aus Tagesspiegel.de, 1. 3. 2018 Notlazarett des US Army Camps Funston in Kansas 1918
Das Virus, das die Welt veränderte
Vor 100 Jahren tötete die Spanische Grippe über 50 Millionen Menschen -
mit Auswirkungen sogar für die heutige US-Präsidentschaft.
von Sascha Karberg
Die größte Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts? Wer
danach fragt, wird als Antwort fast immer den ersten oder den zweiten
Weltkrieg genannt bekommen. Ein weit größeres Massaker, eines, das nicht
nur vorwiegend Europa, sondern wirklich die ganze Welt betraf und
nachhaltig veränderte, kommt kaum jemandem in den Sinn. Es kostete etwa
50 bis 100 Millionen Menschen das Leben – mehr als der erste (17
Millionen Tote) und der zweite Weltkrieg (60 Millionen) zusammen. Es
starben Männer wie Frauen, vorwiegend im leistungsfähigsten Alter
zwischen 20 und 40 Jahren. Die „Spanische Grippe“ dezimierte die Yupik
in Alaska und die Menschen in der persischen Stadt Maschhad ebenso wie
in New York oder Novosibirsk. Und auch als die weltumspannende
Infektionswelle 1920 endlich stoppte, hinterließ sie überall Spuren. Im
Kleinen waren das traumatisierte und ruinierte Restfamilien oder
überfüllte Waisenhäuser. Aber auch in der großen Politik, etwa dem
Ausgang des ersten Weltkriegs und den Ursachen für den zweiten, sehen
Historiker heute zumindest Zusammenhänge mit dem Massensterben. Trotzdem
ist die Katastrophe aus dem kollektiven Bewusstsein der Völker
verschwunden – kaum jemand kennt noch den Ursprung des Namens „Spanische
Grippe“, obwohl die Öffentlichkeit damals großen Anteil nahm am Ringen
des spanischen Königs Alfons III. mit der Seuche.
Noch immer sind Vögel die Quelle für neue Influenza-Viren
Das Unglück begann mit Albert Gitchell im Camp Funston der US Army in
Kansas. Am Morgen des 4. März 1918 klagte der Soldat in der
Krankenstation über Fieber, Kopfschmerzen und einen rauen Hals. Binnen
Stunden füllte sich das Notlazarett mit über hundert Männern mit den
gleichen Symptomen. Sicher war Gitchell nicht der erste, den die
Spanische Grippe infiziert hatte, eine besonders aggressive Variante des
Influenza-Virus mit dem Kürzel H1N1, wie Forscher heute wissen. Aber er war der erste, der registriert wurde.
Bis heute weiß niemand genau, woher die Viren kamen. Bekannt ist, dass
sich die Erreger in Enten und anderen wildlebenden Vögeln entwickeln.
2002 fand der Grippe-Forscher Jeffrey Taubenberger Erbgutreste der Viren
in Schwarzkopfruder- und Zimtenten, die Naturforscher 1916 irgendwo in
Utah geschossen, präpariert und an das Smithsonian Naturkundemuseum in
Washington geschickt hatten. Diese Vogelgrippe-Viren waren fast
identisch mit jenen Influenza-Viren, die Taubenberger aus Opfern der
Spanischen Grippe isoliert hatte, die die Zeit in Gräbern im
norwegischen Permafrost überdauert hatten. Seitdem gilt es als sehr
wahrscheinlich, dass H1N1 irgendwann vor dem 4. März 1918 vom Vogel auf den Menschen übersprang – und die größte Pandemie der jüngeren Menschheitsgeschichte auslöste.
Jeder dritte Erdbewohner war infiziert
In den zwei Jahren danach infizierten sich schätzungsweise
500 Millionen Menschen mit der Influenza, damals etwa jeder dritte
Erdbewohner. Anfangs überstanden die meisten die Symptome, so wie man
sich bis heute von der saisonalen Grippe erholt. Doch diesmal kam es
anders, die Infektionswelle ebbte nicht ab, sondern kam im Sommer zurück
– aggressiver und tödlicher als je zuvor.
Schon kurz
nach der Ansteckung klagten viele Patienten über Atemnot und
entwickelten eine Lungenentzündung. Wie als ein Markenzeichen des
schweren Verlaufs entwickelten die Patienten zwei rotbraune Flecken auf
ihren Wangen, die sich über das Gesicht ausbreiteten „bis man Farbige
kaum noch von Weißen unterscheiden konnte“, so zitiert die britische
Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney einen US-Militärarzt in ihrem
bemerkenswerten Buch „1918 – Die Welt im Fieber“. Die Ärzte hatten
keinen Schimmer von den Verursachern, Influenzaviren wurden erst 1933
entdeckt. In ihrer Verzweiflung, die Krankheit nicht aufhalten zu
können, klammerten sie sich an eine genaue Beschreibung des Verlaufs.
Solange die Verfärbung des Gesichts rot blieb, schienen die Patienten
eine Chance auf Genesung zu haben. Sobald sich jedoch „eine violette,
lavendel- oder malvenfarbene Nuance ins Rot mischte“ waren die
Aussichten düster, zitiert Spinney aus den Arztberichten. Allmählich
verfärbten sich Hände, Füße und Nägel und am Ende waren auch Bauch und
Oberkörper schwarz – „als ob der Tod von den Fingerspitzen aus vom
ganzen Körper Besitz ergriff.“
Die Trump-Dynastie - ein Produkt der Spanischen Grippe
Das Außergewöhnliche an Spinneys Blick zurück in die Historie der
Spanischen Grippe sind jedoch nicht allein die detailreichen, aus
Augenzeugenberichten von Ärzten und Pflegern und mühsam aus Archiven
zusammengetragenen Beschreibungen der Seuche selbst. Spinney ist es auch
gelungen, ein facettenreiches Bild von den Veränderungen in der
Gesellschaft zu zeichnen, die auf die Pandemie zurückzuführen sind.
Dabei hat sie sich einer Methode bedient, die afrikanische Frauen im
südlichen Afrika nutzen, wenn sie über wichtige Ereignisse im Leben
ihrer Gemeinschaft sprechen. „Sie beschreiben es und umkreisen es dann
(...) und kehren immer wieder zurück, erweitern es und fügen
Erinnerungen und Vorahnungen hinzu“, zitiert Spinney den Historiker
Terence Ranger. Der Autorin gelingt das meisterhaft und bringt dem Leser
damit nicht nur das biologische Phänomen, sondern auch die sozialen,
historischen, geografischen und kulturellen Ebenen der Pandemie näher.
Die wirtschaftlichen Folgen des millionenfachen Todes
lassen sich naturgemäß am einfachsten beziffern. Die amerikanischen
Lebensversicherer etwa mussten fast hundert Millionen Dollar auszahlen –
was heute etwa 20 Milliarden Dollar entspricht. Um die trockene Zahl
ein wenig plausibler zu machen, nennt Spinney ein Beispiel: die Witwe
und den Sohn eines deutschen Einwanderers, der an der Spanischen Grippe
gestorben war, und die ihr Geld in Immobilien investierten. Noch heute
profitiert ihr Enkel davon in einem Ausmaß, dass er Milliardär und sogar
Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden konnte: Donald
Trump.
Die Wissenschaft Demut gelehrt
Spannend
zu lesen sind auch die Auswirkungen der Spanischen Grippe auf das
Vertrauen in die Forschung. „Der Wissenschaft ist es nicht gelungen, uns
zu schützen“, schrieb die New York Times damals. Die Pandemie ließ die
viktorianische Wissenschafts- und Technikgläubigkeit in sich
zusammenfallen, und die Menschen folgten bereitwillig selbsternannt
Propheten, Wunderheilern, Chiropraktikern und Homöopathen. Einen großen
Unterschied machte es ohnehin nicht, denn selbst wenn die Wissenschaft
von den Viren schon gewusst hätte, was hätte sie schon ausrichten
können? „Die viktorianische Wissenschaft hätte die Welt hart, sauber und
kahl hinterlassen, wie eine Mondlandschaft“, zitiert Spinney Arthur
Conan Doyle. Nachdem der Erfinder des wissenschaftlichsten aller
Detektive, Sherlock Holmes, seinen Sohn durch die Spanische Grippe
verloren hatte, wurde er zum Spiritisten, glaubte an „Ektoplasma“ und
meinte fortan: „In Wirklichkeit ist diese Wissenschaft nur ein kleines
Licht in der Dunkelheit und außerhalb dieses begrenzten Lichtkreises
konkreten Wissens werfen gigantische, fantastische Möglichkeiten ständig
so bedrohliche Schatten auf unser Bewusstsein, dass es schwierig ist,
sie zu ignorieren.“ Die Wissenschaften lernten die Demut kennen. Es
könne kein Wissen ohne Ungewissheit geben, sagten etwa Niels Bohr und
Werner Heisenberg in der Dekade nach der Pandemie.
Darf
man diese realistischere Selbstreflexion der Wissenschaft, die Gründung
von Gesundheitssystemen, von Wohlfahrtsorganisationen und den
wirtschaftlichen Aufschwung in den „Goldenen Zwanzigern“ überhaupt als
„positive“ Effekte nach der Seuche bezeichnen – oder wäre das angesichts
von Millionen von Toten und Waisen zynisch? Es wäre wohl eine viel
größere Katastrophe, hätten die Menschen aus der Pandemie nichts
gelernt. Immerhin ist die Menschheit heute gegen die Viren besser
gewappnet – sowohl durch Medikamente, als auch Impfstoffe
und wachsame Gesundheitseinrichtungen, sagt Giovanni Mancarella von der
Europäischen Seuchenbehörde ECDC. Seine Portion Demut hat er jedoch
gelernt: „Aber auch hundert Jahre danach haben wir keinen Mechanismus,
um eine erneute Pandemie völlig auszuschließen.“
Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte. Hanser Verlag 2018, 384 Seiten, 26 Euro.
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