Freitag, 7. November 2014

Will Putin Stalin beerben?

Verehrung des russischen Präsidenten an der Militärparade in Belgrad von Mitte Oktober.
aus nzz.ch, 7.11.2014, 16:02 Uhr                      Verehrung des russischen Präsidenten an der Militärparade in Belgrad von Mitte Oktober

Kontroverse um den Zweiten Weltkrieg
Putin, Stalin und die Polen
 
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Putin hat einmal mehr den Hitler-Stalin-Pakt verteidigt. Er spricht damit die Sowjetführung von historischer Schuld frei und schiebt sie stattdessen den Polen in die Schuhe.

In einem Treffen mit jungen Historikern in Moskau hat der russische Präsident Wladimir Putin den Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939 verteidigt. Die Sowjetunion habe damals Zeit gebraucht, um ihre Armee zu modernisieren und deshalb einen Nichtangriffspakt mit Deutschland unterzeichnet. «Ist es so schlimm, dass die Sowjetunion nicht kämpfen wollte?» fragte er rhetorisch.

Selber schuld?

Brisant ist Putins Aussage, Polen sei selber schuld, dass es aufgeteilt wurde. Nach dem Münchner Abkommen von 1938, in dem die westlichen Staaten einer Zerschlagung der Tschechoslowakei zustimmten, hätten die Polen auch ihr Stück genommen. «Im Gegenzug geschah einfach das gleiche mit ihnen.» Im Rahmen des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 hatten sich die Sowjetunion und Nazi-Deutschland auf die Aufteilung Osteuropas geeinigt. Historiker sehen darin eine wesentliche Vorbedingung dafür, dass Hitler den Zweiten Weltkrieg beginnen konnte.

Neu ist Putins Relativierung des Hitler-Stalin-Paktes allerdings nicht. Bereits 2005 lehnte er es ab, dazu Stellung zu beziehen, da bereits die Sowjetunion unter Gorbatschow den Pakt 1989 verurteilt habe. Zuvor war das Zusatzprotokoll stets als imperialistische Propaganda bezeichnet worden. Forderungen von baltischen und osteuropäischen Ländern nach Anerkennung des Unrechts durch den Nachfolgestaat Russland wies Putin als Ablenkungsmanöver von deren eigenen Vergangenheit als Nazi-Kollaborateure zurück. 2009 bezeichnete erden Pakt als einen von vielen moralisch verwerflichen Fehlern der Sowjetunion und der westlichen Alliierten im Umgang mit Nazi-Deutschland.

Putins Aussagen passen gut in das heute dominante Geschichtsbild in Russland. In vielen neueren Geschichtsbüchern, die auch in den meisten Schulen zur Anwendung kommen, wird der Hitler-Stalin-Pakt als Mittel zum Zeitgewinn dargestellt. Oft wird auch gesagt, das Münchner Abkommen von 1938 habe die Sowjetunion geradezu in die Arme der Deutschen getrieben. Auch Putin sagte am Mittwoch, die Appeasement-Politik des britischen Premierministers Neville Chamberlain habe den Zweiten Weltkrieg unvermeidbar gemacht. Im Westen werde diese Mitschuld systematisch verschwiegen.

In Russland ist die Ansicht weit verbreitet, es gebe einen systematischen, mutmasslich aus den USA gesteuerten, Versuch, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs umzuschreiben. Die Rolle der Sowjetunion werde kleingeredet. Dagegen wurde bereits 2009 eine präsidiale Kommission geschaffen, die sich gegen Versuche zur Geschichtsverfälschung, die Russlands Interessen zuwiderlaufen, wehren solle. Die Kommission hat unter anderem ein einheitliches Geschichtsbuch in Auftrag gegeben, das in wenigen Jahren in allen Schulen verwendet werden soll.

Leichen im Keller

Auch Putin antwortete auf eine Frage über Versuche zur Umschreibung der Geschichte. Allerdings forderte der junge Historiker aus Pensa, der die Frage stellte, vom Präsidenten, er solle sich dafür einsetzen, dass die russischen Militärarchive endlich für die historische Forschung zugänglich würden. Militärkreise sperren sich seit Jahren gegen die Öffnung, und Putin hat in diesem Bereich wenig getan. Themen wie die Massenerschiessungen des Offizierskorps, die Verwendung von Millionen von jungen Männern als Kanonenfutter und ganz allgemein der Preis von 27 Millionen Menschenleben für den Sieg über Nazi-Deutschland passen eben schlecht in das idealisierte Geschichtsbild, das die russische Regierung propagiert.


Nota. - Nationen sind keine Subjekte, die selber handeln und denen man 'Schuld' zurechnen könnte. In ihrem Namen treten Machthaber auf, die man, so ist es die Regel, gewissen Interessen, d. h. Interessenten zuordnen kann.

Stalin war der autokratische Repräsentant der Sowjetbürokratie, die polnische Regierung war der unverantwortliche und daher ungebundene Korken, der wie ein Bonaparte über den Parteien torkelte. Die Regierung Großbritanniens, Frankreichs und der USA vertraten gesellschaftliche Kräfte, die dort noch heute herrschen. Das ergibt für die historische Betrachtung unterschiedliche Perspektiven, ist es nicht so?

Stalin hatte die proletarische Revolution liquidiert, und namentlich deren Protagonisten, die bolschewistische Partei. Um seine persönliche Herrschaft abzusichern, hatte er alle Machtzentren vernichtet, die ihm gefährlich werden konnten, erst Kirow und die Leningrader Parteispitze, schließlich den Generalstab der Roten Armee. Der Aufbau des Sozialismus in einem Land brauchte Frieden und diplomatisches Arrangement mit dem Rest des Erdballs, und wie weit er dem Programm der Weltrevolution abegeschworen hatte, bewies er den Herren der Wallstreet, der City und der Pariser Börse, indem er selber den Henker der spanischen Revolution abgab und den Herrschaften die Dreckarbeit ersparte. Allein sie wussten ihm keinen Dank, und als er sie um einen Verteidungspakt gegen Hitler anbettelte, ließen sie ihn im Vorzimmer abwimmeln. Da hat er denn mit Hitler selbst paktiert.

"Um Zeit zu gewinnen"? Ja warum denn?! - Weil er zuvor die Rote Armee zerstört hatte, denn die war von Trotzki geschaffen und im Bürgerkrieg zum Sieg geführt worden. Dass er sich obendrein auf die Genialität seines diplomatischen Schachzugs was eingebildet und der Vertragstreue Hitlers, wie inzwischen erwiesen ist, bis zum blutigen Beweis des Gegenteils vertraut hat, ändert nichts an dem verbrecherischen Zynismus der Westmächte und ihres polnischen Protégés.

Wenn Putin sagte, für all das könne man ihn nicht verantwortlich machen, dann hätte er Recht. Aber es schleicht die Vermutung, irgendwie wolle er Stalins Erbe antreten. Bei all dem Gedusel mit der russischen Nation wird ihm auch nichts anders übrigbleiben.
JE

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