Sonntag, 18. März 2018

"Die Ostdeutschen haben eine andere Wahrnehmung des Staates."

Der Tagesspiegel bringt heute ein Interview mit Christian Hirte, dem neuen Ostbeauftragten der Bundesregierung. Daraus:

... Die Ostdeutschen haben eine andere Wahrnehmung des Staates. Sie sind mit einem Staat sozialisiert worden, der allgegenwärtig und für alles verantwortlich war. Das prägt in beide Richtungen: Man ist staatlichen Bevor- mundungen gegenüber besonders kritisch und hat gleichzeitig besonders hohe Erwartungen an den Staat. Dazu kommt, dass wir nach dem Fall der Mauer gewaltige gesellschaftliche Umbrüche erlebt haben. Meine Familie hat Glück gehabt, mein Vater hat sich selbstständig gemacht, meine Mutter war im Krankenhaus tätig. Aber um uns herum haben die meisten harte Zeiten erlebt. Jobverlust, Unsicherheit in sozialen Bindungen. Niemand im Westen kann sich vorstellen, wie das ist, wenn um einen herum alles zusammenbricht, es keinerlei Gewissheit aus Erfahrung gibt und Sorgen um die Zukunft. Selbst der harte Strukturwandel im Ruhrgebiet ist dagegen eine harmlose Veranstaltung. ...


Nota. - Jörg Seebohm hat seinerzeit Skandal gemacht, als er von einer "Zwangsproletarisierung" in der DDR sprach. In der Sache hatte er Unrecht. Es handelte sich um eine Zwangsklientifizierung, die einem feudalen Gesellschaftstyp angehört - und einem totalitär-bürokratischen. Sie hält die Menschen in Unmündigkeit, indem sie ihnen jede Verantwortung für ihr persönlichstes Leben wegnimmt und an ein prekäres Rundumversorgtwer- den auf niedrigem Niveau gewöhnt. Zufrieden sind sie nicht, denn den drückenden Mangel an Betätigung kön- nen sie nicht, wie in Huxleys Neuen Welt, durch Mehr onsum kompensieren, dafür ist alles zu knapp. Sie müs- sen ihren Unmut unmerklich ablassen, durch passiven Widerstand vorn und Aufsässigkeit hinten, und wie im- mer: untätig.

Das Entscheidende: Sie haben sich diese Gesellschaftsform nicht durch eine Revolution vom Hals geschafft, indem sie Altes zerbrochen und mühsam Neues selber aufgebaut hätten. Sie sind auch diesmal quasi bedient worden. Das Neue trat fix und fertig an Stelle des Alten. Ihre eigne, subjektive Beteiligung bestand lediglich in einem jahrelangen Schwindelgefühl.

Nun ist langsam Ruhe eingekehrt. Ansprüchlichkeit vorn wie immer, aber Aufsässigkeit nicht mehr hintenrum, sondern auch vorn, und ganz laut, denn es ist nicht mehr verboten. Klientifizierung ist Infantilisierung.

Das klingt bitter, und so meine ich es auch. Ich gebe aber zu: Sie hatten kaum eine andere Chance. Sollte mit der Gesellschaftsform auch die Mentalität verändert werden, war eine Volksrevolution unumgänglich, und ob man die 'friedlich' haben konnte, ist fraglich.
JE


Nachzutragen wäre:

Sie kamen in eine Kultur, in der die politisch korrekte Haltung zum Gemeinwesen in Anmahnen und Einfordern bestand. Das war ihnen lieb und vertraut, das mussten sie nicht erst lernen. Dass sie sich heute gegen die dazu- gehörige Gesinnungskontrolle und Sprachregelung wehren, muss man ihnen unter diesen Umständen fast schon zugute halten. (Meinen Sie, das wär sarkastisch gemeint? Nicht nur.)
JE




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