Mittwoch, 22. Juli 2020

Entweder Stalinist oder Kinderschänder.

aus FAZ.NET, 22. 7. 2020

Stalinismus-Forscher:  
Historiker Dmitrijew zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt
Der russische Historiker Jurij Dmitrijew erforscht Stalins Massenerschießungen. Nun wurde er zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Kindesmissbrauchs verurteilt. Der Vorwurf ist konstruiert und soll ihn stigmatisieren. 


Es kommt selten vor, dass Karelien, eine nordwestrussische Teilrepublik an der Grenze zu Finnland mit viel Wald und Wasser, im Zentrum der russischen Politik steht. Notorisch ist das Erbe des sowjetischen GULag und Stalins Staatsterror – und seit dreieinhalb Jahren das Vorgehen der Justiz gegen den Historiker Jurij Dmitrijew, das immer wieder Aufmerksamkeit auf Karelien lenkt, auch im Ausland, besonders aber natürlich in Russland, wo sich viele Schriftsteller, Historiker und viele andere Menschen für Dmitrijew einsetzen, mit der Region verbunden.

Auch am Mittwoch kamen wieder rund 200 seiner Unterstützer vor das Gerichtsgebäude in der Republikhaupt-stadt Petrosawodsk, wo ein neues Urteil gegen ihn verkündet wurde. Sein Fall hat Signalwirkung, denn es geht darum, wie Russland unter Präsident Wladimir Putin und dem mächtigen Geheimdienst, dem Putin entstammt, zivilgesellschaftliche Geschichtsaufklärer inhaftiert und stigmatisiert.

Dmitrijew ist dabei kein Einzelfall – aber sein Fall ist besonders schrecklich, denn er ist nicht das einzige Opfer. Der dürre, mittlerweile 64 Jahre alte Mann gehört zu der aussterbenden Generation von Russen, die das Ende der Sowjetunion als Möglichkeit sahen, Staatsverbrechen zu erforschen und zu sühnen. Das brachte Dmitrijew zu „Memorial“, deren Vertreter in Karelien er wurde. Die Organisation wird wegen ihrer Aufklärung über Stalins Terror und aktuelle Menschenrechtsverletzungen in Russland längst als „ausländischer Agent“ drangsaliert.

Dmitrijew hat in den karelischen Wäldern mehrere Orte von Massenerschießungen entdeckt, hat die Erinnerung an die Opfer der in Russland stets „Repressionen“ genannten Staatsterroraktionen geweckt und wachgehalten. Es besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass er wegen dieses Engagements seit Ende 2016 mit kurzen Unterbrechungen in Untersuchungshaft sitzt – und nicht wegen eines angeblichen sexuellen Missbrauchs seiner Adoptivtochter, der ihm jetzt, maximal rufschädigend, vorgeworfen worden ist.

Staatsanwaltschaft forderte 15 Jahre Haft

Am Mittwochnachmittag sprach das Gericht Dmitrijew dieses Vorwurfs schuldig; die Staatsanwaltschaft hatte 15 Jahre Haft gefordert, das Gericht verurteilte Dmitrijew zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft. In Anrechnung der Untersuchungshaft komme Dmitrijew im November frei, sagte dessen Anwalt. Das Stigma der Verurteilung soll aber bleiben. Es ist ein Urteil auf Wiedervorlage, gleichsam die Korrektur eines Wunders.

Als Dmitrijew vor dreieinhalb Jahre erstmals festgenommen wurde, lauteten die Vorwürfe „Benutzung einer Minderjährigen zur Herstellung von Pornographie“ und „lasterhafte Handlungen ohne Gewaltwendung“, später kam unerlaubter Waffenbesitz hinzu. Es ging um Fotos, die der Historiker von seiner 2005 geborenen Adoptivtochter gemacht hatte, um sich gegen mögliche Behördenvorwürfe zu wappnen, das dünne und oft kranke Kind werde vernachlässigt.

Dmitrijew, der auch eigene Kinder hat, war als kleiner Junge selbst aus einem Kinderheim adoptiert worden, wollte nach eigener Darlegung jemandem zurückgeben, was ihm seine Adoptiveltern Gutes getan hatten. Zum Vorwurf gemacht wurden Dmitrijew im ersten Prozess neun Fotos von insgesamt mehr als hundert, die Dmitrijew gemacht hatte und die das Kind im Alter von drei bis sieben Jahren zeigten.

Gutachter wiesen Vorwürfe zurück

Mehrere Gutachter wiesen die von den Ermittlern daraus konstruierten Kinderpornographie- und Pädophilie-Vorwürfe zurück. Im April 2018 wurde Dmitrijew nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes (es ging dabei um Teile eines Gewehrs ohne Patronen) verurteilt, im Kern aber freigesprochen. Das galt als Sensation, denn in Russland enden fast alle Strafverfahren unabhängig von der Beweislage mit Schuldsprüchen.

Die brüskierten Ermittler legten nach, warfen Dmitrijew nun „gewaltsame Handlungen sexuellen Charakters gegen eine Person unter vierzehn Jahren“ vor. Wieder handelt es sich um die Adoptivtochter. Das erste Urteil, der Freispruch, wurde aufgehoben und Dmitrijew kam schon gut zwei Monate nach dem Freispruch unter den neuen Vorwürfen neuerlich in Untersuchungshaft. Das begleitete das kremltreue Fernsehen, das seinem Publikum schon die Fotos des kleinen Mädchens gezeigt hatte, mit Falschmeldungen, Dmitrijew (der gar keinen Reisepass hat) habe sich nach Polen absetzen wollen. Wie schon der erste Prozess, fand auch der zweite unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Die „Nowaja Gaseta“ fand heraus, dass die Dmitrijew konkret vorgeworfenen Handlungen darin bestanden, seine Tochter im Lendenbereich berührt zu haben, um zu prüfen, ob ihre Unterwäsche trocken war, da sie einige Zeit ihr Bett nässte, was Ärzte bestätigt hatten. Zudem befanden demnach Sachverständige, welche die Verhörprotokolle analysierten, dass die Ermittler Druck auf das Mädchen ausgeübt und ihr inkriminierende Antworten gleichsam in den Mund gelegt hatten. Zudem, so die Zeitung, fielen Erfolge der Ankläger gegen Dmitrijew mit dem Karrierefortschritt eines ranghohen FSB-Agenten zusammen.

Dmitrijew entdeckte Massengrab

Der Geheimdienst FSB steht hinter dem Verfahren, was eine besonders bittere Note hat. Denn der FSB ist der Erbe der Täter, die unter anderem in den Wäldern Kareliens Tausende Menschen erschossen, deren Gräber Dmitrijew gefunden hat. Wie in Sandarmoch, einem 1997 von Dmitrijew entdeckten Massengrab, wo Stalins Henker 1937 und 1938 im „Großen Terror“ Tausende Russen, Ukrainer, Polen Deutsche, Georgier und Angehörige anderer Nationalitäten erschossen, deren Überreste Dmitrijew fand: auf den Rücken gebundene Hände, gebeugte Knie, Genickschuss.

Zum Vorgehen gegen Dmitrijew gehört, dass seit 2016 mit wachsender Vehemenz versucht wird, Sandarmoch umzudeuten zu einem Ort, an dem Finnen während des Zweiten Weltkrieges gefangene Rotarmisten erschossen hätten – Historiker weisen das zurück. Und vermutlich gehört dazu auch, dass ein langjähriger Mistreiter Dmitrijews im Mai vergangenen Jahres ebenfalls wegen Missbrauchs einer minderjährigen Person verurteilt worden ist: Der Historiker Sergej Koltyrin, der das Gemeindemuseum im Sandarmoch benachbarten Ort Medweschjegorsk leitete. Koltyrin, der neun Jahre Haft erhielt, starb Anfang April in einem Gefängniskranken-haus.

Dmitrijew wurde nun von den Vorwürfen aus dem ersten Prozess, die wieder erhoben wurden, freigesprochen (dieses Mal sogar von dem Vorwurf des unerlaubten Waffenbesitzes), aber wegen des angeblichen Missbrauchs verurteilt. Er soll vorerst im Petrosawodsker Untersuchungsgefängnis bleiben. Sollte Dmitrijew wirklich im November freikommen, würde die jährliche Gedenkveranstaltung in Sandarmoch am 5. August das vierte Mal in Folge ohne den Historiker stattfinden.

Dmitrijew will weiter Erinnerung wach halten

Dass er weitermachen will, steht außer Frage: In der Haft arbeitete Dmitrijew zäh und ungebrochen weiter, Anfang dieses Jahres erschien ein neues Buch von ihm zu Sandarmoch. Am 8. Juli wies der Historiker in seinem Schlusswort zum neuen Prozess wieder jede Schuld zurück und definierte nebenbei seine Vorstellung von Patriotismus: Er habe sich bemüht, seine Adoptivtochter zu einem würdigen Bürger und Patrioten zu erziehen, sagte Dmitrijew. Derzeit sei es in Russland üblich, nur auf militärische Erfolge stolz zu sein. Doch sein, Dmitrijews, Weg bestehe darin, jene Menschen „aus dem Nichts zurückzubringen, die durch die Schuld unseres eigenen Staats verschwanden, zu Unrecht verurteilt, erschossen, in Wäldern vergraben wurden wie streunende Tiere“.

Er sei vollkommen einverstanden mit dem Staat darüber, dass man an die im Krieg Gefallenen erinnern müsse. Doch müsse man auch an die Menschen erinnern, „die aufgrund den bösen Willens der Führer unserer Staates starben. Und genau das sehe ich als Patriotismus an.“ Die Prozesse gegen ihn seien „speziell dafür geschaffen, um meinen ehrlichen Namen in Verruf zu bringen und gleichzeitig die Gräber und Friedhöfe der Opfer von Stalins Repressionen in den Schatten zu stellen, die es mir gelang zu öffnen und an denen jetzt Leute zusammenkommen“. Es werde nicht gelingen, diese Erinnerung der Leute zu stoppen, auch wenn er nicht teilnehme, sagte Dmitrijew: „Sie verstummt nicht.“


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