Deutschland verstehen, Europa begreifen
Das British Museum zeigt Deutschland einmal nicht aus der Perspektive zweier Weltkriege. Obwohl die assoziative Schau zwangsläufig Mut zur Lücke bezeugt, landet sie einen Überraschungserfolg. Deutschland boomt in London.
von Marion Löhndorf
Maler wie Sigmar Polke und Anselm Kiefer werden derzeit mit umfangreichen Ausstellungen geehrt, im Sommer wurden mit den «Georges», den englischen Königen aus Hannover, deutsch-englische Verwandtschaftsbeziehungen neu entdeckt, und ein blauer Gockel der deutschen Künstlerin Katharina Fritsch thront temporär neben Lord Nelsons Säule auf dem Trafalgar Square. Nun kommt das British Museum dem frisch erblühten englischen Interesse an Deutschland mit einer Schau entgegen, die ebenfalls neue Töne anschlägt. Unter dem Titel «Germany: Memories of a Nation» wird anhand von rund zweihundert Objektgruppen ein in England ungewohntes, zum Positiven neigendes Deutschlandbild präsentiert: nicht aus dem Blickwinkel zweier Weltkriege, sondern mit einem Interesse an der Ausstrahlung des deutschen Staatswesens, der Bedeutung von deutschem Handel und deutscher Kultur in der europäischen Vergangenheit und Gegenwart. Dem lange perpetuierten Zerr- und Feindbild des hässlichen Deutschen eine ganz andersgeartete, differenziertere Darstellung entgegenzusetzen, ist eines der Verdienste dieser Ausstellung. Für das British Museum ist es zudem ungewöhnlich, sich überhaupt einem das Zeitgenössische so stark betonenden Thema zuzuwenden. Und wenn ein so hoch geschätzter Museumsmann wie Hausherr Neil MacGregor sich persönlich einer Ausstellung annimmt, hat das besonderes Gewicht.
Ein Mosaik
Ausgangspunkt ist die jüngere Vergangenheit: der Mauerfall in Videobildern. Dass ein vereinigtes Deutschland keine historische Selbstverständlichkeit ist, kommt gleich zur Sprache. Eine Wand voller unterschiedlicher Münzen steht für die deutsche Kleinstaaterei bis zur Reichsgründung 1871. Von der These einer, wie Neil MacGregor es formuliert, «massiven Dezentralisierung der Macht» ausgehend, wird eine Reihe von Besonderheiten der deutschen Geschichte erklärt – wie etwa die Koexistenz von Protestanten und Katholiken und die daraus resultierende Bewahrung katholischer Kirchenkunst während und nach der Reformation.
Barlach, Schwebender Engel, Güstrow
Aus vielen Teilen wird ein Ganzes: Nach diesem Muster verfährt auch die Ausstellung, die mosaikartig die «Erinnerungen einer Nation» zusammensetzt. Die Abfolge historischer Entwicklungslinien steht dabei keineswegs im Vordergrund, und Zeitsprünge werden in Kauf genommen – zugunsten des Versuchs einer Mentalitätsgeschichte. Objekte in Vitrinen sollen Geschichten erzählen, die sich zu einem Überblick fügen, in dem Widersprüche nicht ausgespart werden. Die Gegenstände fungieren als Erinnerungsträger, sie werden zu Symbolen und veranschaulichen Aspekte einer nationalen Identität, nach der die Schau vor allem fragt.
Bauhaus, Wiege
Barlach, Schwebender Engel, Güstrow
Aus vielen Teilen wird ein Ganzes: Nach diesem Muster verfährt auch die Ausstellung, die mosaikartig die «Erinnerungen einer Nation» zusammensetzt. Die Abfolge historischer Entwicklungslinien steht dabei keineswegs im Vordergrund, und Zeitsprünge werden in Kauf genommen – zugunsten des Versuchs einer Mentalitätsgeschichte. Objekte in Vitrinen sollen Geschichten erzählen, die sich zu einem Überblick fügen, in dem Widersprüche nicht ausgespart werden. Die Gegenstände fungieren als Erinnerungsträger, sie werden zu Symbolen und veranschaulichen Aspekte einer nationalen Identität, nach der die Schau vor allem fragt.
Bauhaus, Wiege
Nach diesem assoziativen Verfahren hat das British Museum schon in der Vergangenheit umfassende Ausstellungen angelegt (so etwa Shakespeare im Jahr 2012). Auch in der Deutschland-Schau finden sich nun wieder aufwendig gearbeitete Kostbarkeiten und Kunstwerke in sozusagen demokratischer Gesellschaft von eher obskuren Objekten. Figuren des spätmittelalterlichen Bildhauers Tilman Riemenschneider, eine Ausgabe der Gutenberg-Bibel – die Erfindung des Buchdrucks bildet als eines der Gründungsereignisse des modernen Europa den historischen Ausgangspunkt der Ausstellung – und ein schäbiger Taucheranzug sind da vereint. Den Neopren-Anzug trug ein Mann bei einem – gescheiterten – Fluchtversuch über die Ostsee aus der ehemaligen DDR. Die Placierung von Ernst Barlachs still schwebendem Bronze-Engel am Ausgang kann als Versöhnungsgeste gelesen werden. («Der Schwebende» entstand zum Gedenken an die Toten des Ersten Weltkriegs, wurde von den Nationalsozialisten eingeschmolzen und überlebte in zwei späteren Abgüssen in Ost- und Westdeutschland.)
Riemenschneider, Apostel
Riemenschneider, Apostel
Dinge zum Reden bringen
Flankiert wird «Germany: Memories of a Nation» von einem Buch gleichen Titels und einem – sehr populären – BBC-Radioprogramm. Das Londoner Goethe-Institut lockt Schüler mit ergänzendem Material und freien Eintritten. Im Radio stellt Neil MacGregor dreissig Ausstellungsobjekte in jeweils fünfzehnminütigen Sendungen vor; im Buch reichert er seine Beschreibungen mit weiteren Erläuterungen an. Ein ideales, vertiefendes Begleitprogramm – so gut gemacht, dass es fast dazu angetan sein könnte, den Ausstellungsbesuch zu ersetzen.
Eingang, KZ Buchenwald
Es geht in der Ausstellung um die Geschichten hinter der Geschichte und das daraus entstehende «Narrativ». Dass die musealen Objekte, die zu Aufhängern solcher Geschichten werden, genau betrachtet werden können, ist dabei ein Bonus. Die Strategie, Museumsstücke zum Reden zu bringen, hatte allerdings, so Neil MacGregor, bestimmte Auslassungen zur Folge: Da etwa Philosophie und Musik nur schwer anhand von «sprechenden» Gegenständen darstellbar seien, blieben diese deutschen Exportartikel weitgehend aussen vor. Werden dann ausserdem noch die in England so überreichlich dokumentierten Weltkriege nur gestreift, beweisen die energischen kuratorischen Entscheidungen grossen Mut zur Lücke.
Die Reichskrone
Die Reichskrone
Nicht ausgespart wird der Holocaust. Eine Replik des Eingangstors von Buchenwald mit der verhöhnenden Inschrift «Jedem das Seine» erinnert daran und erzählt darüber hinaus noch mehr: Das Tor wurde von dem in Buchenwald als Kommunist internierten Grafiker und Architekten Franz Ehrlich entworfen. Ehrlich, der im Büro von Walter Gropius gearbeitet hatte, gestaltete die Tor-Inschrift in einem Akt heimlicher Subversion in dem von den Nationalsozialisten als «entartet» verfemten Bauhausstil. Wie dieses Tor deuten viele Ausstellungsgegenstände komplexe historische Zusammenhänge an. Trotz der nur schlaglichtartigen Erhellung des jeweiligen Themas werden bei der Erläuterung vereinfachende Lesarten vermieden. Die Ausstellungsmacher – Sabrina Ben Aouicha, Barrie Cook und Clarissa von Spee unter Neil MacGregors Leitung – haben sich augenscheinlich sogar insbesondere für Nuanciertes interessiert.
Volkswagen
Volkswagen
Die Wirkungen deutscher Erfindungen, des Handels und künstlerischer Leistungen auf das heutige Europa stehen im Fokus. So wird etwa eine Entwicklungslinie nahegelegt, die von der dezentralen politischen Kultur des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis hin zu Deutschlands heutiger Herangehensweise an die Europäische Union reicht. Die Themen der sich immer wieder verschiebenden Grenzen und der Entstehung einer Nation lagen den Kuratoren besonders am Herzen: die nationale Identität der Deutschen und die Entwicklung der Nationalidee als Erfindung und als romantisches Ideal des 19. Jahrhunderts.
Gutenberg-Bibel
Gutenberg-Bibel
Insgesamt wäre mehr Raum für die Fülle der Objekte gewiss wünschenswert gewesen. Doch hatte sich das Museum gegen den grössten Ausstellungsraum entschieden, da man der Resonanz auf das Thema Deutschland mit Skepsis entgegensah. Tatsächlich aber erweist sich die Schau, die täglich ausverkauft ist, als Überraschungserfolg – bei den Engländern ebenso wie bei deutschsprachigen Besuchern.
Isaac Habrecht, The Strasbourg Clock, AD 1589
Isaac Habrecht, The Strasbourg Clock, AD 1589
«Man kann die Welt von heute nicht verstehen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie die Deutschen die Dinge sehen», sagte MacGregor in einem Interview mit der Sonntagszeitung «The Observer». Er fuhr fort: «Und ganz sicher kann man Europa nicht begreifen, ohne sich darüber klar zu werden, dass es bei den Deutschen einen grossen Widerwillen zur Machtausübung gibt.» Der germanophile schottische Direktor des British Museum spricht selbst Deutsch und kennt das Land bestens. Das Anliegen, seinen Landsleuten ein «anderes» Deutschland zu präsentieren, hat sich aus persönlicher Erfahrung und Anschauung gebildet. So ist ein Projekt in aufklärerischer Absicht entstanden, das dem britischen Publikum Aspekte der deutschen Geschichte vor Augen führt, von denen es bisher kaum wusste – etwa die Vertreibung von 12 bis 14 Millionen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Absicht und ihre Realisierung nahm die britische Presse mit Hochachtung, ja Begeisterung zur Kenntnis. Eine Ausnahme machte der konservative «Daily Telegraph».
Wessen Erinnerungen?
In seiner Kritik fragt der «Telegraph» nicht zu Unrecht, um wessen – immerhin titelgebende – Erinnerungen es sich eigentlich handle, die in «Germany: Memories of a Nation» in Szene gesetzt würden. Die Schau legt doch schliesslich eine (wenn vielleicht auch neue) britische Lesart der deutschen Geschichte vor. Soll es um die bei den Deutschen vermuteten Erinnerungen gehen? Auch die erwähnte Radio-Sendereihe unterstellt «den Deutschen» ein schmeichelhaft hohes Mass an historischem Bewusstsein und sehr gute Kenntnisse der eigenen Geschichte. Vieles darin Erwähnte gehört aber, möchte man einwenden, womöglich nicht zum Kanon des in Deutschland allgemein Bekannten. Auch deutsche Besucher können in der Ausstellung über ihr Land manches erfahren.
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