Dienstag, 8. November 2016

100 Jahre "Große Russländische Revolution".

aus nzz.ch, 8.11.2016, 18:54 Uhr

100 Jahre russische Revolution 
Revolutionsjubiläum ohne Held 
Lenin rückt an den Rand: Wie wird Russland im nächsten Jahr die historische Zäsur von 1917 feiern?

von Ulrich M. Schmid

Im kommenden Jahr jährt sich die russische Revolution zum hundertsten Mal. Das Jubiläum stellt die staatliche Regelkultur vor grosse Probleme. Einerseits kann man das zentrale Ereignis der Sowjetgeschichte nicht einfach übergehen, andererseits fürchtet der Kreml seit geraumer Zeit eine Farbrevolution nach georgischem, ukrainischem oder kirgisischem Vorbild. Man hat sich deshalb entschlossen, die Revolution mit einem Konzept aus dem frühen 17. Jahrhundert – der Zeit der Wirren – zu überblenden und als Zeit eines schwierigen Übergangs zwischen dem starken Zarenreich und der starken Sowjetunion zu beschreiben.

Der Revolutionsführer Lenin rückt dabei in den Hintergrund. Einzelne Ereignisse wie die Februarrevolution, der bolschewistische Oktoberumsturz und der Bürgerkrieg werden von den Bildungspolitikern im Konzept der «Grossen Russländischen Revolution» (die von 1917 bis 1922 dauerte) zusammengefasst.


Eine programmatische Rede des Kulturministers

Im November 2015 legte der Kulturminister Wladimir Medinski in einer programmatischen Rede das verbindliche Deutungsmuster für die Revolutionsfeiern von 2017 fest. Dabei definierte er als Leitmotiv der Erinnerung nicht etwa den politischen Umsturz, sondern die Versöhnung der Konfliktparteien. Medinski setzte wiederholt den Begriff der «Wirren» ein und bezog sich damit auf das schwierige Interregnum in der russischen Geschichte vor der Thronbesteigung der Romanows im Jahr 1613. Die Revolution erscheint damit nicht mehr als Mythos der Gründung einer gerechteren Gesellschaft, sondern als Störfaktor in einem übergeordneten imperialen Projekt.

Medinski hob hervor, dass sowohl die Weissen als auch die Roten im russischen Bürgerkrieg von einem heiligen Patriotismus beseelt gewesen seien. Es gehe deshalb im historischen Rückblick nicht darum, eine Seite gegen die andere auszuspielen. Gesiegt habe im Bürgerkrieg das historische Russland, das als einheitlicher Sowjetstaat wiederauferstanden sei. Damit präfiguriere der frühe Sowjetstaat das erneute Erstarken des russischen Staates, wie man es zu Beginn des 21. Jahrhunderts beobachten könne.


Diesen Bogen schlug Medinski ein zweites Mal, indem er Putins Vorschlag aufnahm, auf der Krim ein Denkmal der Versöhnung zu errichten. Der doppelte historische Sinn ist offensichtlich: Einerseits endete auf der Krim der Bürgerkrieg mit dem Sieg der Roten Armee, andererseits soll das Versöhnungsdenkmal einen Schlussstrich unter die gewaltsame Annexion der Halbinsel im Februar 2014 ziehen. Aussenminister Sergei Lawrow hat sich in der Zeitschrift «Russia in Global Affairs» auch zu diesem Thema geäussert.

Lawrow meinte, es sei falsch, die russische Revolution auf einen barbarischen Coup zu reduzieren. Ähnlich wie bei der Französischen Revolution müsse man Terror und zivilisatorische Errungenschaften gegeneinander abwägen. Der Vergleich der «Grossen Russländischen Revolution» mit der Französischen Revolution taucht auch in neueren Arbeiten russischer Historiker auf. Dabei verweisen sie auf die girondistische, jakobinische und bonapartistische Phase und parallelisieren diese Abfolge mit derjenigen von Februarrevolution, Oktoberumsturz und Stalinisierung.

Der Vergleich mit der Französischen Revolution hat den Vorteil, dass man aufgrund einer Strukturähnlichkeit der Ereignisse gewissermassen von einer zivilisatorischen Dividende profitieren kann. Im französischen Fall wären dies die republikanische Regierungsform, die Menschenrechte und der Code civil. Im russischen Fall kann man auf sozialistische Gesellschaftsideale, ein ausgebautes Sozialsystem und Bildungsoffensiven verweisen. Die aktuelle Neukonzeption unterscheidet sich von der sowjetischen Erinnerungskultur vor allem durch die Marginalisierung des Revolutionsführers Lenin.

Medinski selbst hatte noch als Duma-Abgeordneter die Entfernung Lenins aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz und seine Beerdigung gefordert. Medinski begründete seinen Vorstoss damals mit den Vorschriften der russisch-orthodoxen Kirche. Die religiöse Dimension mag tatsächlich eine Rolle gespielt haben. Wichtiger aber ist natürlich die symbolische Bedeutung: Lenin soll als Halbgott der kommunistischen Ideologie entthront und als gewöhnlicher Sterblicher seinem irdischen Schicksal zugeführt werden. Lenins Überhöhung in der jungen Sowjetunion äusserte sich in der Gründung eines eigenen Instituts, das mit der Erforschung von Lenins Hirn beauftragt wurde und die neurologischen Grundlagen des neuen Sowjetmenschen definieren sollte.

Putin gegen Lenin

Mittlerweile hat sich auch Präsident Putin kritisch über Lenin geäussert. Er kritisierte ihn als grausamen Aufrührer, der die Zarenfamilie und Tausende von Priestern ermordet habe. Ausserdem habe er eine Zeitbombe unter den einheitlichen Staat gelegt, indem er willkürliche Grenzen durch das sowjetföderalistische Territorium gezogen habe. Diese Bombe sei im Jahr 1991 explodiert, als sich die einzelnen Sowjetrepubliken unabhängig erklärt hätten. Gleichzeitig warnte Putin aber vor einer Spaltung der Gesellschaft, die durch eine allzu hastige Entfernung Lenins aus dem Mausoleum hervorgerufen werden könnte.

Obwohl Lenin an den Rand gedrängt wird, erlebt seine Konzeption der Revolution eine Wiedergeburt. Bereits nach den Unruhen von 1905 hatte Lenin folgenden Gedanken geäussert: Im rückständigen Russland werde zunächst eine bürgerlich-demokratische Revolution ausbrechen, die sich dann in eine proletarisch-sozialistische Revolution verwandle. Diese Argumentationsfigur spiegelt die grundsätzlichen Probleme, die sich für die russischen Revolutionäre bei der «Anwendung» der marxistischen Theorie stellten.

Aus Marx' Sicht war nicht der Wille der Revolutionäre die treibende Kraft in der Geschichte, sondern das eherne Gesetz der ökonomischen Produktionsverhältnisse. Die Entwicklung vom Kapitalismus zum Sozialismus konnte deshalb nicht durch revolutionäre Agitation beschleunigt werden, sondern erfolgte in einem Schub, wenn die Zeit reif war. Marx formulierte diesen Zusammenhang prägnant: «Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte.» Lenin war zwar zunächst ein überzeugter Marxist, erwies sich aber letztlich als Pragmatiker der Macht. Im Jahr 1917 musste er sich entscheiden, ob er auf die marxistische Theorie oder den revolutionären Kampf verzichten wollte.

In seinen berühmten Aprilthesen rief er zum bewaffneten Aufstand auf. Die Bolschewiki putschten gegen die provisorische Regierung – beim zweiten [?] Versuch im Oktober waren sie erfolgreich. – Die heutige Sicht des Kremls auf die Oktoberrevolution stellt eine widersprüchliche Mischung aus Bestätigung und Kritik von Lenins Ansatz dar. Die Vereinigung der «Februarphase» und der «Oktoberphase» zu einer «Grossen Russländischen Revolution» ist nicht mehr wie bei Lenin aus der Not geboren, eine kurze bürgerlich-kapitalistische Epoche in die marxistische Heilsgeschichte einzuführen.

Lew Gumiljow und der Eurasismus

Die neue Konzeption basiert gerade nicht auf Teleologie, sondern auf Statik. Betont wird dabei die Konstanz der russischen Staatlichkeit, die für kurze Zeiträume erschüttert werden kann, aber letztlich gestärkt aus allen Krisen hervorgeht. Das marxistische Konzept des «Klassenkampfes» spielt in der aktuellen Geschichtsdeutung keine Rolle mehr. An seine Stelle tritt der Begriff der «Passionarität», der in den fünfziger Jahren vom Vordenker des Eurasismus, Lew Gumiljow, entwickelt wurde. Gumiljows Theorie stellt das genaue Gegenteil von Marx' Geschichtsdeterminismus dar. Er begreift die Geschichte als Kampfplatz verschiedener Völker, die über unterschiedliche «passionarische» Energien verfügen. Damit gemeint ist die Fähigkeit, nationale Interessen gegenüber Konkurrenten durchzusetzen und so eine globale Führungsrolle zu übernehmen.
Putin erwähnte Gumiljows Theorie explizit in seiner Rede zur Lage der Nation im Jahr 2012 und begründete damit seinen Aufruf, Russland müsse «nach vorne» streben. Die Leitkategorie in der aktuellen Geschichtspolitik ist mithin nicht mehr die «Klasse», sondern der «Staat», der über eine starke Führung verfügen muss. Die «passionarische» Energie kann sich in den unterschiedlichsten Figuren verkörpern. Entsprechend bunt sieht das Pantheon der Helden aus, denen heute besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht wird: Fürst Wladimir, Dschingis Khan, Iwan der Schreckliche, Alexander III., Pjotr Stolypin, Stalin.

Ambivalenz schon 2015

Die Ambivalenz, die sich in der Erinnerungskultur mit der Revolution von 1917 verbindet, zeigte sich bereits im Jahr 2015. Damals organisierte der Kreml eine historische Rekonstruktion der Revolutionsfeiern im belagerten Moskau 1941. Durch diese Verschiebung war es möglich, das heikle Kapitel der Revolution ganz im dominanten Thema der offiziellen Geschichtspolitik, dem Sieg über Hitlerdeutschland, aufgehen zu lassen. Die Parade der Soldaten in historischen Rotarmisten-Uniformen war natürlich auch eine historische Allegorie: Den Zuschauern sollte suggeriert werden, dass man sich heute ebenfalls in einem Belagerungszustand befinde und dass nationale Einigkeit zum Sieg führen werde. Man darf gespannt auf die russische Inszenierung der Revolutionsfeiern von 2017 sein.

Einen Vorgeschmack auf die eklektische Kulturpolitik des Kremls hatte bereits die Eröffnungsfeier der Winterspiele in Sotschi 2013 gegeben. Hier wurde fast alles, was Rang und Namen hatte, für die Grösse der russischen Nation in Anspruch genommen: vom Kosmonauten Gagarin über den Kunstmaler Malewitsch bis zum Kommunistenfresser Nabokov. Lenin war nicht dabei. 


Nota. - Die Theorie dere 'Revolution in Etappen' - erst wenn die bürgerliche Revolution erledigt wäre, sei an die proletarische zu denken - war eine frühe Verballhornung der Marx'schen Geschichtsauffassung durch die 'zentristischen' Dogmatiker der deutschen Sozialdemokratie; von den stalinistischen Epigonen wurde sie neu aufgewärmt.

Von Marx stammt vielmehr die Theorie der permanenten Revolution, aktualisiert und auf die konkrete russische Situation bezogen von Leo Trotzki in seiner Schrift über die russische Revolution von 1905.

Trotzki brauchte sich nicht 'auf Lenins Seite zu stellen', wie es auf YouTube heißt: Es waren umgekehrt Lenin, der sich mit seinen Aprilthesen auf die Seite Trotzkis geschlagen hat. Trotzki war als Vorsitzendere der Petrograder Sowjets Leiter des Revolutionären Militärkomitees, er hat in dieser Eigenschaft den Oktober- umsturz organisiert und ausgeführt. Er war der Gründer der Roten Armee und der Sieger des Bürgerkriegs.

Die Machtübernahme Stalins war die russische Konterrevolution, Trotzkis Ermordung durch einen Abgesandten Stalins war ihr Schlussstein. Sie war auch der Anfng vom Ende der Weltrevolution.


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