Freitag, 10. Juli 2020

Nachtrag zum Offenen Brief.

aus nzz.ch, 9.07.2020

Berühmte Denker und Autoren haben genug: 150 grosse Namen wehren sich in einem offenem Brief
Mit wachsender Militanz fordern Minderheiten ihre Rechte ein. Viele Anliegen sind begründet, aber der Ruf nach Toleranz schlägt oft in sein Gegenteil um.

von Marion Löhndorf, London

In einem offenen Brief riefen mehr als 150 Autoren zu mehr Toleranz in immer intoleranter werdenden Zeiten auf. Zu den Unterzeichnern gehören Literaturschaffende und Intellektuelle wie Salman Rushdie, Martin Amis, Margaret Atwood, John Banville, Louis Begley, Daniel Kehlmann und J. K. Rowling, Noam Chomsky, Greil Marcus, Steven Pinker, Malcolm Gladwell und Gloria Steinem.

Der Initiator des Briefes, der amerikanische Autor Thomas Chatterton Williams, Sohn eines Schwarzen und einer Weissen, machte sich schon in seinem Buch «Self-Portrait in Black and White» (2019) Gedanken zum Thema Rasse und Rassismus. In einem Interview mit der «New York Times» betonte er die kulturell, intellek-tuell und politisch breit ausgefächerte Herkunft der Unterzeichner des Schreibens: «Wir sind nicht nur ein Haufen alter weisser Männer, die herumsitzen und diesen Brief schreiben. Dieser schliesst viele schwarze, muslimische und jüdische Denker ein, Menschen, die trans sind, schwul, alt, jung, rechts und links.» 

Die tobenden Toleranten

Anlass waren die antirassistischen Proteste, denen die Absender in der Sache – den Forderungen nach Gleichheit, Inklusion und Polizeireform – zustimmen. Doch vertieft der Brief, der in «Harper’s Magazine» online veröffentlicht und vielfach in Auszügen zitiert und kommentiert wurde, das Thema nicht. Es dient nur als Einstieg.

Worum es den Autoren und Autorinnen primär geht, ist die Kritik an Ton und Impetus der öffentlichen Debatten über Reizthemen. Und zwar jener, in denen sich immer neue Fronten auftun und die mit einem Totalitätsanspruch geführt werden, der kleinste Abweichungen von einer neu er- und umkämpften Norm mit Ausgrenzung und persönlichen Drohungen ahndet. Es sind Toleranzforderungen im Tonfall des Fanatismus.

Dabei fällt auf, dass die Angriffe der tobenden Toleranten nicht etwa den Rechtsextremen gelten, sondern vor allem den Linken und anderen Sympathisanten. Dieser Angriff auf Verbündete ist nicht nur widersprüchlich, er ist auch kontraproduktiv. Und er verweist auf das heimliche Motiv der neuen Schneeflocken-Generation: sich um jeden Preis abzugrenzen.

Das Problem, das die Unterzeichnenden in ihrem Schreiben ansprechen, hat sich nach ihrer Auffassung verschärft: «Der freie Austausch von Information und Ideen, das Rückgrat einer liberalen Gesellschaft, wird täglich eingeschränkt.» Während wir dies von der radikalen Rechten gewohnt seien, verbreiteten sich in unserer Kultur insgesamt eine Intoleranz gegenüber anderslautenden Meinungen, ein Trend zur öffentlichen Beschämung und Ausgrenzung und die Tendenz, komplexe politische Themen in blind machender moralischer Gewissheit aufzulösen.

Eine wichtige Geste

Die Klagen sind nicht neu, die Analyse ist nicht überraschend. Aber die Attacken der Vereinfacher und Verabsolutierer sind es auch nicht, und sie lassen nicht nach. Da wird ein altertümliches Meinungsinstrument wie ein offener Brief auf einmal als Geste bedeutsam und mit seiner Aussage wichtig. Er kann von denen, die sich gestern noch in der politischen Mitte oder rechts und links davon wähnten und die sich nun plötzlich ins Abseits des zugelassenen Meinungsspektrums gedrängt fühlen, mindestens als Trost oder Solidaritätsbekundung und idealerweise als Ermutigung begriffen werden.

Die Unterzeichner geben an, das Schreiben gegen den autoritären Zeitgeist aus Sorge um unsere Demokratie verfasst zu haben. Aber zwischen den Zeilen wird klar: Die Autoren des intellektuellen Establishments fühlen sich selbst von der Cancel-Culture ins Abseits der Tabuzonen gedrängt. Sie schreiben, dass harte Diskussionen mit robuster und beissender Gegenrede aus allen Richtungen zwar zu begrüssen seien. Aber eben nicht auf diese Weise und nicht mit Konsequenzen, die das Leben oder die Karriere der Teilnehmer gefährden können.

Hier wird der Brief gewissermassen persönlich und spricht von Leitern von Institutionen, die im panischen Versuch einer Schadensbegrenzung «übereilte, unverhältnismässige Strafen verhängten, anstatt durchdachte Reformen anzugehen». Die Beispiele, die der Brief anführt, sind konkret genug, um auf Ereignisse der letzten Monate bezogen zu werden: Herausgeber werden für die Veröffentlichung umstrittener Texte entlassen, Bücher werden wegen angeblichen Mangels an Authentizität zurückgezogen, Journalisten dürfen nicht über bestimmte Themen schreiben, Professoren nicht bestimmte literarische Werke zitieren.

Viele Unterzeichner des Briefs waren in der Vergangenheit selbst in heftige Debatten verstrickt, manche waren schlimmsten Angriffen und Einschränkungen ausgesetzt, wie Khaled Khalifa, dessen Romane für seine Kritik an der syrischen Regierung in seinem Heimatland verboten wurden, und Salman Rushdie, dessen Buch «Die satanischen Verse» auf einer Demonstration von Muslimen in Bradford symbolisch verbrannt und dessen Tod vom iranischen Revolutionsführer Khomeiny gefordert wurde.

Eine andere Art von Drohungen und Beschimpfungen erlebte die «Harry Potter»-Autorin J. K. Rowling mehrfach, gerade kürzlich wieder im Zusammenhang mit der Transgender-Debatte. Im Zusammenhang mit dem offenen Brief verglich J. K. Rowling im Gespräch mit dem «Guardian» das derzeitige kulturelle Klima mit dem der McCarthy-Ära in den USA – der Zeit des konservativen, amerikanischen Senators, dessen Kommunisten-hetze in den fünfziger Jahren Karrieren und Leben zerstörte und dessen Name zum Synonym wurde für Verleumdung durch willkürliche Beschuldigungen und nicht belegte Vorwürfe.

Triumph der Extremisten

Vor zwei Jahren hatte schon Rowlings Kollegin und Mitunterzeichnerin Margaret Atwood einen ähnlichen Vergleich in der Hochphase der #MeToo-Bewegung gezogen. Damals schrieb sie in einer Kolumne in Kanadas zweitgrösster Tageszeitung, sie sehe in der Bewegung Anzeichen einer Mentalität, die nach dem Prinzip «Schuldig durch Anklage» urteile. Die kanadische Schriftstellerin fühlte sich an die Hexenprozesse im Amerika des 17. Jahrhunderts erinnert – obwohl sie die Überzeugungen der #MeToo-Bewegung teilte und deren Engagement als «Symptom einer kaputten Justiz» wahrnahm.

Atwoods damalige Kritik richtete sich gegen die militanten Exponentinnen der Bewegung. «In extremen Zeiten gewinnen die Extremisten», schrieb sie damals. «Ihre Ideologie wird zur Religion, und jeder, der ihre Ansichten nicht nachplappert, wird als Ungläubiger, Häretiker oder Verräter gesehen, und die Gemässigten in der Mitte werden zerstört.» Atwood wurde damals von Feministinnen in einer Unflätigkeit beschimpft, die ihre Analyse bestätigte, statt sie mit Argumenten zu entkräften. Die Forderung nach Toleranz verkommt vielerorts zu einer Drohung.


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