Wenn die Welt nur noch in Gut und Böse eingeteilt wird, schlägt die Stunde des politischen Kitsches
Je
unübersichtlicher und komplexer die Welt, desto grösser der Drang zu
moralischer Eindeutigkeit: Phrasen wie «Menschlichkeit kennt keine
Grenzen» sind kitschig bis an die Schmerzgrenze. Dennoch bestimmen sie
zunehmend das gesellschaftliche Handeln.
Politischer Kitsch hat Hochkonjunktur. Sentimentale Phrasen, penetrante Gefühligkeit und betroffenheits-schwangere Wortblasen bestimmen den öffentlichen Diskurs. Nahezu im Wochenrhythmus formieren sich die Engagierten und Empörten zu Solidaritätsbekundungen, Lichterketten oder Mahnwachen, orchestriert von einer seltsamen Gemengelage aus Moralismus und Aggressivität.
Insbesondere
bei Massenbewegungen wie #MeToo, Black Lives Matter oder Fridays for
Future paart sich un-geachtet durchaus legitimer Anliegen missionarischer
Eifer mit zur Schau getragener Dünnhäutigkeit. Politi-scher Kitsch wird
hier zur rhetorischen Waffe, mit deren Hilfe jede Gegenposition als
unmenschlich oder un-verantwortlich niedergewalzt wird, ohne dass man
sich näher mit Argumenten auseinandersetzen müsste.
Dies
gilt umso mehr, als Politik immer an Gefühle appelliert. Kitsch in der
Politik ist unvermeidbar. Wer meint, allein mit rein rationalen
Argumenten und kühler Sachlichkeit einen Wahlkampf zu gewinnen, der hat
ihn schon verloren. Politiker, Parteien und Wahlkampfstrategen zielen
daher nicht auf den Kopf, sondern vor allem auf den Bauch der Wähler.
Also erzählen Politiker gerne von ihrer Kindheit in einfachen Verhältnissen, streicheln süsse Kälbchen und her-zen publikumswirksam Kleinkinder. Das ist zunächst vollkommen legitim, wie jede andere Werbung auch. Poli-tische Inhalte verkaufen sich nach denselben Regeln wie Schokoriegel oder Waschmittel.
Das kitschige Bewusstsein
Doch
politischer Kitsch ist nicht einfach nur eine besonders emotionale oder
rührselige Art politischer Kommu-nikation. Kitschphrasen von der Sorte
«Menschlichkeit kennt keine Grenzen» sind mehr. Sie sind Ausdruck eines
Denkens, das selber kitschig geworden ist. Emotionen und Rührseligkeiten
sind hier nicht länger Posen des politischen Handelns, sondern
strukturieren das politische Denken selbst. Das ist ein wesentlicher
Unter-schied.
Politischer
Kitsch ist Ausdruck eines kitschigen Bewusstseins, einer inneren
Haltung, die sich der komplexen, vielschichtigen, mehrdeutigen Realität
verweigert und sich diese süsslich zurechtlegt. Für dieses Bewusstsein
sind Phantasien von einer heilen Welt keine verstiegenen Wunschträume,
sondern realpolitisch anzustrebende Ziele. Aus realitätsuntauglichen
Utopien werden so ernsthaft betriebene Politprojekte.
Das
funktioniert nur, weil für das kitschige Denken die Welt im Kern
eigentlich immer schon friedfertig und harmonisch ist. Störenfried
dieser Harmonie ist der zivilisierte Mensch. Erst mit ihm, mit seiner
Gier, seiner Brutalität und seinem Rationalismus, kommen Ungleichheit,
Naturausbeutung, Sexismus und Rassismus in die Welt.
Deshalb
gilt es, den vorzivilisatorischen Zustand zumindest ideologisch
wiederherzustellen. Alle gedanklichen Kategorien, die geeignet sind, zu
kategorisieren oder zu diskriminieren, sollen daher eliminiert werden.
Da rationales Denken aber darin besteht, zu vergleichen und zu
kategorisieren, richtet sich das kitschige Denken gegen die Rationalität
selbst.
Die
gedankliche Welt des kitschigen Bewusstseins erweist sich als die
säkulare Neuauflage der Vorstellung vom verlorenen Paradies samt
Sündenfall. Für das kitschige Bewusstsein ist die Welt eigentlich ein
Hort des Friedens und der Achtsamkeit, der Gleichheit und Harmonie, der
erst durch Gier, Egoismus und die zerstörerische Kraft kalter
Rationalität aus dem Gleichgewicht gebracht wurde.
Schwarz-Weiss-Denken
Motiviert
ist diese Gedankenwelt durch eine radikale Ambivalenzverweigerung. Das
Ergebnis ist ein manichä-isches Weltbild, in dem es nur Gut und Böse
gibt, das Licht und die Finsternis. Im Alltag zeigt sich das kitschige
Bewusstsein daher als Verfechter einer rigiden Gesinnungsethik. Was das
Gute ist, ist aus seiner Sicht unmittel-bar evident. An ihm gilt es ohne
Wenn und Aber festzuhalten. Kompromisse wären ein Verrat an der Sache,
da sie dem Unrecht ein Stück entgegengehen und damit selbst Unrecht
werden. Vielmehr gilt es, das Gute mit gro-ßer Entschlossenheit
durchzusetzen, komme, was da wolle. Wer anderer Ansicht ist, zeigt damit
nur seinen Egoismus und seine Unmenschlichkeit.
Doch
gesinnungsethische Rhetorik ist in einer Gesellschaft, die sich für
antiautoritär und zwanglosen hält, denkbar unpopulär. Zu sehr hat
Gesinnungsethik den Beigeschmack von Pflicht, Gehorsam und Autorität,
also von Werten, die in einer emotionsgesteuerten
Selbstverwirklichungsgesellschaft wenig beliebt sind. Also wird der
moralische Rigorismus in moralische Kitschphrasen gegossen.
Das
klingt anheimelnder und wirkt sympathischer. Statt etwa klar zu sagen,
dass menschliche Individuen sehr unterschiedliche Talente und
Fähigkeiten haben, propagiert man lieber die totale Inklusion und träumt
von der allgemeinen Verbrüderung, die niemanden ausschliesst und alle
nivelliert.
Massenkonsum der Moral
Massenkonsum der Moral
Umberto Eco hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Kitsch als kulturelles Phänomen ein Produkt der Massen-konsumgesellschaft ist, die Michelangelos «David» millionenfach in die Souvenirshops schwemmt und süß-liche Schlager in der Endlosschleife durch den Äther jagt. Ähnlich wie der ästhetische Kitsch funktioniert der moralische. Er macht moralische Normen massentauglich und vor allem massenkonsumierbar.
Moralische Vollendung ist nun nicht länger das Privileg einiger weniger Asketen und Altruisten. Moralischer Kitsch macht Moral zum Massengut. Jeder kann nun hochmoralisch sein, zu jeder Zeit. Es reicht aus, einfach die richtigen Phrasen abzusondern. Man muss nur für Frieden sein, für Toleranz und natürlich Haltung zeigen. Das alles kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion.
Um wirklich massenkonsumierbar zu sein, muss sich der moralische Kitsch allerdings politisch organisieren. So wird aus dem moralischen Kitsch schliesslich der politische. Da der etablierte demokratische Politbetrieb jedoch auf Kompromissen beruht und auf einem abwägenden Zweckrationalismus, also auf einer Praxis, die das kitschi-ge Bewusstsein verabscheut, formiert sich der politische Kitsch zunächst ausserhalb staatlicher oder parteipoliti-scher Institutionen.
Deshalb gedeiht er vor allem in NGO und Hilfsorganisationen, bei Stiftungen, Initiativen oder medial organi-sierten Massenprotesten. Hier formieren sich die Rührseligen und Gutmeinenden und ernennen sich selbst zur «Zivilgesellschaft», um unmissverständlich klarzumachen, dass es zu ihrem Standpunkt keine legitime Alterna-tive gibt.
Der Siegeszug des politischen Kitsches in den letzten Jahrzehnten ist das Produkt eines tiefgreifenden soziolo-gisch und kulturell bedingten Mentalitätswandels in den westlichen Wohlstandsgesellschaften. Was einmal im Namen der Aufklärung als Befreiung des Individuums aus sozialen Zwängen begann, verdirbt in der postindu-striellen Emanzipationsgesellschaft zu Eskapismus, Narzissmus und Sentimentalität.
Angesichts des Zerfalls traditioneller Institutionen und Überlieferungen bleibt dem verunsicherten Individuum nur noch seine eigene Gefühlswelt als Sinnstiftungsinstanz. Also verschreibt es sich einer unterkomplexen Mo-ral, die Halt, Orientierung und positive Gefühle verspricht. In der heterogenen Welt der späten Moderne wird dieses selbst geschnürte moralische Wohlfühlpaket zum emotionalen Anker.
Entsprechend verteidigt der verunsicherte Mensch unserer Gegenwart seine schlichten moralischen Gewisshei-ten mit grosser Aggressivität. Einseitigkeit wird zur Tugend, Intoleranz zum Gebot der Stunde. Denn nichts verunsichert das kitschige Bewusstsein mehr als der Pluralismus der Weltsichten und moralischen Urteile.
So wird der politische Kitsch zur Gefahr für die Demokratie. Er spaltet die Gesellschaft, verweigert die Kom-munikation und schwingt sich zur Inquisition politischer Korrektheit auf. Die Dialektik der Aufklärung treibt die liberale Vernunft in ihr Gegenteil. Was als Aufbruch des rationalen Subjekts in Freiheit und Selbstbestimmung begann, droht in jakobinischem Tugendeifer unterzugehen.
Alexander Grau ist promovierter Philosoph und freier Autor. Zuletzt von ihm erschienen sind «Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung» (2017) und «Politischer Kitsch. Eine deutsche Spezialität» (2019).
Nota. - Der ästhetische Kitsch ist ein Kind der industriellen Massenreproduktion und ist Urtyp allen Kitschs: In der bürgerlichen Gesellschaft zerfällt die Kunst in drei ungleiche Ströme - den bewährten Mainstream für den Durchschnittsbourgeois, die Avantgarde für die Elite und den Kitsch für alle, denen Konkurrenz zu aufreibend ist und die sich nach Harmonie und Frieden sehnen.
Die Urform politischen Kitschs ist AgitProp. Zuerst bedienten sich die aufständischen Bauern des eben von der Reformation erfunden Mediums der gedruckten Flugblätter, und seit in England das Wahlrecht ausgeweitet wurde, gehörten Fliegende Blätter zum politischen Alltag.
Ein Höhepunkt war die Französische Revolution. Flugblätter vereinfachen und spitzen zu. Marats berüchtigter Ami du Peuple war kein Lehrstück für dialektische Finesse, er war grob und hetzerisch.
Und dann erst die Arbeiterbewegung! Eine unterdrückte Minderheit, die noch darum kämpfen muss, überhaupt ein öffentliches Gehör zu finden, wird nicht flüstern und säuseln, sondern schimpfen und poltern.
Zwiespältig wurde es bei Käthe Kollwitz, die selbst keine Aktivistin war, ihr Publikum aber bei der Arbeiterbe-wegung und ihren Sympathisanten suchte und fand.
Mit dem Sieg der Totalitarismen war mit dem Zwiespalt Schluss. Stalinistischer Herrschaftsagitprop war genau-sowenig, wie Walter Benjamin beschönigte, eine "Ästhetisierung des Politischen", wie der nationalsozialisti-sche, sondern war totalitärer Pomp - schlicht und einfach.
Ist der woke Kitsch, den Alexanter Grau geißelt, totalitär? Eine kämpfende Partei, ja überhaupt eine besondere Meinung zu sein, streitet er ja ab und behauptet, dasjenige zu sein, was korrekterweise ein jeder zu meinen hätte, der nicht in böswilliges Wrongthink verbohrt ist; aber er versteckt sich leidenschaftlich gern in wirklichen und gefühlten Minderheiten, um sich als Opfer darzustellen. Einerseits totalitär im Anspruch, andererseits verfolgte Unschuld - wie das?
Es ist die gestern noch unwidersprechlich herrschende richtige Meinung, die nicht bemerken wollte und bis heu-te nicht bemerken will, dass ihre Selbstgefälligkeit eklig und ihre Gesinnungsschnüffelei abstoßend ist, die nicht wahrhaben will, dass sie den freiheitliche Rechtsstaat entwaffnet und untergraben hat, indem sie das Politische sterilisiert und abtötet.
Was für das Gemeinwesen das Beste und Richtigste ist, ist dasjenige, was am Politischen strittig ist, und was strittig ist, ist am Gemeinwesen das Politische. Und zwar öffentlich, denn für mehr ist das Gemeinwesen nicht zuständig. "Das Private ist politisch" war vor fünfzig Jahren der erste Spatenstich zur Grablegung des Politi-schen. Wer immer was bekennt, darf seither öffentliche Geltung in Anspruch nehmen; zuerst, wenn er angab, dass viele sein Dafürhalten teilen, inzwischen eher, wenn er sich als Minderheit bekennt - unter der Prämisse freilich, dass irgendwo jeder Ausländer ist und irgendeiner Minderheit ein jeder angehört; man muss es bloß ...bekennen.
Die andern sind noch schlimmer? Das sagen die andern auch. Darum weichen sie einander aus, und wo das nicht geht, machen sie es wie weiland die Spartaner in ihren Volksversammlungen: Sie tragen keine Gründe vor, sondern brüllen, so laut sie können, und gewonnen hat, wer die andern übertönt. Das ist das Ende des Politi-schen und die Stunde der Demagogie: des herzberührenden Kitschs im eigenen Sprengel, flankiert von hass-erfülltem Agitprop - auch im eignen Sprengel. Denn am liebsten bleiben sie unter sich.
JE
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