100 Jahre russische Revolution
Revolutionsjubiläum ohne Held
Lenin rückt an den Rand: Wie wird Russland im nächsten Jahr die historische Zäsur von 1917 feiern?
Im kommenden Jahr jährt sich die russische Revolution zum hundertsten Mal. Das Jubiläum stellt die staatliche Regelkultur vor grosse Probleme. Einerseits kann man das zentrale Ereignis der Sowjetgeschichte nicht einfach übergehen, andererseits fürchtet der Kreml seit geraumer Zeit eine Farbrevolution nach georgischem, ukrainischem oder kirgisischem Vorbild. Man hat sich deshalb entschlossen, die Revolution mit einem Konzept aus dem frühen 17. Jahrhundert – der Zeit der Wirren – zu überblenden und als Zeit eines schwierigen Übergangs zwischen dem starken Zarenreich und der starken Sowjetunion zu beschreiben.
Der
Revolutionsführer Lenin rückt dabei in den Hintergrund. Einzelne
Ereignisse wie die Februarrevolution, der bolschewistische
Oktoberumsturz und der Bürgerkrieg werden von den Bildungspolitikern im
Konzept der «Grossen Russländischen Revolution» (die von 1917 bis 1922
dauerte) zusammengefasst.
Eine programmatische Rede des Kulturministers
Im November 2015 legte der Kulturminister Wladimir Medinski
in einer programmatischen Rede das verbindliche Deutungsmuster für die
Revolutionsfeiern von 2017 fest. Dabei definierte er als Leitmotiv der
Erinnerung nicht etwa den politischen Umsturz, sondern die Versöhnung
der Konfliktparteien. Medinski setzte wiederholt den Begriff der
«Wirren» ein und bezog sich damit auf das schwierige Interregnum in der
russischen Geschichte vor der Thronbesteigung der Romanows im Jahr 1613.
Die Revolution erscheint damit nicht mehr als Mythos der Gründung einer
gerechteren Gesellschaft, sondern als Störfaktor in einem
übergeordneten imperialen Projekt.
Medinski
hob hervor, dass sowohl die Weissen als auch die Roten im russischen
Bürgerkrieg von einem heiligen Patriotismus beseelt gewesen seien. Es
gehe deshalb im historischen Rückblick nicht darum, eine Seite gegen die
andere auszuspielen. Gesiegt habe im Bürgerkrieg das historische
Russland, das als einheitlicher Sowjetstaat wiederauferstanden sei.
Damit präfiguriere der frühe Sowjetstaat das erneute Erstarken des
russischen Staates, wie man es zu Beginn des 21. Jahrhunderts beobachten
könne.
Diesen
Bogen schlug Medinski ein zweites Mal, indem er Putins Vorschlag
aufnahm, auf der Krim ein Denkmal der Versöhnung zu errichten. Der
doppelte historische Sinn ist offensichtlich: Einerseits endete auf der
Krim der Bürgerkrieg mit dem Sieg der Roten Armee, andererseits soll das
Versöhnungsdenkmal einen Schlussstrich unter die gewaltsame Annexion
der Halbinsel im Februar 2014 ziehen. Aussenminister Sergei Lawrow hat
sich in der Zeitschrift «Russia in Global Affairs» auch zu diesem Thema
geäussert.
Lawrow meinte, es
sei falsch, die russische Revolution auf einen barbarischen Coup zu
reduzieren. Ähnlich wie bei der Französischen Revolution müsse man
Terror und zivilisatorische Errungenschaften gegeneinander abwägen. Der
Vergleich der «Grossen Russländischen Revolution» mit der Französischen
Revolution taucht auch in neueren Arbeiten russischer Historiker auf.
Dabei verweisen sie auf die girondistische, jakobinische und
bonapartistische Phase und parallelisieren diese Abfolge mit derjenigen
von Februarrevolution, Oktoberumsturz und Stalinisierung.
Der
Vergleich mit der Französischen Revolution hat den Vorteil, dass man
aufgrund einer Strukturähnlichkeit der Ereignisse gewissermassen von
einer zivilisatorischen Dividende profitieren kann. Im französischen
Fall wären dies die republikanische Regierungsform, die Menschenrechte
und der Code civil. Im russischen Fall kann man auf sozialistische
Gesellschaftsideale, ein ausgebautes Sozialsystem und Bildungsoffensiven
verweisen. Die aktuelle Neukonzeption unterscheidet sich von der
sowjetischen Erinnerungskultur vor allem durch die Marginalisierung des
Revolutionsführers Lenin.
Medinski
selbst hatte noch als Duma-Abgeordneter die Entfernung Lenins aus dem
Mausoleum auf dem Roten Platz und seine Beerdigung gefordert. Medinski
begründete seinen Vorstoss damals mit den Vorschriften der
russisch-orthodoxen Kirche. Die religiöse Dimension mag tatsächlich eine
Rolle gespielt haben. Wichtiger aber ist natürlich die symbolische
Bedeutung: Lenin soll als Halbgott der kommunistischen Ideologie
entthront und als gewöhnlicher Sterblicher seinem irdischen Schicksal
zugeführt werden. Lenins Überhöhung in der jungen Sowjetunion äusserte
sich in der Gründung eines eigenen Instituts, das mit der Erforschung
von Lenins Hirn beauftragt wurde und die neurologischen Grundlagen des
neuen Sowjetmenschen definieren sollte.
Putin gegen Lenin
Mittlerweile
hat sich auch Präsident Putin kritisch über Lenin geäussert. Er
kritisierte ihn als grausamen Aufrührer, der die Zarenfamilie und
Tausende von Priestern ermordet habe. Ausserdem habe er eine Zeitbombe
unter den einheitlichen Staat gelegt, indem er willkürliche Grenzen
durch das sowjetföderalistische Territorium gezogen habe. Diese Bombe
sei im Jahr 1991 explodiert, als sich die einzelnen Sowjetrepubliken
unabhängig erklärt hätten. Gleichzeitig warnte Putin aber vor einer
Spaltung der Gesellschaft, die durch eine allzu hastige Entfernung
Lenins aus dem Mausoleum hervorgerufen werden könnte.
Obwohl
Lenin an den Rand gedrängt wird, erlebt seine Konzeption der Revolution
eine Wiedergeburt. Bereits nach den Unruhen von 1905 hatte Lenin
folgenden Gedanken geäussert: Im rückständigen Russland werde zunächst
eine bürgerlich-demokratische Revolution ausbrechen, die sich dann in
eine proletarisch-sozialistische Revolution verwandle. Diese
Argumentationsfigur spiegelt die grundsätzlichen Probleme, die sich für
die russischen Revolutionäre bei der «Anwendung» der marxistischen
Theorie stellten.
Aus Marx'
Sicht war nicht der Wille der Revolutionäre die treibende Kraft in der
Geschichte, sondern das eherne Gesetz der ökonomischen
Produktionsverhältnisse. Die Entwicklung vom Kapitalismus zum
Sozialismus konnte deshalb nicht durch revolutionäre Agitation
beschleunigt werden, sondern erfolgte in einem Schub, wenn die Zeit reif
war. Marx formulierte diesen Zusammenhang prägnant: «Revolutionen sind
die Lokomotiven der Geschichte.» Lenin war zwar zunächst ein überzeugter
Marxist, erwies sich aber letztlich als Pragmatiker der Macht. Im Jahr
1917 musste er sich entscheiden, ob er auf die marxistische Theorie oder
den revolutionären Kampf verzichten wollte.
In seinen berühmten Aprilthesen rief
er zum bewaffneten Aufstand auf. Die Bolschewiki putschten gegen die
provisorische Regierung – beim zweiten [?] Versuch im Oktober waren sie
erfolgreich. – Die heutige Sicht des Kremls auf die Oktoberrevolution
stellt eine widersprüchliche Mischung aus Bestätigung und Kritik von
Lenins Ansatz dar. Die Vereinigung der «Februarphase» und der
«Oktoberphase» zu einer «Grossen Russländischen Revolution» ist nicht
mehr wie bei Lenin aus der Not geboren, eine kurze
bürgerlich-kapitalistische Epoche in die marxistische Heilsgeschichte
einzuführen.
Lew Gumiljow und der Eurasismus
Die
neue Konzeption basiert gerade nicht auf Teleologie, sondern auf
Statik. Betont wird dabei die Konstanz der russischen Staatlichkeit, die
für kurze Zeiträume erschüttert werden kann, aber letztlich gestärkt
aus allen Krisen hervorgeht. Das marxistische Konzept des
«Klassenkampfes» spielt in der aktuellen Geschichtsdeutung keine Rolle
mehr. An seine Stelle tritt der Begriff der «Passionarität», der in den
fünfziger Jahren vom Vordenker des Eurasismus, Lew Gumiljow, entwickelt
wurde. Gumiljows Theorie stellt das genaue Gegenteil von Marx'
Geschichtsdeterminismus dar. Er begreift die Geschichte als Kampfplatz
verschiedener Völker, die über unterschiedliche «passionarische»
Energien verfügen. Damit gemeint ist die Fähigkeit, nationale Interessen
gegenüber Konkurrenten durchzusetzen und so eine globale Führungsrolle
zu übernehmen.
Putin
erwähnte Gumiljows Theorie explizit in seiner Rede zur Lage der Nation
im Jahr 2012 und begründete damit seinen Aufruf, Russland müsse «nach
vorne» streben. Die Leitkategorie in der aktuellen Geschichtspolitik ist
mithin nicht mehr die «Klasse», sondern der «Staat», der über eine
starke Führung verfügen muss. Die «passionarische» Energie kann sich in
den unterschiedlichsten Figuren verkörpern. Entsprechend bunt sieht das
Pantheon der Helden aus, denen heute besondere Aufmerksamkeit
entgegengebracht wird: Fürst Wladimir, Dschingis Khan, Iwan der
Schreckliche, Alexander III., Pjotr Stolypin, Stalin.
Ambivalenz schon 2015
Die
Ambivalenz, die sich in der Erinnerungskultur mit der Revolution von
1917 verbindet, zeigte sich bereits im Jahr 2015. Damals organisierte
der Kreml eine historische Rekonstruktion der Revolutionsfeiern im
belagerten Moskau 1941. Durch diese Verschiebung war es möglich, das
heikle Kapitel der Revolution ganz im dominanten Thema der offiziellen
Geschichtspolitik, dem Sieg über Hitlerdeutschland, aufgehen zu lassen.
Die Parade der Soldaten in historischen Rotarmisten-Uniformen war
natürlich auch eine historische Allegorie: Den Zuschauern sollte
suggeriert werden, dass man sich heute ebenfalls in einem
Belagerungszustand befinde und dass nationale Einigkeit zum Sieg führen
werde. Man darf gespannt auf die russische Inszenierung der
Revolutionsfeiern von 2017 sein.
Einen
Vorgeschmack auf die eklektische Kulturpolitik des Kremls hatte bereits
die Eröffnungsfeier der Winterspiele in Sotschi 2013 gegeben. Hier
wurde fast alles, was Rang und Namen hatte, für die Grösse der
russischen Nation in Anspruch genommen: vom Kosmonauten Gagarin über den
Kunstmaler Malewitsch bis zum Kommunistenfresser Nabokov. Lenin war
nicht dabei.
Nota. - Die Theorie dere 'Revolution in Etappen' - erst wenn die bürgerliche Revolution erledigt wäre, sei an die proletarische zu denken - war eine frühe Verballhornung der Marx'schen Geschichtsauffassung durch die 'zentristischen' Dogmatiker der deutschen Sozialdemokratie; von den stalinistischen Epigonen wurde sie neu aufgewärmt.
Von Marx stammt vielmehr die Theorie der permanenten Revolution, aktualisiert und auf die konkrete russische Situation bezogen von Leo Trotzki in seiner Schrift über die russische Revolution von 1905.
Trotzki brauchte sich nicht 'auf Lenins Seite zu stellen', wie es auf YouTube heißt: Es waren umgekehrt Lenin, der sich mit seinen Aprilthesen auf die Seite Trotzkis geschlagen hat. Trotzki war als Vorsitzendere der Petrograder Sowjets Leiter des Revolutionären Militärkomitees, er hat in dieser Eigenschaft den Oktober- umsturz organisiert und ausgeführt. Er war der Gründer der Roten Armee und der Sieger des Bürgerkriegs.
Die Machtübernahme Stalins war die russische Konterrevolution, Trotzkis Ermordung durch einen Abgesandten Stalins war ihr Schlussstein. Sie war auch der Anfng vom Ende der Weltrevolution.
Trotzki brauchte sich nicht 'auf Lenins Seite zu stellen', wie es auf YouTube heißt: Es waren umgekehrt Lenin, der sich mit seinen Aprilthesen auf die Seite Trotzkis geschlagen hat. Trotzki war als Vorsitzendere der Petrograder Sowjets Leiter des Revolutionären Militärkomitees, er hat in dieser Eigenschaft den Oktober- umsturz organisiert und ausgeführt. Er war der Gründer der Roten Armee und der Sieger des Bürgerkriegs.
Die Machtübernahme Stalins war die russische Konterrevolution, Trotzkis Ermordung durch einen Abgesandten Stalins war ihr Schlussstein. Sie war auch der Anfng vom Ende der Weltrevolution.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen