Streiks und Proteste in China
Aufstand der Arbeiter
In China wollen viele Arbeiter die schlechten Bedingungen nicht mehr hinnehmen. Da ihnen Gewerkschaften keine glaubwürdigen Anwälte sind, nehmen sie ihr Schicksal selbst in die Hand. Nach Herkunft und Werdegang deutete nichts darauf hin, dass Huang Xingguo einmal über seine enge Welt hinaus von sich reden machen würde. Als junger Mann war der 50-Jährige in seiner Heimatprovinz Hunan vom Land in die Millionenstadt Changde abgewandert und hatte es dort zum fest angestellten Kassierer in der lokalen Filiale des amerikanischen Einzelhandelskonzerns Walmart gebracht. Nachdem ihn seine Kollegen zum Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaft gewählt hatten und Huang ein Jahr später im Konflikt mit dem Management um die kurzfristig verkündete Schliessung der Filiale Farbe bekennen musste, war es mit dem unauffälligen Leben schlagartig vorbei.
Stich in die Herzregion
Wenn sich wie im Frühling in Changde gerade einmal hundert Beschäftigte dagegen wehren, Knall und Fall und ohne angemessene Abfindung auf die Strasse gesetzt zu werden, ist das bei der geballten Häufigkeit, mit der sich seit der Wirtschaftskrise 2008/09 Arbeitskonflikte in China in Protestaktionen entladen, kaum der Rede wert. Da war der zweiwöchige Arbeitskampf in den Fabriken des taiwanischen Sportschuhherstellers Yue Yuen im südchinesischen Donguang (Provinz Guangdong) von anderem Kaliber. Bis zu 40 000 Beschäftigte legten im April im Streit um ausstehende Rentenbeitragszahlungen den Betrieb lahm.
Was dem Zwischenfall in Changde dennoch landesweit Aufmerksamkeit verschaffte, war der per Twitter und in Blogs verbreitete Mut, mit dem Huang den Rollenwechsel vom loyalen Gefolgsmann des All-Chinesischen Gewerkschaftsbunds (ACGB) zum «wahren Gewerkschafter» vollzogen hatte. So würdigte ihn die in Guangzhou erscheinende Wochenzeitung «Nanfang Zhoumo» («Southern Weekend») in einem ausführlichen Porträt. Im Gegensatz zur Lokalregierung und zur örtlichen Vertretung der Einheitsgewerkschaft, die den Konzern mit Rücksicht auf seine anderen Investitionen davonkommen lassen wollten, solidarisierte sich Huang mit der Belegschaft. Auch nach der Gewaltandrohung durch die Polizei hielt er mit seinen Kollegen das Betriebsgelände besetzt. Dass die Ereignisse von Changde ein besonders lebhaftes Echo gefunden haben, ist kein Zufall. Das ergibt sich bereits aus der regionalen Verteilung der Arbeitskämpfe, wie sie die auf Arbeitnehmerfragen in China spezialisierte Forschungsstelle «China Labour Bulletin» in Hongkong regelmässig dokumentiert. Von Mitte 2011 bis Ende 2013 wurden insgesamt rund 1200 Zwischenfälle registriert. Davon ereigneten sich demnach über die Hälfte im und um das Perlflussdelta – also in der industriellen Herzregion, auf die sich die von einheimischen wie ausländischen Investoren gehaltenen Unternehmen der Exportindustrie konzentrieren. Diese Firmen beschäftigen meist Wanderarbeiter als gering qualifizierte Arbeitskräfte.
Das erklärt auch, weshalb der waghalsige Alleingang von Huang Xingguo bis in die Reihen der von Partei und Regierung gelenkten Einheitsgewerkschaft die meisten Sympathisanten findet. In Gesprächen mit Aktivisten und Sozialexperten wird häufig der ehemalige ACGB-Vorsitzende von Guangdong, Deng Weilong, zitiert. Deng tanzte schon 2010 mit selbstkritischen Bemerkungen aus der Reihe und nahm für das Umsichgreifen der sozial wie ökonomisch kostspieligen Dauerkrise nicht die Arbeiterschaft, sondern die eigene Organisation in Haftung. Unter anderem liess er sich auf die Feststellung ein, dass die Gewerkschaftsvertretungen in vielen Betrieben im Konfliktfall «wie Unterabteilungen des Managements» agierten, statt die Interessen der Arbeitnehmer zu vertreten.
Für sein Anliegen hat der Gewerkschaftsveteran Verbündete, die ebenso wenig wie er selbst im Verdacht stehen, das politische System sprengen zu wollen, sondern an seine Lernfähigkeit glauben. Ein namhafter, in Theorie und Praxis erfahrener Wortführer in diesem Kreis ist Chang Kai. Er lehrt an der Volksuniversität (Renmin-Universität) in Peking und war als Sachverständiger an der Ausarbeitung des 2008 in Kraft gesetzten Arbeitsvertragsgesetzes beteiligt. Als gefragter Schlichter war er im Frühjahr auch nach Changde gerufen worden. Immer wieder hat er sich für mehr kollektive Autonomie und nicht nur auf dem Papier verbriefte Mitspracherechte der Arbeiter eingesetzt.
Wie Chang immer wieder hervorhebt, ist der Ansehensschwund des ACGB symptomatisch für die Fehlentwicklung, bei der im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung und der Diversifizierung der unternehmerischen Eigentumsformen der Schutz der Arbeitnehmerrechte unter die Räder geraten ist. Chang spricht von der «Merkantilisierung des Faktors Arbeit», dessen Wert sich jahrzehntelang vorrangig nach den ehrgeizigen Zielvorgaben für das Wirtschaftswachstum zu richten hatte. Parallel dazu bildete sich auf lokaler Ebene das Interessenskartell aus Unternehmern und Funktionären heraus. Dieses legte die Regeln für die Lohnfestsetzung, die Gestaltung von Arbeitsverträgen und die Mitbestimmung der Beschäftigten nach eigenem Gutdünken fest.
Keine Reformen in Sicht
Die Finanzkrise hat auch in China ihren Tribut gefordert und gezeigt, wie stark das Land in die Weltwirtschaft integriert ist. Der sprunghafte Anstieg von Streik- und Protestaktionen, die der vom Konjunktureinbruch hervorgerufene Rationalisierungsdruck auslöste, bescherte dem Schlichter Chang viel Arbeit. 2009 waren es zunächst die Arbeiter in der staatseigenen Stahlindustrie, die sich gegen Stellenstreichungen zur Wehr setzten. Noch folgenschwerer war der Grossstreik, der ein Jahr später in einem Gemeinschaftsunternehmen des japanischen Autoherstellers Honda in Guangdong ausbrach und in einer Kettenreaktion viele der südchinesischen Autozulieferer erfasste. Der Anlass war ein für die arbeitsintensive Fertigungsindustrie typischer Konflikt. Der Getriebehersteller, der überwiegend gering qualifizierte Wanderarbeiter beschäftigt, hatte zuvor zwar die von der Provinzregierung verfügte Erhöhung der Mindestlöhne umgesetzt, kürzte dafür aber die Zuschüsse für Unterbringung und Verpflegung.
Die Häufigkeit von Streiks, die in China nicht verboten, aber verfassungsrechtlich nicht geschützt sind, ihre breite geografische Streuung und der Gleichklang in den Parolen machen auch in der Summe noch keine Arbeiterbewegung aus. Dennoch hat das Konfliktverhalten aufseiten der Arbeitnehmer eine neue Qualität erreicht. Sie macht sich bemerkbar in der Unerschrockenheit, mit der die Arbeiter ihre Ansprüche durchzusetzen versuchen. Sie speist sich aus einem geschärften Rechtsbewusstsein, das sich auf den Wortlaut der Schutzgesetze beruft, die ihnen der Staat als Waffe in die Hand gegeben hat.
Darüber hinaus haben kritische chinesische Beobachter besonders unter den jungen Beschäftigten einen «Trend zur kollektiven Resolidarisierung» ausgemacht. Wo die Einheitsgewerkschaft mit ihren regionalen Unterorganisationen versagt, nehmen Arbeitnehmer neuerdings vermehrt die Dienste von zivilgesellschaftlichen Gruppen in Anspruch. So gibt es in der Provinz Guangdong inzwischen rund 50 solcher «Arbeitsrechtgruppen». Neben individueller Rechtshilfe leisten sie auch Unterstützung bei der Organisation von Streiks.
Chinesische Wissenschafter diskutieren schon lange, an welchem Modell sich eine funktionsfähige Sozialpartnerschaft in China orientieren sollte. Wie schwierig sich das Umdenken in der politischen Praxis gestaltet, zeigt sich aber gerade in Guangdong. Unter dem Eindruck der Streikwelle bei den Autozulieferern hatte die Provinzregierung noch 2009 die Initiative zu Arbeitsrechtsreformen ergriffen. Die Gesetzentwürfe machen anstelle der bisher üblichen Konsultationen kollektive Tarifverhandlungen verbindlich und schreiben kontrollierte und transparente Mechanismen zur Konfliktschlichtung vor. Bisher ist jedoch keines dieser Gesetze verabschiedet worden.
Die unnachgiebige Härte, mit der die Pekinger Führung unter Staats- und Parteichef Xi Jinping den umfassenden Lenkungsanspruch der Partei in allen Bereichen der Gesellschaft verteidigt, lässt nicht erwarten, dass daraus bald ein Pilotprojekt wird. Von einer Sozialpartnerschaft neuen Typs ist in den vor einem Jahr in Peking verabschiedeten Beschlüssen zu wirtschaftlichen Reformen jedenfalls mit keinem Wort die Rede.
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