Umbesetzungen in Russland
Putin spielt mit seinen Vasallen
Russlands Elite ist im Umbruch: Jüngere Kaderleute lösen langjährige politische Schwergewichte ab. Entscheidend ist die Frage, ob sich der Konsens im Machtapparat aufrechterhalten lässt.
Dunkel ist es, kühl. Der geschliffene Granit schimmert tiefrot. Eine Stiege führt in die Gruft, zuerst links, dann dreimal rechts. Der Raum tut sich auf, und der Blick fällt auf Lenin im mächtigen Glassarg. 1924 verstorben, liegt der kommunistische Revolutionsführer und Gründervater der Sowjetunion seither im Mausoleum auf dem Roten Platz vor den Kremlmauern. Ob Lenins Leichnam aufgebahrt bleiben oder doch noch ordentlich begraben werden soll, bewegt die russische Politik regelmässig. Zu einem Entscheid mochte sich der Kreml bis jetzt nicht durchringen. Vielen gilt Lenin noch immer als Säulenheiliger; sowjetische Imperiumsphantasien erfreuen sich wieder verstärkter Beliebtheit. 2017 ist es hundert Jahre her seit Ausbruch der Oktoberrevolution.
Einfluss auf das Parlament
Wenig zögerlich verfährt der Kreml dagegen mit der heutigen Elite. Das russische Machtgefüge ist in Bewegung wie schon seit langem nicht mehr. Beinahe täglich werden personelle Veränderungen in Regierung, Parlament und Verwaltung verkündet. Eine der jüngsten aufsehenerregenden Personalien ist der von Präsident Putin angeordnete Wechsel von Wjatscheslaw Wolodin aus dem Kreml-Stab an die Spitze der Staatsduma; sein Vorgänger Sergei Naryschkin steht neu dem Auslandgeheimdienst SWR vor. Wolodin ist nicht nur für das Zitat «Ohne Putin gibt es heute kein Russland» bekannt. Vor allem leitete er seit dem Jahr 2011 als erster stellvertretender Leiter die mächtige Präsidialverwaltung und war damit massgeblich für die immer repressiver werdende Innenpolitik mitverantwortlich. Der Einfluss des Kremls auf das Parlament dürfte mit Wolodin noch direkter erfolgen, auch wenn sich die Volksvertretung schon längst davon verabschiedet hat, ein Ort selbständiger Politik zu sein.
Was steht hinter den Veränderungen im Machtapparat? Handelt der Kreml aus einer Zwangslage heraus? Stellt Putin die Weichen für seine Wiederwahl 2018 und bildet schrittweise ein ihm treu ergebenes Führungskader? Auffällig ist, dass nun viele Technokraten im Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren, die über lange Zeit hinweg im nationalen oder regionalen Staatsapparat sozialisiert worden sind, in Schlüsselpositionen gehievt werden. Eine neue Generation rückt nach. Die Wirtschaftskrise und knapper werdende Ressourcen stellen jedoch auch neue Anforderungen an die Effizienz. Strukturen werden verschlankt, der Konkurrenzdruck nimmt zu. Entsprechend werden Verfehlungen weniger geduldet, sondern Fehlbare wieder öfters öffentlichkeitswirksam getadelt oder gerade abgelöst.
Als Startpunkt dieser Entwicklung gilt der Rücktritt von Wladimir Jakunin als Chef der Russischen Eisenbahn im August 2015. Jakunin gehörte lange dem inneren Moskauer Machtzirkel an und ist seit den achtziger Jahren mit Putin bekannt. Sein Abgang als Spitzenfunktionär kann als Warnsignal an andere Staatsfirmen sowie Behörden gelesen werden, dass bei Missmanagement auch Nähe zum Präsidenten nicht vor Konsequenzen schützt. Dies musste ebenso Andrei Beljaninow erfahren, der nach Korruptionsaffären den Posten als Chef des Föderalen Zolldienstes räumen musste. Abgelaufen war im Frühjahr auch die Zeit von Wiktor Iwanow als Leiter der Behörde für Drogenkontrolle oder von Jewgeni Murow, dem Chef des Sicherheits- und Bewachungsdiensts für Präsident und Regierung. Diese beiden alten Freunde Putins waren zwar nicht skandalfrei, doch wird in erster Linie ihr fortgeschrittenes Alter für die Demission verantwortlich gemacht.
Ähnlich dürfte es sich bei Sergei Iwanow
verhalten haben. Bis zu seinem Abgang als Leiter der
Präsidialverwaltung im August galt er als eine der mächtigsten Figuren
in der russischen Politik. Mit Putin verband ihn eine langjährige
Beziehung. Wie der Präsident stammt er aus St. Petersburg und verfügt
über einen Hintergrund beim Geheimdienst. Iwanows Profil steht dabei
stellvertretend für eine der einflussreichsten Fraktionen der russischen Machtelite, die sogenannten Silowiki, hauptsächlich Angehörige der
Sicherheitsorgane. Dieser Apparat gilt als eine der Stützen von Putins
Regime. Gemäss Schätzungen sind in ihm beziehungsweise im
Verteidigungs-, Innen- und Justizministerium sowie im Inlandgeheimdienst
FSB und im Auslandgeheimdienst SWR mehr als vier Millionen Personen
tätig.
Stärkung der Vertikalen
Sakrosankt sind die Sicherheitsstrukturen indes nicht. Angesichts von Budgetengpässen findet nun auch hier zuweilen ein massiver Personalabbau statt, gleichzeitig werden schon länger diskutierte institutionelle Umbildungen vorgenommen. Dazu gehört die Bildung einer Nationalgarde, wofür der Kreml Einheiten des Innenministeriums sowie die beiden Polizei-Spezialeinheiten Omon und Sobr zusammenlegte. Mit der Leitung betraute Putin General Wiktor Solotow, der zuvor an der Spitze der Truppen des Innenministeriums gestanden und viele Jahre die Präsidenten-Leibgarde kommandiert hatte.
Aus dem Silowiki-Umfeld ernannte Putin zwei Personen gar zu Gouverneuren in Tula und Kaliningrad, wobei die letztere Personalentscheidung nach zwei Monaten bereits wieder rückgängig gemacht wurde. Wie das Beispiel der Nationalgarde zeigt, fallen Reformprojekte oft mit der Stärkung der «Machtvertikale» zusammen, wird damit dem russischen Präsidenten doch ein weiteres mächtiges Instrument in die Hand gegeben. Dass dies Befürchtungen weckt, ist angesichts der nationalistischen Rhetorik des Kremls und der Repression gegen Andersdenkende verständlich.
Nervosität
ist aber selbst bei den Silowiki zu spüren. Wie labil die Balance im
weitverzweigten Sicherheitsapparat ist, zeigte sich beispielsweise im
Sommer, als der Inlandgeheimdienst gegen zwei hochrangige Mitarbeiter des Ermittlungskomitees vorging,
die angeblich in einen Bestechungsskandal verwickelt waren. Im Herbst
legte der FSB zudem einem leitenden Offizier im Innenministerium das
Handwerk, der über 120 Millionen Dollar veruntreut haben soll.
Besonders im ersten Fall spiegelt sich ein seit Jahren schwelender Konflikt über Machtbefugnisse und Kompetenzen. Dieser scheint nun vom FSB-Chef Alexander Bortnikow gegen das Ermittlungskomitee gewonnen zu werden. Das Komitee war 2007 als Konkurrenz zur Staatsanwaltschaft aufgebaut und später direkt dem Präsidenten unterstellt worden. Wegen Verwicklungen in kriminelle Machenschaften und fehlender Ermittlungserfolge geriet das Gremium aber seitens des Kremls zunehmend unter Druck. Seit Monaten reissen die Gerüchte nicht ab, dass der Leiter der Behörde, Alexander Bastrykin, ein Jugendfreund und Studienkollege Putins, vor dem Rücktritt stehe. Überdies spekulieren Medien über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit, also über eine noch grössere Bereinigung im nationalen Sicherheitsapparat.
Was auch immer die Entwicklungen bedeuten, von einer Schwäche des Kremls kann nicht die Rede sein. Im Gegenteil wird durch die Rotationen allzu selbstherrlichen Akteuren im Apparat signalisiert, dass niemand unberührbar ist. Das ist ein probates Disziplinierungsmittel, gerade in Zeiten knapper Mittel. Als ein solches kann auch die in der Nacht auf Dienstag erfolgte Festnahme und anschliessende Absetzung des Wirtschaftsministers Alexei Uljukajew gelesen werden. Ihm wird die Annahme von Schmiergeld in der Höhe von zwei Millionen Dollar vorgeworfen. Auch die Beförderung von jüngeren Kadern auf höchste Positionen ist für Putin kein Nachteil. Mit Anton Waino machte er einen 44-jährigen ehemaligen Diplomaten, der schon über beträchtliche Erfahrung im Regierungsapparat verfügte, zu seinem neuen Stabschef.
Loyale
Bürokraten wie Waino sind in der heutigen Machtkonstellation gross
geworden und haben als Präsidenten stets nur Putin gekannt, jenen schwer
lesbaren, taktisch versierten, immer wieder ausserordentlich schnell
und überraschend agierenden Machtmenschen. Ernsthafte Konkurrenz und
Widerspruch sind von solchen Personen, die ihre Karriere primär Putin
verdanken, weniger zu erwarten als von enttäuschten oder alten
politischen Schwergewichten, die den Kremlchef noch aus Petersburger
Zeiten kennen, wo man sich noch auf Augenhöhe begegnete.
Folgt man diesem Erklärungsansatz, können die Personalentscheide durchaus mit den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2018 in Verbindung gebracht werden. Wladimir Putin wird dann 65 Jahre alt sein. Wenig spricht dagegen, dass er seine vierte Amtszeit anstreben und haushoch gewählt werden wird. Das Verharren im Kreml bietet ihm auch den grössten Schutz vor Retorsionen. Mit dem jüngst durchgesetzten Wechsel von Sergei Kirijenko von der Spitze der Atomenergiebehörde Rosatom zum ersten Stellvertreter der Präsidialverwaltung kann Putin gar in Anspruch nehmen, zumindest auf dem Papier einen Reformer an Bord geholt zu haben. Kirijenko gehörte wie der ermordete Kremlkritiker Boris Nemzow einst der Union der rechten Kräfte an und amtete 1998 kurze Zeit als Ministerpräsident. Natürlich spricht die Repression des Staates gegen die demokratische Opposition eine andere Sprache. Auch müssen politische Etikettierungen nichts heissen, genauso wenig wie die Spekulation, dass sich (Verweis) nun der Druck auf den Regierungschef Dmitri Medwedew erhöhen werde. Über seine Auswechslung wird seit Jahren gemutmasst. Doch warum eigentlich? Er spielte beim abgekarteten Ämtertausch 2012 mit Putin perfekt seine Rolle. Nun, vier Jahre später, erfüllt er ebenfalls einen wichtigen politischen Zweck, indem er die Frustrationen der Bevölkerung von seinem Mentor Putin abzulenken versteht.
Konkurrierende Gruppen
Das russische Machtsystem besteht allerdings nicht nur aus dem Staatsapparat. Putin bildete um sich ein informelles Netzwerk (siehe Infografik), das ihm nicht nur Einfluss auf unterschiedliche Interessengruppen aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft gibt, sondern auch von Bedeutung für die Entscheidungsfindung und Ausgestaltung der Kreml-Politik ist. Wie es genau funktioniert, ist strittig. Putin selbst sprach einst von der «Vertikale der Macht», also von einer strikten Kommandostruktur. Russische Politologen sprechen mittlerweile treffender von einem amorphen Regierungssystem. Darin ringen verschiedene Machtgruppen um Einfluss. Es hat weder eine feste Struktur, noch sind die Allianzen starr, obwohl ihnen oft eine gemeinsame Geschichte, persönliche Abhängigkeiten und Verpflichtungen zugrunde liegen. Auch verändern sich die Interessen; Akteure können daher nicht immer klar dem einen oder anderen Lager zugeordnet werden.
Putin ist in einem solchen Netzwerk dominante Kraft und Moderator zugleich. Durch den Abgang Sergei Iwanows und vor dem Hintergrund andauernd geschürter Bedrohungsszenarien und patriotischer Mobilisierung dürfte Verteidigungsminister Sergei Schoigu seine Position gestärkt haben. Zusammen mit Ministerpräsident Medwedew stellten sie die Figuren mit dem derzeit wohl engsten Verhältnis zu Putin dar. Trotz seinem Wechsel an die Duma-Spitze ist Wolodin weiterhin zu den einflussreichsten Personen zu rechnen, auch deswegen, weil ihn Putin erst kürzlich zum ständigen Mitglied des mächtigen Sicherheitsrates bestimmt hat.
In die oberste Elite sind Waino und Kirijenko vorgestossen. Zum inneren Machtzirkel gehören zudem potente Personen wie Igor Setschin, ursprünglich ein Silowik und derzeit Chef des Mineralölkonzerns Rosneft, die Milliardäre Arkadi Rotenberg (Baubranche) und Gennadi Timtschenko (Erdöl) oder der Manager Sergei Tschemesow (Rüstungsindustrie). Einige Magnaten mussten in diesem Jahr zwar Razzien in Teilen ihres Firmenimperiums über sich ergehen lassen. Insgesamt bleiben aber die Energieindustrie wie auch der Finanzsektor bis jetzt von grösseren personellen Umbildungen verschont.
Gleich korrupt wie früher?
Wichtig für das Funktionieren und die Stabilität von Putins Regime wird sein, ob es ihm auch künftig gelingt, den Zugriff auf Ressourcen und Machtpositionen derart zu verwalten, dass der Konsens in der Elite erhalten bleibt. Vorerst zeichnet sich keine Kursänderung ab. Wie in der Wirtschaft deuten im politischen Apparat die Zeichen auf Stagnation hin. Von der Bevölkerung und der Opposition ist keine Reaktion zu erwarten. Für viele ist es so lediglich eine Frage des Masses, wie stark sich die nachrückende Generation ebenfalls gierig über die Ressourcen des Lands hermachen wird und weiterhin eine Politik nicht für das russische Volk, sondern für die Mehrung der eigenen Macht und des persönlichen Wohlstands betreiben wird.
Nota. - Das System ist mehr bonapartistisch als feudal. Persönliche Gefolgschaften ja, aber anders als in der späten Sojetunion, auf deren Hinterlassenschaft es aufbaut, ist es ohne institionelle Legitimität, alles hängt vom währenden Charisma des obersten Steuermannes ab. Dazu gehören Erfolge in de Außenpolitik. Nach innen gehört dazu die Asutrocknung der mafiösen Strukturen, die die letzen Jahrzehnte des Sowjetregimes gekennzeichnet haben.
Aber das ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Ein Regime ohne eigene Legitimität hat gar keine andere Wahl, als sich immer wieder durch Korruption abzusichern. Die Idee, die einer haben könnte, man müsse Putin außenpolitisch entgegenkommen, damit er seine interne Sanierungsarbeit erledigen kann, wäre naiv: Die wird er nie erledigen.
JE
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