Unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche charakterlich?
Wie wir wissen, ist es noch immer nicht ganz gelungen, die Lebensverhältnisse zu beiden Seiten der alten Grenzen einander anzugleichen. Äußert sich das auch in der Persönlichkeit der Menschen?
Die Erfahrungen der Menschen in der alten Bundesrepublik und in der DDR während der deutschen Teilung prägen bis heute, drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, das Bild von uns selbst und den jeweils anderen »drü-ben«. Im Herbst 1989 trafen zwei Welten aufeinander, die, gemessen an der Dauer der Teilung, nur wenig Zeit hatten, um sich aneinander zu gewöhnen. In sprachlichen Abgrenzungen vom »Jammerossi« oder »Besserwes-si« finden alte Vorbehalte teils immer noch Ausdruck. Das Klischee vom Ostdeutschen ist dabei eines vom eher bescheidenen, stillen sowie verbitterten Bürger; den Westdeutschen wird dagegen Arroganz und ein Hang zur Selbstdarstellung, allerdings auch mehr Durchsetzungsvermögen nachgesagt. Inwiefern unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche aber tatsächlich hinsichtlich ihres Charakters?
Dazu gibt es überraschend wenige empirisch-psychologische Studien. Die Wirtschaftswissenschaftler Tim Friehe, Markus Pannenberg und Michael Wedow versuchten 2015, Persönlichkeitseigenschaften von Ost- und Westdeutschen aus den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), einer regelmäßigen repräsentativen Bevölkerungsumfrage, abzuleiten. Demnach zeigen Ostdeutsche eine geringere »internale Kontrollüberzeu-gung« – das heißt, sie nehmen ihr Leben im Schnitt als weniger vom eigenen Verhalten beeinflusst und folglich als schlechter kontrollierbar wahr. Friehe und seine Kollegen fanden zudem heraus, dass Ostdeutsche tendenziell gewissenhafter und verträglicher im Umgang mit anderen auftreten, zugleich aber nicht so offen für Neues sind wie Westdeutsche. Diese Befunde decken sich mit einer früheren Studie des Leipziger Soziologen Elmar Brähler. In dessen Untersuchung von 2002 waren Ostdeutsche ebenfalls etwas verträglicher und gewissenhafter als West-deutsche.
Eine mögliche Erklärung liefern die Lebensbedingungen in der ehemaligen DDR. Auf Grund der Mangelwirt-schaft waren vorausschauende Planung und penible Organisation des eigenen Lebens besonders wichtig. Gute Beziehungen zu anderen halfen dabei, Lieferengpässe zu überbrücken. Wer jemanden kannte, der etwas repa-rieren oder besorgen konnte, war im Vorteil. Ein hohes Maß an Verträglichkeit erleichterte es den Ostdeutschen somit, im Alltag über die Runden zu kommen. Erstaunlicherweise haben solche gesellschaftlichen Prägungen über längere Zeit Bestand als die jeweiligen Lebensumstände selbst. Das hat vermutlich damit zu tun, dass sie in der Rückschau der Menschen auf ihr Leben immer wieder aktualisiert werden.
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Und wie sieht es mit dem Bild vom selbstverliebten Wessi aus? Auch in Sachen Narzissmus lassen sich bis heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, Unterschiede ausmachen. Im ostdeutschen Realsozialismus bis 1990 herrschte eine kollektivistische Denkweise vor – der Einzelne ordnete sich den Interessen der Gemein-schaft unter. Im kapitalistischen Westen dagegen dominierte eine individualistische Prägung, die persönliche Ziele, Bedürfnisse und Wünsche über Gruppeninteressen stellt. Eine Studie unseres Berliner Teams von 2018 ergab, dass Menschen, die im Kapitalismus aufgewachsen sind, einen stärkeren Hang zum Narzissmus zeigen als in der DDR sozialisierte Deutsche. Unter jüngeren Leuten, die erst nach der Wende eingeschult wurden, waren zwischen Ost und West dagegen keine Abweichungen im Narzissmus mehr zu verzeichnen.
Wie wir wissen, ist es noch immer nicht ganz gelungen, die Lebensverhältnisse zu beiden Seiten der alten Grenzen einander anzugleichen. Laut Experten wie dem Soziologen Brähler hat auch das politische Geschehen seit der Wiedervereinigung gewisse Unterschiede gefördert: So entstand die ostdeutsche »Erinnerungsgemein-schaft« mit ihren teils nostalgischen Zuschreibungen erst nach der Wendezeit. Die jahrzehntelange Teilung hat offenbar eine Mauer in den Köpfen hinterlassen, die deutlich langsamer bröckelt als die echte Grenzmauer.
Nota. - Dem ist wenig hinzuzufügen. Allerdings muss man Ausdrücke wie Narzissmus und Bescheidenheit cum grano salis nehmen. Wer in Verhältnissen großgeworden ist, wo erstens vieles unsicher ist und zweitens vom eigenen Einsatz abhängt, macht sich um sich selbst mehr Gedanken als ums große Ganze. Wer andererseits all-überall in Knappheit lebt, der er sich niemals entziehen kann, kann sie sich allenfalls schönreden. Aber das muss ihn nicht davon abhalten, pausenlos zu nörgeln: Das mag ihm gar zu einer zweiten Natur werden.
JE
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