Die Neue Zürcher bringt heute ein großes Interview von Marc Felix Serrao mit dem Historiker Herfried Münkler. Als Quintessenz fasst sie zusammen: «Angela Merkel hat die europäische Gemeinschaft in der Flüchtlingskrise nicht in Gefahr gebracht, sondern gerettet»
... Es gibt einige, die gesagt haben: Wir brauchen eine Erzählung der «Nation Europa». Aber dafür hätte man spätestens in den neunziger Jahren sagen müssen: Es bleibt beim Europa der sechs. Ein paar kleinere Staaten können vielleicht noch dazukommen, aber der gemeinsamen Identitätserzählung zuliebe bleibt das Projekt auf Deutschland, Frankreich, Italien und die Randbereiche begrenzt. Dann hat man auf Portugal, Spanien und Griechenland geschaut und gesagt: Die haben sich gerade aus Diktaturen herausgearbeitet, die können wir nicht alleinlassen. Später, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, folgte der mitteleuropäische Raum. Man ist bei den verschiedenen Runden der EU-Erweiterung den operativen Erfordernissen gefolgt. Die Erzählung ist dabei in Vergessenheit geraten. Jetzt haben wir ein Gebilde, das kaum noch steuerbar ist.
Sie haben als Lösung eine EU der unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorgeschlagen, mit Deutschland als «freundlichem Hegemon».
Die Alternative dazu ist ein Zustand fortgesetzter Agonie, in dem sich ein Problem aufs nächste legt. Die Schuldenkrise ist nicht gelöst, die Flüchtlingskrise ebenfalls. In beiden Fällen wurde nur Zeit gekauft.
Ihrer Meinung nach akzeptiert die Peripherie die deutsche Vormachtstellung nicht trotz, sondern wegen der nationalsozialistischen Vergangenheit, weil sie das Land aussenpolitisch zähmt.
Ich habe von einem verwundbaren Semi-Hegemon gesprochen. Die kluge, zurückhaltende Art, mit der Frau Merkel auftritt, passt dazu.
Was ist klug an Merkels Politik?
Sie hält einen schwierigen Laden zusammen, indem sie laufend in die «common goods» investiert, die Gemeinschaftsgüter der EU. Das widerspricht den Imperialismus-Theorien mit ihrer Vorstellung eines Zentralakteurs, der die Ränder aussaugt.
Die Osteuropäer durften sich wegen ihres Widerspruchs in der Flüchtlingspolitik moralische Standpauken anhören. War das klug und zurückhaltend?
Frau Merkel hätte die Grenze im September 2015 dichtmachen und auf die Dublin-III-Verordnung verweisen können. Dann hätten sich die Menschen südöstlich von Ungarn gestaut, in einem Gebiet, auf dem kurz zuvor erst ein Krieg mühsam beendet worden war. Indem die Kanzlerin das Territorium der Bundesrepublik als Überlaufbecken für die Balkanroute eingerichtet hat, hat sie Europa gerettet.
Aber doch nur für einen kurzen Moment. Die Grenzöffnung hat anschliessend als gewaltiger Pull-Faktor gewirkt.
Es gab das Konzept eines Dreischritts. Erstens: Die Leute kommen nach Deutschland. Zweitens: Die europäischen Grenzen werden gesichert; das ist relativ früh verhandelt worden, hat aber lange gedauert, weil die geopolitische Funktion der Türkei nicht gleich allen klar war. Drittens: Die Flüchtlinge werden in Europa verteilt.
Der zweite Schritt klappt kaum, der dritte gar nicht. War es nicht naiv, anzunehmen, dass sich die Migranten trotz dem riesigen wohlfahrtsstaatlichen Gefälle freiwillig über die EU verteilen lassen würden?
Das Problem ist die Haltung der Visegrad-Staaten, die sagen: Bei uns kommt keiner rein. Die Verteilung könnte man administrativ schon lösen. Aber die machen halt nicht mit. ...
Nota. - Münkler hat gottlob einen weiteren Blick als vorgeblich konservativen Kleinkrämer und Besitzstands- wahrer. Doch weit genug ist er nicht: "Aber die machen halt nicht mit."
Na das war doch abzusehen, dass die andern nicht freiwillig mitmachen würden! Und deswegen war es nötig, dass Merkel vollendete Tatsachen schuf und sie in Zugzwang brachte. Denn ohne dies hätte auch sonst keiner "mitgemacht", schon gar nicht die im Mark rassistischen Franzosen. Die immerhin müssen jetzt unter den ihnen von Frau Merkel gegebenen Umständen "mitmachen", bei der Präsidentschaftswahl sind ihnen die Augen auf- gegangen und sie mussten sich entscheiden. Ohne Merkel wäre ein Macron gar nicht erst in die Stichwahl ge- kommen. Aber gut Ding will Weile haben, doch immerhin sind die Visegrad-Staaten in Europa jetzt in der De- fensive. Ohne Merkel wären wir heute alle Visegrad.
Es geht eben doch, Herfried Münkler, um mehr als ein 'Kerneuropa'. Es ist kein politisch-diplomatisches Ding. Abendland, das sagt er im Inteview, mag er nicht hören. Da ist sein Blick eben doch zu eng. Man könnte auch Westen sagen, aber dass dessen Grundstein nicht in Amerika liegt, muss mit Trump doch auch ihm klargeworden sein. Die Flüchtlingsmassen strömen nach Europa, weil es am nächsten liegt und weil's uns gutgeht. Doch was wir mit ihnen machen, müssen wir als Abendland entscheiden, als diejenigen, die Völkerrecht, Menschenrechte, Rechtsstaat und die Verantwortlichkeit der Staaten vor den Menschen erfunden und, woran Trump uns noch rechtzeitig erinnert hat, zu hüten haben. Eine 'Große Erzählung' ist das nicht; aber Poesie hat es schon.
Merke: Abendland ist keine Erinnerung, sondern eine Verheißung.
JE
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