Mutter und Söhne
Diaspora des Balkans zur Zeit der osmanischen Eroberung
Angehörige der politischen und geistlichen Eliten aus Byzanz und dem Balkan sammelten sich an den europäischen Höfen
Diaspora des Balkans zur Zeit der osmanischen Eroberung
von Oliver Jens Schmitt
"Araniti, Diener Eurer Herrschaft, ist vor Seine Heiligkeit getreten und hat zweimal vor besagter Heiligkeit in Anwesenheit vieler ehrwürdiger Herren das Vaterunser und das Ave Maria auf Latein aufgesagt, wohl auch, glaube ich, eine schöne Rede in ebenfalls lateinischen Versen. Seine Heiligkeit wünschte, dass er (also Despinas Sohn) Albanisch, Griechisch, Slawisch und Latein spreche, und zusammen mit den Herren Kardinälen haben sie ihn am Tag des hlg. Johannes sehr gefeiert; daher ist Seine Heiligkeit geneigt, für unseren ehrenhaften Lebens-unterhalt zu sorgen ... morgen werden wir wissen, wie viel er uns monatlich anzuweisen beschlossen hat. Wir hoffen, Geld zu bekommen."
Araniti und ihr Sohn gehören zu den zehntausenden Menschen, die im Spätmittelalter vor dem Ansturm der Osmanen nach Italien und nach Ungarn flohen. Ihre Nachkommen leben heute noch als anerkannte Minderhei-ten in ihren Zufluchtsländern: die Arbëresh oder Italo-Albaner in Sizilien, Kalabrien und Apulien, die Burgen-landkroaten in Österreich. Politische Diasporagruppen haben seit dem 19. Jahrhundert die Geschichte des Balkans entscheidend geprägt und aus der Ferne Aufstände und nicht selten in der Folge die Gründung von Staaten vorbereitet: Ein über halb Europa verbreiteter Geheimbund hatte 1821 den Griechischen Aufstand gegen das Osmanische Reich geplant. Rund 170 Jahre später organisierten Kosovoalbaner von der Diaspora aus den Widerstand gegen die serbische Repression im Kosovo.
Die Familie Araniti
Kaum bekannt ist aber, dass schon am Ende des Mittelalters eine politische Diaspora aus dem Balkan im südlichen und zentralen Europa entstanden ist, Menschen, die sich mit den osmanischen Eroberern nicht arrangieren wollten und vom Exil aus Widerstand gegen die neuen Machthaber propagierten. Es handelte sich um Angehörige der politischen und geistlichen Eliten aus Byzanz, Serbien, Bosnien, Albanien und den griechischen Regionen, die sich an den europäischen Höfen sammelten.
Dass ihre Geschichte aber alles andere als geradlinig und eindeutig verlief, wird am Beispiel der Araniti deutlich. Sie stehen stellvertretend für andere Familien, die sich ähnlich verhielten. Die Araniti führen sich bis ins 11. Jahrhundert zurück als orthodoxe Adlige im heutigen Mittelalbanien. Im 15. Jahrhundert stand das Oberhaupt der Familie, Araniti Komino, an der Spitze eines Aufstands gegen die Osmanen (1433–1436), der ihm europaweit Ruhm eintrug. Er war zweimal verheiratet, in zweiter Ehe mit Pietrina Francone, Tochter eines italienischen Freibeuters in der südgriechischen Peloponnes. Diese Frau erhielt den griechischen Namen Despina. Als Gräko-Italienerin integrierte sie sich leicht in das vielsprachige Milieu des albanischen Adels. Sie war zunächst Zeugin, wie ihr Mann von seinem Schwiegersohn Skanderbeg immer mehr verdrängt wurde und wie die Osmanen das Familienland, das am Hauptaufmarschweg der Sultane, der Via Egnatia, im Tal des Shkumbin lag, schwer verwüsteten. Schon ihr Mann hatte sich bald an Venedig, bald an Neapel um Hilfe gewandt. Als 1466 der osmanische Sultan Mehmed II. Mittelalbanien schwer verwüstete, ergriff Despina mit ihren Kindern die Flucht.
Rozafa
Wie viele andere Flüchtlinge aber ging sie zunächst nicht in die Ferne, sondern suchte Schutz in einer sicheren Festung in der Nachbarschaft, das war die venezianische Stadt Shkodra in Nordalbanien. Despina und viele andere Adlige wollten vor allem rasch wieder in ihre alten Gebiete zurückkehren. Ein definitives Exil strebten sie nicht an. Die Umstände zwangen sie dazu. Despina, damals schon Witwe, entwickelte sich in der Not zu einer tatkräftigen Politikerin: Sie reiste mit einem Teil ihrer Kinder nach Venedig, wo sie mit dem Senat, dem entscheidenden politischen Gremium, verhandelte. Sie hatte eine Morgengabe mitgebracht, den Übertritt eines zahlenstarken nordalbanischen Stammes auf die Seite Venedigs, den sie im Gebirge ausverhandelt hatte.
Politische Risse
Auf der anderen Seite war sie mit einem Problem konfrontiert, das viele Adelsfamilien des Balkans betraf: Einer ihrer Söhne war zu den Osmanen übergelaufen und griff mit osmanischen Truppen Stellungen Venedigs an. Despina selbst warnte die italienischen Eliten, die Osmanen würden den regionalen Adligen vorteilhafte Angebote unterbreiten. Tatsächlich setzte sich die osmanische Elite bis hinauf zu den Großwesiren maßgeblich aus übergelaufenen Balkanchristen zusammen, die zum Teil zum Islam übergetreten waren, zum Teil Christen geblieben waren. Der politische Riss – für oder wider die Osmanen – lief oft mitten durch die Familien, selten aber beschreibt eine Zeitgenossin das Dilemma so genau wie Despina: Flucht und schwierige Integration im Exil oder aber Übergehen zu den Osmanen, in der Regel Übertritt zum Islam, aber in einer ersten Phase Bewahrung des Besitzes und Aussicht auf eine Karriere bei den neuen Herren.
Despina entschied sich für die antiosmanische Option, und das bedeutete Exil. In ihrem Fall auf hohem Niveau. In Venedig wurde sie als Staatsgast behandelt, mit teuren Weinen und Speisen bewirtet, im Palazzo eines mächtigen Patriziers beherbergt. Der venezianische Staat richtete ihr und ihren Söhnen ein Jahrgeld aus, denn die Flüchtlinge hatten in der alten Heimat noch Einfluss und konnten nach Abzug des Sultans eventuell dorthin zurückkehren. Von Venedig aus spann Despina gleich ihr Netz in die Welt des europäischen Adels.
Wie sie in Kontakt mit Barbara Gonzaga von Mantua kam, ist nicht bekannt. Ebenso wie Despina keine Albanerin, war Barbara keine Italienerin, sondern entstammte der Dynastie der Markgrafen von Brandenburg. Die beiden Frauen begegneten sich persönlich, und ein intensiver Briefwechsel begann. Despina schilderte ihre Geldnöte, empfahl ihre schöne achtzehnjährige Tochter als Braut – ideal wäre ihrer Meinung nach eine Verbindung mit den steinreichen Herzögen von Mailand aus der Familie der Sforza –, wirkte aber auch als Kulturmittlerin: Die Markgräfin von Mantua bat um Reis und Stoffe aus dem Balkan. Reis war erst im späten 14. Jahrhundert auf den Balkan gelangt und breitete sich mit der osmanischen Herrschaft aus, als Grundnahrungsmittel unter anderem der Elitetruppe der Janitscharen.
Rozafa
An der Spitze
Von Venedig aus reiste Despina nach Mantua, traf den Markgrafen und ließ sich von diesem Empfehlungsschreiben an den Papst, führende Kardinäle, darunter einen prominenten Flüchtling aus Byzanz: Kardinal Bessarion, ausstellen. Die Audienz wurde mit dem Hinweis beschleunigt, die minderjährigen Kinder Despinas könnten nach Albanien heimkehren und zum Islam abfallen. Es folgte der denkwürdige Auftritt an der Kurie, wo Despinas Sohn Proben seiner Sprachkenntnisse ablegte – und zeigte, dass der albanische Adel neben Albanisch auch Griechisch, Latein sowie Slawisch beherrschte.
Getrübt wurde dieser Erfolg von dem Verhalten ihrer Kinder und ihrer Gefolgschaft in Venedig: In Albanien war Skanderbeg gestorben, und ihre in Venedig zurückgebliebenen Angehörigen waren nach Hause aufgebrochen, um das verlorene Familiengut zurückzugewinnen. Despina geriet in eine schwierige Lage. Allein mit einem Sohn, ohne Ressourcen, da Venedig wegen des teuren Kriegs gegen die Osmanen sparen musste, setzte sie auf ihre Beziehungen zum Papst und nun auch zum Kaiser, damals der Habsburger Friedrich III. Über ihr Beziehungsnetzwerk erreichte sie es, dass sie dem Kaiser in Ferrara vorgestellt wurde. Zwar konnte ihr der stets klamme Herrscher nichts anbieten. Dennoch, die Exilpolitikerin hatte es geschafft, innerhalb kurzer Zeit bei den Spitzen der abendländischen Welt vorstellig zu werden.
Sie bereitete ihrem Sohn Konstantin den Boden für eine glänzende Laufbahn, die ihn in den Dienst von Friedrichs III. Sohn Kaiser Maximilian I. führen sollte. Konstantin Araniti stilisierte sich zum Haupt der politischen Balkandiaspora in Renaissanceeuropa und war eine am ganzen Kontinent bekannte Gestalt. Er wurde in das venezianische Patriziat aufgenommen und zum päpstlichen Protonotar ernannt. Während er Karriere im System von Renaissanceeuropa machte und für seine pompösen Auftritte bekannt wurde, setzte sein Bruder die Karriere im osmanischen Dienst fort, bis er 1485 von rebellierenden christlichen Albanern erschlagen wurde.
Prägende Balkandiaspora
Das Beispiel der Araniti zeigt mehrerlei: die enge Verflechtung der Eliten des Balkans sowohl mit der Welt des katholischen Europa wie auch des osmanischen Reiches; und das Ausverhandeln der eigenen Stellung in einer Welt, die sich durch die osmanische Eroberung des Balkans radikal wandelte. Die Familie entschied weniger nach ideologischen als nach praktischen Gesichtspunkten. Den meisten schien die Rückkehr in das osmanische Albanien als sicherer als das Exil – oder sie setzten gleich auf die osmanische Karte. Im Exil aber kam es darauf an, sich auf höchstem Niveau ein Kontaktnetz aufzubauen.
Blick von der Festung Rozafa
Despina gelang dies wie kaum einer anderen Exilpolitikerin. Eine politisch führende Rolle jenseits des Familieninteresses aber strebte sie nicht an. Dies übernahmen Männer ohne Familien, vor allem die beiden aus Byzanz stammenden und zur römischen Kirche übergetretenen Kardinäle Isidor von Kiew und Bessarion, letzterem war Despina empfohlen worden. Besonders Bessarion prägte als wortgewaltiger Redner das Bild der Osmanen in Europa und rief unermüdlich zu einem christlichen Gegenangriff und zur Rückeroberung Konstantinopels auf. Dies ließ sich nicht verwirklichen, und das katholische Europa musste sich aus der Defensive heraus mit dem osmanischen Reich arrangieren. Seine Höfe aber blieben bevölkert von Emigranten aus dem Balkan, die den europäischen Monarchen Kaiser- und Königskronen auf dem Balkan versprachen, wenn man ihnen nur das nötige Geld geben würde, um Aufstände auszulösen, zu denen die christliche Mehrheitsbevölkerung am Balkan stets bereit sei.
Die politische und intellektuelle Balkandiaspora hat die Aufnahmeländer geprägt: serbische Adlige, die die ungarische Grenze verteidigten; Byzantiner, die die antike griechische Kultur im Abendland bekannt machten; albanische und griechische Adlige, die in die Kriegsdienste von Venedig, Spanien und der Kurie traten. Und nicht wenige von ihnen behielten Kontakte in die alte Heimat, wo die Verwandtschaft unter muslimischem Namen Dienst im osmanischen Reich tat, Sprache und Familiennetzwerk aber nicht vergessen hatte. In der politischen Grauzone zwischen katholischem Europa und osmanischem Balkan wirkten so Männer und Frauen aus jenen Familien als Mittler und Agenten, deren alte Herrschaften von den Sultanen erobert worden waren.
Oliver Jens Schmitt ist Professor für Geschichte Südosteuropas an der Universität Wien. Er leitet den Forschungsbereich Balkanforschung des Instituts für die Erforschung der Habsburgermonarchie und des Balkanraums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Zuletzt veröffentlicht: "Der Balkan im 20. Jahrhundert. Eine postimperiale Geschichte".
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