aus nzz.ch, 2014-11-27 11:30:00 Zaristische Offiziere; 4. v. lks. der weiße General Denikin
Putins Ideologie vom eurasischen Grossrussland
Die Weissen haben gewonnen
Präsident Putin handelt zwar aussenpolitisch nach der Staatsräson der Sowjetunion im Kalten Krieg, doch seine Ideen von der imperialen Grösse und dem eurasischen Sonderweg Russlands wurzeln im reaktionär-konservativen Denken des antibolschewistischen Exils. So gilt Putin als glühender Anhänger von Iwan Iljin. Unter den verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs gebührt der bolschewistischen Revolution 1917 zweifellos der oberste Rang. Die Niederlage und der Zusammenbruch des russischen Reichs wurden von einem blutigen Bürgerkrieg begleitet, in dem die Bolschewisten, die Roten, über die Weissen den Sieg davon trugen. Die Bolschewisten versprachen Frieden, Gleichheit und Gerechtigkeit, die Weissen kämpften für die Wiederherstellung der alten Ordnung. Nach vier Jahren in den Schützengräben waren die Bauern und Soldaten auf das Ancien Régime nicht gut zu sprechen. Den Kommunisten war es zudem gelungen, das russische Reich zu grossen Teilen in der Sowjetunion wieder zu vereinen. Das multinationale, vormoderne Imperium wurde die Heimat der Weltrevolution und des Sozialismus.
Kultur der Niederlage
Die geschlagenen Anhänger des alten Russland – Oppositionelle und Intellektuelle von rechts bis links – flohen ins Exil . Im Nachkriegseuropa liessen sich konservative Emigranten, die von der Befreiung des heiligen Russland vom Joch des Bolschewismus träumten, von faschistischen und geopolitischen Ideen jener Zeit beeindrucken. Manch ein Patriot versprach sich eine Wiedergeburt seiner Heimat von der rechten Diktatur und grübelte über einen Sonderweg Russlands. Unter den Exildenkern galt der Philosoph Iwan Iljin (1883–1954) als einer der besonders militanten Antibolschewisten. Im Faschismus sah er eine gesunde Reaktion auf den «linken Totalitarismus» und pries 1933 Hitler als Verteidiger Europas gegen die bolschewistische Barbarei. Selbst nach dem Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, als sich Stalins Imperium im Zenit seiner Macht und Ausdehnung zu befinden schien, glaubte Iljin an dessen unausweichlichen Zusammenbruch.
Er sah mittlerweile aber ein, dass der Faschismus es mit der totalen Herrschaft zu weit getrieben hatte. Dem künftigen Russland wünschte er eine autoritäre Diktatur im Stile Francos oder Salazars. Zugleich empörte sich Iljin aber über die Unterstützung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen im sowjetischen Einflussbereich durch die Alliierten. Denn sie trügen zu einer Schwächung des Sowjetreichs bei, an dessen Stelle einmal ein «einiges und unteilbares Russland» als Führerstaat treten sollte. «Es wird die historische Stunde kommen», schrieb der russische Emigrant Iwan Iljin 1950 in der Schweiz, «da [das russische Volk] aus seinem scheinbaren Sarg auferstehen und seine Rechte zurückfordern wird.»
Auch andere Emigranten träumten von der Wiedergeburt des russischen Imperiums. In den zwanziger Jahren begründete eine Gruppe von Philosophen und Historikern eine Bewegung unter dem Namen Eurasiertum. Die Eurasier legten Wert auf geografisch bedingte Besonderheiten, unter denen der Nationalcharakter eines Volks in den zurückliegenden Jahrhunderten seine unverwechselbare Form angenommen habe, und hielten ihn für eine anthropologische Konstante. Russland sei weder Europa noch Asien, sondern ein vollkommen eigenständiger Landkontinent, der überwiegend asiatisch geprägt sei. Die russische Bevölkerung sei aus der Vermischung slawischer Stämme und mongolischer Nomaden hervorgegangen. Das romanisch-germanische Europa tauge deshalb keinesfalls als Vorbild, vielmehr stelle es eine Gefahr für die russische Kultur dar. Demokratische und sozialistische Ideen seien künstlich nach Russland verpflanzt worden, Liberalismus und Parlamentarismus seien dem Volk fremd. Die geeignete Staatsform sei daher eine Ideokratie, in der die vom Volk gewählte Führungsschicht durch eine Weltanschauung fundiert sei. Im künftigen Russland müsse der orthodoxe Glaube den Platz des Marxismus einnehmen.
Der liberale Politiker Pawel Miljukow verspottete das Russlandbild der Eurasier als «Aseopa». Er spielte damit auf ihren antieuropäischen Affekt an. Das Eurasiertum, erkannte scharfsinnig der Philosoph Nikolai Berdjajew, sei weniger eine intellektuelle denn eine «emotionale Reaktion nationaler und religiöser Instinkte auf die Katastrophe der Oktoberrevolution». Die Sehnsucht nach der Heimat hat einige der Emigrierten in die Sowjetunion getrieben, wo sie bald Opfer politischer Repressalien und des Grossen Terrors wurden. Stalin brauchte keine Berater in Sachen Ideokratie, war er doch selbst mit seiner imperialen Ideologie des Sowjetpatriotismus ein praktizierender Eurasier.
Auch als Denker waren die russischen Emigranten Zaungäste des Weimarer Europa geblieben. In der Sowjetunion wurden ihre Bücher in den Bibliotheken im «spezchran», dem Giftschrank, aufbewahrt. Eine Handvoll ausgewählter, parteinaher Geisteswissenschafter durfte in den vergilbten Seiten der in Berlin und Prag verfassten Werke blättern, um gegen den Klassenfeind ideologisch gewappnet zu sein.
Wiedergeburt auf Staatsebene
Doch diese Zeit ist längst passé. Die sterblichen Überreste von Iwan Iljin sind 2005 aus dem Schweizer Exil auf den Friedhof des Moskauer Donskoi-Klosters übergeführt worden. Die trüben Lehren der Eurasier füllen Regale in den Buchläden und werden wissenschaftlich erforscht. Mehr noch, die Emigranten mit ihrer Ideologie eines eurasischen Kulturraums scheinen ganz oben angekommen zu sein. Heute outet sich der russische Präsident Putin als glühender Anhänger von Iwan Iljin. Den Staatsbeamten empfiehlt er, dessen Werke wie einst die von Lenin zu lesen. Mit den Vorstellungen der «Russischen Welt», wie sie im Prag und Berlin der zwanziger und dreissiger Jahre herbeiphantasiert wurden, werden geopolitische Ansprüche Russlands legitimiert.
In seinen Reden, wie etwa im Fernsehgespräch mit dem Volk, das nach dem Krim-Anschluss am 17. April 2014 stattgefunden hat, spricht Putin von Russen als ethnischem Mix, von besonderen russischen Werten, die den westlichen entgegengesetzt seien. «Wir sind weniger pragmatisch als andere Völker, dafür haben wir eine breite Natur. Vielleicht spiegelt sich darin auch die Grösse unseres Landes wider.» Der russische Mensch verfügt laut Putin über eine höhere moralische Bestimmung, die seit Dostojewski zum nationalistischen Stereotyp gehört. Der Russe sei anders als der Europäer durch seine Hinwendung nach draussen, zur Welt gekennzeichnet, er halte wenig vom Geld und sei bereit, für sein Vaterland zu sterben. «Darin liegen tiefe Wurzeln unseres Patriotismus», so Putin. «Daher kommen der Massenheroismus in den militärischen Konflikten und sogar eine Selbstaufopferung in der Friedenszeit. Hier wurzeln unser Gefühl der Zusammengehörigkeit, unsere Familienwerte.»
Erst Ende der achtziger Jahren ging das kommunistische Projekt, das die alte bürgerliche Intelligenzia aus dem Land verbannt hatte, in die Brüche. Doch die Hoffnungen, Russland könnte sich politisch modernisieren und den europäischen Weg gehen, wurden enttäuscht. Mit der Hinwendung zu faschistischen und totalitären Phantasien, erkannte Berdjajew, reagierten russische Emigranten auf die Katastrophe der Oktoberrevolution. Auch das Ende des Sowjetimperiums wurde in Russland als eine «geopolitische Katastrophe» (Putin) wahrgenommen. Russen fanden sich auf einmal als ein geteiltes Volk wieder. Es nimmt wenig wunder, dass die Niederlage des Sowjetreichs einen massenpsychologischen Hintergrund schuf, vor dem das intellektuelle Erbe antiwestlicher Emigranten wie das des Grossmacht-Chauvinisten Iwan Iljin und der Eurasier in den Rang einer Staatsideologie erhoben werden konnte.
Wladimir Putin preist nun die Siege russischer Feldherren im Ersten Weltkrieg und wirft den Bolschewisten, die bekanntlich für die Niederlage des eigenen Lands agitierten, Verrat an nationalen Interessen vor. Die Schreibtisch-Träumer aus den Zentren des russischen Exils liefern nun postum Belege für die höhere moralische Bestimmung des russischen Volkes und seine Bereitschaft, für das Vaterland in der ukrainischen Steppe zu sterben. Ein Jahrhundert nach der Oktoberrevolution haben die Weissen gewonnen.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin. Zuletzt veröffentlichte sie die Romane «Brandgeruch» (Berlin-Verlag, 2011) und «Kaltzeit» (Amazon, 2013). 2004 kam «Wodka: Trinken und Macht in Russland» heraus.
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