Dienstag, 1. November 2016

Eine neue Sicht der Weltgeschichte?

aus Badische Zeitung, 2. 11. 2016                                                                               Eine Moschee und Koranschule in Taschkent

Der Reichtum des Ostens
SACHBUCH: Der Historiker Peter Frankopan legt eine Weltgeschichte vor, die nicht aus der Perspektive des Westens geschrieben ist

von Harald Loch

Die Geschichte des Westens ist oft genug als die Erfolgsgeschichte des "normativen Projekts" beschrieben worden, in dem aus Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten die Kernbestandteile eines sympathisch aufbereiteten Werte-Leitmodells für die ganze Welt entwickelt wurden. Blickt man auf diese Geschichte aber aus einer anderen Himmelsrichtung und setzt man die bekannten Fakten anders zusammen, so verschieben sich die Hauptlinien der Jahrtausende, die Gewichte und auch die Urteile.

Der 1971 geborene britische Historiker Peter Frankopan, der in Oxford das Zentrum für Byzantinische Studien leitet, hat jetzt diese andere Perspektive eingenommen. Er schreibt mit seinem tausendseitigen Gegenentwurf "Licht aus dem Osten" tatsächlich "Eine neue Geschichte der Welt", wie es der Untertitel des Buches verheißt.



Von den Anfängen der Geschichte bis heute reicht sein großes Werk. In der aktuellen Auseinandersetzung des Westens mit dem Iran um dessen Atomprogramm schreibt Frankopan: "Die Drohung [der USA], Gewalt gegen den Iran einzusetzen, um eine Weltordnung zu schützen, die den westlichen Interessen dient, ist nur ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Versuchs, an einem uralten Kreuzweg der Kulturen die Stellung zu wahren. Dort steht offenbar viel zu viel auf dem Spiel, als dass man auf solche Methoden verzichten könnte."

Um diesen Kreuzweg der Kulturen geht es. Er reicht vom Mittelmeer bis nach China, von Ägypten bis Afghani- stan. Der Autor rückt die Bedeutung dieses "Ostens" schon in der antiken Welt in ein ganz anderes Licht. Für Rom waren nicht etwa Gallien, Britannien oder gar Germania wichtig, sondern die Kornkammern Nordafrikas, der Reichtum Ägyptens, Kleinasien und das damals mächtige Reich der Perser. Dort winkten Reichtum und Luxus, durch diese Regionen führten die Handelswege, die später "Seidenstraße" genannt wurden und auf denen römisches Geld gegen Luxusstoffe aus Asien getauscht wurde.


Ein Sklavenhandel in unglaublicher Größenordnung

Es wuchsen dort Kulturen im gegenseitigen Austausch, in den Steppen Asiens bildeten sich nomadisierende Völker mit hohem Organisationsgrad, die die Völkerwanderung auslösten und Europa in einen jahrhunderte- langen Winterschlaf versetzten, während der Osten durch Handel und kulturellen Austausch blühte.

Während einer Schwächephase der Hauptakteure in "Middle East" entstand wie aus dem Nichts mit dem Islam die dritte abrahamitische Religion, deren rasanter Aufschwung die nächsten Jahrhunderte von Spanien bis nach China beherrschte. Die zur Rückgewinnung der heiligen Stätten in Jerusalem unternommenen Kreuzzüge des christlichen Europas verkamen bald zu Handels- und Raubexpeditionen.

In Italien konnten sich Genua und Venedig am lukrativen Osthandel beteiligen. Der Reichtum auch anderer Metropolen an den Kreuzwegen des Orients resultierte aus einem Sklavenhandel, dessen unglaubliche Größen- ordnung Frankopan erstmals in das europäische Bewusstsein rückt. Dieser Menschenhandel verlagerte sich schließlich nach der Entdeckung Amerikas auf den Atlantik und wurde von allen seefahrenden Nationen betrieben.

Portugal und Spanien, danach die Holländer und die Briten eroberten dank ihrer aus Amerika strömenden Edelmetalle und dank besserer Waffen- und Schiffbautechnik die Vorrangstellung, die jahrhundertelang der Osten innegehabt hatte und begannen selbst, diesen Osten, besonders den indischen Subkontinent, zu erobern.

Der wurde für Großbritannien so wichtig, dass – so die plausible Erklärung Frankopans – die Angst vor einem Vordringen Russlands auf dem Landweg gegen diese Goldgrube des britischen Empires den damaligen Außen- minister Edward Grey auf den Gedanken brachte, Russlands Augenmerk von Asien auf Europa abzulenken, also auf Deutschland und Österreich zu richten. Diese Konstellation habe wesentlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs beigetragen. Um diese Zeit begann aber auch das Öl die Welt zu erobern, und dem Orient wuchsen neue Bedeutung und Reichtümer zu.

Frankopans überaus faktenreiches Buch ist fesselnd geschrieben, auch in der deutschen Übersetzung gut zu lesen, durch gut gewählte, typische Anekdoten aufgelockert, und es wartet durch die Urteilskraft seines Autors mit neuen, manchmal überraschenden Gewichtungen auf. Es gibt im Osten nicht das eine große Projekt, wie es die Geschichte des Westens ausmacht. Es ist die geografische Lage des Gebietes zwischen großen Völkern Asiens und Europas, es sind der zwischen diesen Regionen schon immer betriebene Handel und das oft fruchtbare Zusammentreffen unterschiedlich organisierter und kulturell orientierter Völker. Das gilt heute vielleicht noch mehr als in früheren Zeiten. Frankopans Verdienst ist es, diese Erkenntnis aus den Tiefen der Geschichte seinen Lesern bewusst zu machen.

Peter Frankopan: Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt. Aus dem Englischen von Michael Bayer und Norbert Juraschitz. Rowohlt Verlag, Reinbeck 2016. 941 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 39,95 Euro.


Nota. - Was an dieser Darstellung das Besondere sein soll, ist aus der Rezension nicht ersichtlich. Dass das Abendland bis zur Entdeckung Amerikas ziemlich am Rand der Weltgeschichte stand, hat sich längsst herum- gesprochen, und nicht erst seit gestern Abend. Aber seit der Entdeckung - und Kolonisierung, bitteschön! - Amerikas ist es deren Kraftzentrum. Wie lange noch, wird sich zeigen, der Historiker hat keine Kristallkugel. 

Aber einen Sinn wird man in der Geschichte nicht erkennen, wenn man sie vom Anfang bis heute betrachtet - da muss das meiste zufällig bleiben; sondern wenn wenn man umgekehrt die Gegenwart als das zu Verstehende erkennt und, rückwärts blickend, das aufsucht, was auf das Heute hingelenkt hat, und als kontingente Rand- bedingung das zur Seite stellt, dessen Spuren sich im Lauf der Geschichte verloren haben.

Das wäre eine einseitige Sicht? Natürlich, wer von allen Seiten zugleicht blickt, kann ja nichts erkennen. Sie muss ja nicht beanspruchen, schon die endgültige zu sein, sondern nur die einstweilen gültige. In hundert Jahren wird man Grund haben, von neuen Seiten her zu blicken.
JE

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