkel, Wilhelm von Jülich, stellten sich an seine Spitze. Am 18. Mai stürmten die Flamen das Rathaus von Brügge und massakrierten die königlichen Verwalter. Umgehend reagierte Philipp auf die „Brügger Morgenfeier“ und setzte ein Heer unter dem erfahrenen Grafen Robert von Artois in Marsch.

Belgium, Bruges, Statue of Jan Breydel and Pieter de Coninck, Market Square, Brugge Markt. In the center of the Market stands the statue of Jan Breydel and Pieter de Coninck. The statue not only honors these two leaders of the 'Battle of the Golden Spurs' which took place on the 11th of July 1302, it is perhaps more so a clear statement of the political leaders of the 1880's that the cause for Flemish emancipation was something that the Belgian government had to take notice of. Both Breydel and de Coninck participated in the 1302 uprising of the Flemish against the occupation by the French king, known as the Battle of the Golden Spurs'. This battle was also the central theme of the book 'De Leeuw van Vlaanderen' (the lion of Flanders) written by Hendrik Conscience in 1838. He romanticized the Flemish uprising and it became a symbol of the Flemish movement which fought for recognition of the Dutch language and Flemish culture in the French-language dominated Belgium of the 19th century. | Verwendung weltweit 
Jan Breydel und Pieter de Coninck, den Anführern der "Brügger Morgenfeier", wurde auf dem Marktplatz der Stadt ein Denkmal gesetzt
 
Die Quellen berichten von rund 5000 Reitern und 3000 Armbrustschützen und Speerträgern, die überwiegend in Italien und Spanien angeheuert worden waren. Wenn man davon ausgeht, dass ein Ritter etwa von zwei allenfalls leichtbewaffneten Knechten begleitet wurden, die seine Pferde betreuten und ihm in die Rüstung zu helfen hatten, dürfte die französische Kavallerie weniger als 2000 Mann umfasst haben.

Das flämische Aufgebot zählte vielleicht 10.000 Soldaten. Die wenigen Ritter, die der Adel des Landes stellte, saßen ab und reihten sich in die Schlachtreihe der Infanterie ein, für Delbrück ein „merkwürdiges Bündnis zwischen der Feudalität und der Demokratie, das an den Oberbefehl des Miltiades bei Marathon erinnert“ (wo 490 v. Chr. die Athener unter Führung des Aristokraten Miltiades ein Expeditionskorps des persischen Weltreiches geschlagen hatten).

Da alle Erfahrungen zeigten, dass Leichtbewaffnete zu Fuß gegen einen Schockangriff gepanzerter Reiter keine Chance hatten, gab sich Artois wenig Mühe, das Terrain vor Courtrai zu erkunden. Zudem drängte die Zeit. Die Flamen belagerten die französische Garnison in der Stadt. Dass sie ihre Reihen vor dem furtlosen Fluss Lys aufgestellt hatten, mag den königlichen Feldherrn in seiner Siegesgewissheit bestärkt haben. Sein Gegner stand buchstäblich mit dem Rücken zur Wand.

Das sahen auch Guido von Flandern und Wilhelm von Jülich so. Aber ihre Leute waren bereit, das Risiko auf sich zu nehmen und alles auf eine Karte zu setzen. Denn bei einer Niederlage drohte der endgültige Verlust der Freiheit. Aus diesem Grund erging auch der scharfe Befehl bei Todesstrafe, keine Gefangenen zu machen. Das widersprach den mittelalterlichen Gepflogenheiten, waren Lösegelder doch eine lukrative Einnahmequelle. Das Verbot sollte sicherstellen, dass die Schlachtlinie der Flamen intakt blieb. Eine weitere Maßnahme waren sogenannte Wolfsgruben, die in den sumpfigen Boden zu beiden Seiten des Gröningen-Baches getrieben wurden, hinter dem die Flamen Aufstellung genommen hatten.

Artois ließ seine Schützen den Kampf eröffnen. Ob es die Schüsse der erfahrenen Söldner waren oder einfach ein Trick, auf jeden Fall zogen sich die Flamen hinter den Gröningen zurück, sodass ihnen die Schützen nicht folgen konnten. Daraufhin gab der französische Feldherr seinen Rittern das Zeichen zum Sturm.
 
 Spitzen von zwei Goedendags im Museum von Courtrai/Kortrijk in Belgien 

Wie üblich nahmen die Reiter wenig Rücksicht auf die Leichtbewaffneten, die gleichwohl ein Hindernis darstellten. Dies, das sumpfige Ufer, der Bach selbst und die Wolfsgruben sorgten dafür, dass sich die Attacke an den Flanken bereits vor der gegnerischen Linie festlief. Nur im Zentrum erreichten die Franzosen die feindliche Linie, die aber standhielt, bis eine Abteilung Ritter, die in Reserve gehalten worden war, die Lage stabilisierte.

Dann geschah etwas, was es bis dahin noch nicht gegeben hatte. Die flämischen Bürgersoldaten gingen zum Angriff über. Da sie auf menschliche Beute verzichteten, sondern ihre Ordnung beibehielten, kam ihre entsetzliche Waffe dabei voll zur Geltung, der Goedendag. Der Chronist Wilhelm Guiart beschreibt sie als „Große Schäfte schwer beschlagen. Mit einem langen, vorne spitzen Eisen.“ Mit einer Länge von bis zu 150 Zentimetern konnte der Goedendag – ähnlich der Hellebarde der Schweizer Reisläufer – sowohl zum Stoß als als auch zum Schlag eingesetzt werden.

Gegen Panzerreiter, die ihre Formation aufgegeben hatten und einzeln von mehreren Fußsoldaten attackiert wurden, erwies sich der Goedendag als höchst wirkungsvolle Waffe. Mit ihm konnte das Pferd getötet oder der Ritter zu Boden geschlagen werden. Die wuchtige Spitze aus Eisen durchdrang auch starke Panzerungen.

Ein weiterer Schlüssel zum Erfolg war die Disziplin. Guido und Wilhelm war es gelungen, die Milizen in dieser Taktik zu schulen. Das erklärt auch, warum die Schlachtreihe im Zentrum dem Angriff der Ritter standhielt und die Angriffe von den Flanken koordiniert vorgetragen wurden. 

So stellte man sich im 19. Jahrhundert das Gemetzel bei Courtrai/Kortrijk vor – Gemälde von Nicaise de Keyser (1813–1887) 
Gemälde von Nicaise de Keyser (1813–1887)

Die Verluste der Franzosen waren entsetzlich. Rund 700 Ritter sollen gefallen sein, darunter Robert von Artois und zwei Marschälle von Frankreich. Die Sieger sammelten mehr als 500 vergoldete Sporen ein und brachten sie in die Liebfrauenkirche von Courtrai. Als „Guldensporenslag“ wurde der 11. Juli im 19. Jahrhundert zum Nationalfeiertag der Flamen.

Wenige Jahre später, 1315, bewiesen die Eidgenossen gegen die Habsburger bei Morgarten, dass der Sieg von leicht bewaffneten Fußsoldaten über Ritter kein Einzelfall bleiben sollte. Während die Schweizer zur gefürchteten Militärmacht aufstiegen, dezimierten englische Bogenschützen im Hundertjährigen Krieg wiederholt die französische Ritterschaft. Ab 1420 zeigten schließlich die böhmischen Hussiten, dass das Machtmonopol der Panzerreiter endgültig gebrochen war. Den Massenheeren und ihren Feuerwaffen gehörte die Zukunft.