Die „Anhaltelager“ im austrofaschistischen Staat
Als die Wehrmacht im März 1938 in Österreich einrückte, besetzte sie kein demokratisches Land. Bundeskanzler Dollfuß hatte 1933 einen Ständestaat errichtet, faktisch eine austrofaschistische Diktatur.
Eine Viertelmillion frenetisch jubelnder Menschen hinterlassen einen deutlichen Eindruck. Mindestens so viele Wiener hatten am Mittag des 15. März 1938 auf dem Heldenplatz in Wien Adolf Hitler gefeiert, als er „vor der deutschen Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“ verkündete.
Nicht nur in Wien wurde gejubelt. Insgesamt eine sicher siebenstellige Zahl von Österreichern begrüßte im Frühjahr 1938 das Ende ihres eigenständigen Staates. Wie viele genau der damals etwa 6,7 Millionen Bürger vom Kleinkind bis zum Greis, weiß allerdings niemand: Die NS-Propaganda hatte keinerlei Ambitionen, ein realistisches Meinungsbild zu verbreiten. Im Gegenteil ging es darum, den „Anschluss“ als Willen aller Österreicher außer der erklärten Feinde des Nationalsozialismus darzustellen – sogenannte Marxisten und Juden vor allem.
Öffentlich das vorherige System verteidigen oder auch nur für eine korrekte Bewertung eintreten mochte fast niemand. Bekannte Exponenten waren allerdings auch schon längst festgenommen und wurden vielfach gequält. Einige hatten lieber den Freitod gewählt.
Rund 100.000 Mitglieder der Vaterländischen Front demonstrieren 1935 in Wien
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hatte es in den verbliebenen deutschösterreichischen Kernlanden des vormaligen Habsburger-Reiches eine überwältigende Mehrheit für einen sofortigen Zusammenschluss mit Deutschland gegeben. Die Fehler von 1806 und 1848, als die habsburgische Länder faktisch aus Deutschland ausgeschieden waren, sollten korrigiert werden.
Die nichtdeutschen Teile des ehemaligen Vielvölkerstaates wie Ungarn, Böhmen, Mähren oder Slowenien standen dem nun nicht mehr entgegen. Die Alliierten untersagten allerdings eine solche Vereinigung ausdrücklich, die Kriegsverlierer Österreich und Deutschland mussten sich fügen.
Immer schneller wechselten sich nun die Regierungen im Wiener Bundeskanzleramt am Ballhausplatz, vis-à-vis des Heldenplatzes, nun ab. Weder Carl Vaugoin noch Otto Ender und auch nicht Karl Buresch schafften es, eine stabile Regierung zu bilden.
In dieser Situation beauftragte Österreichs Bundespräsident Wilhelm Miklas im Frühjahr 1932 den erst 39-jährigen Bauern-Funktionär und Agrarfachmann Engelbert Dollfuß mit der Regierungsbildung. Der körperlich kleine Mann (er maß um 1,53 Meter) verfügte im Gegensatz zu seinen Vorgängern über Machtinstinkt und Sendungsbewusstsein – er wollte ein unabhängiges, autoritär regiertes Österreich schaffen, dominiert von katholisch-konservativen Kräften.
Dollfuß machte sich durchaus geschickt an die Durchsetzung seiner Ziele. Er spielte das zerstrittene Parlament aus und berief Emil Fey, den Anführer der Wiener Heimwehr, einer paramilitärischen, pro-österreichischen Bewegung, zum Staatssekretär für innere Sicherheit.
Anfang März 1933 nutzte er einen Geschäftsordnungsstreit im Nationalrat, um die Rechte der Volksvertretung zu suspendieren. Am 15. Mai 1933 ließ er den erneuten Zusammentritt der Parlamentarier mit Gewalt verhindern. Nun herrschte Dollfuß als Diktator.
Da gleichzeitig in Deutschland die Regierung Hitler ihre Macht ausbaute, fiel es Dollfuß nicht schwer, seine katholisch-konservative Anhängerschaft für seinen Weg eines autoritären Regimes zu gewinnen. Die österreichischen Nationalsozialisten waren schon seit 1930 immer wieder mit kleineren Terroranschlägern negativ aufgefallen; sie galten zu Recht als Gefährdung von Ruhe und Ordnung.
Dollfuß lehnte sich jetzt an den zu dieser Zeit ebenfalls noch gegenüber Hitler skeptischen italienischen Machthaber Benito Mussolini an. Mit ihm einigte er sich auf die Abschaffung der demokratischen Institutionen Österreichs und den Aufbau einer neuen, „ständischen“ Verfassung – faktisch einer Diktatur der Christlichsozialen und Teilen der Heimwehren.
Politische Gegner, zunächst vor allem Anhänger der illegalen NSDAP, wurden inhaftiert. Die „Anhaltelager“ hatten allerdings mehr gemein mit Internierungslagern als mit den zeitgleich in Deutschland ausgebauten Konzentrationslagern. Es gab weder Zwangsarbeit noch Folterungen, erst recht keine Hinrichtungen, die bereits seit dem Frühjahr 1933 typisch für deutsche KZs waren. Auch in dieser Hinsicht ähnelte Dollfuß’ Österreich viel mehr dem faschistischen Italien als dem nationalsozialistischen Deutschland.
Deshalb kursieren für das Dollfuß-Regime auch Bezeichnungen wie „Austrofaschismus“ oder „Klerikalfaschismus“. Sie treffen aber die Realität der autoritären Regierung nicht wirklich.
Dollfuß ließ die Heimwehren die Betätigungsmöglichkeiten der Sozialdemokraten weiter einschränken. Am 12. Februar 1934 kam es zur Eskalation: Radikale Teile der Sozialisten wehrten sich, teilweise mit Maschinengewehren, gegen den Versuch der Polizei und der Heimwehren, sie zu entwaffnen. Nach dem gewaltsamen Auftakt in Linz besetzten sie in Wien die größte Sozialwohnungsanlage der Welt, den Karl-Marx-Hof, und lieferten sich mit Ordnungskräften und Bundesheer Feuergefechte.
In den folgenden Monaten verschärfte sich die Konfrontation von Hitler-Deutschland und dem österreichischen Ständestaat weiter. Solange Mussolini Schuschnigg stützte, blieb der Ständestaat einigermaßen stabil. Doch als sich der Diktator in Rom mehr und mehr an Berlin orientierte, musste Schuschnigg im Juli-Abkommen von 1936 faktisch kapitulieren.
Es dauerte dann noch anderthalb Jahre, bis sein keineswegs demokratisches, aber eben dem „Anschluss“ gegenüber äußerst ablehnendes Regime zusammenbrach. Im März 1938 aber war es so weit: Die „Vaterländische Front“, so der Name der Einheitspartei des Ständestaates, hatte ihre letzte Anziehungskraft aufgebraucht – und eine sicher siebenstellige Zahl von Österreichern jubelte dem Motto „Heim ins Reich“ hemmungslos zu.
Stefan Karner (Hrsg.): „Die umkämpfte Republik. Österreich von 1918 bis 1938“. (Studien-Verlag, Innsbruck – Wien. 384 S., 34,90 Euro).
Joseph Buttinger, "Am Beispiel Österreichs – ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der sozialistischen Bewegung", Verlag für Politik und Wirtschaft, Köln 1953.
Nota. - Als journalistisches Schlagwort mag der Ausdruck Austrofaschismus hingehen. Aber als analytischer Begriff zum wissenschaftlichen Gebrauch taugt er nicht. Es war nicht die kleinbürgerlich-radikale Heimwehr, die als Massenbewegung Dollfuß an die Macht gespült hätte, sondern Dollfuß, der die militante, aber marginale Heimwehr als Vaterländische Front kooptierte und mit kirchlichem Segen zu seiner Massenbasis ausbaute. Die eigentliche Zerschlagung der Arbeiterbewegung geschah 1934 weniger durch die Heimwehr als durch das Bundesheer, nachdem der sozialistische Republikanische Schutzbund sich zu einem aussichtslosen Aufstand hatte provozieren lassen.
Faschismus war eine Erscheinung zwischen den Weltkriegen, die nach dem Versagen der Arbeiterbewegung die verwaisten revolutionären Energien als Generalmobilmachung für den Krieg nach außen umlenkte. General- mobilmachung verlangt nach totalitären Formen, das verbindet die Herrschaftsgebilde Hitlers und Mussolinis mit dem Stalinismus. Ohne Blick auf den heraufziehenden Zweiten Weltkrieg ist der Faschismus enbensowenig zu verstehen wie das Stalinregime.
Dies alles trifft weder für das Dollfuß- noch später für das Schuschnigg-Regime zu, die waren beide im eiminenten Sinn konservativ, nämlich defensiv. Nicht einmal rhetorisch gaben sie sich offensiv, sie waren Stillstand und Rückschritt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen