aus nzz.ch,
Dieter Thomäs Philosophie des Störenfrieds
Was böse Jungs alles können
Als «puer robustus», als kräftiger und keineswegs braver Junge, betritt der Störenfried die Bühne der Kulturgeschichte. Dieter Thomä verfolgt ihn auf abenteuerlichen philosophischen Streifzügen.
von Michael Stallknecht
«Bad boys, bad boys, whatcha gonna do? Whatcha gonna do when they come for you?» – So sang die Reggae-Band Inner Circle in einem Song, in dem es für die Bad Boys nicht gut ausgeht. Nachdem sie sich schon seit Kindertagen mit allen Autoritäten angelegt haben, ist ihnen die Polizei ständig auf den Fersen. Der Hörer freilich identifiziert sich trotzdem – oder deswegen – eher mit dem Bad Boy als mit der Polizei.
Die
Szenerie war eine durchaus andere, als der böse Junge, noch im
vornehmen lateinischen Gewand, die Bühne der Ideengeschichte betrat: im
Vorwort zu Thomas Hobbes' im Jahr 1642 erschienener Abhandlung «De Cive»
(«Über den Bürger»). Ein schlechter Mann, befand der Vater aller Apologeten eines starken Staats,
sei dasselbe wie ein «puer robustus, vel vir animo puerili». Der starke
Junge oder Mann mit kindischem Geist verharrt nach Hobbes im –
unzivilisierten – Naturzustand. Damit dient er letztlich sogar den
eigenen Selbsterhaltungsinteressen nicht, die sich in einem friedlich
geordneten Staat viel besser würden verfolgen lassen.
«Der
puer robustus hat einen Vater, der ihn verstösst», schreibt der
Philosoph Dieter Thomä über den ersten Auftritt einer Figur, der er ein
umfangreiches Buch gewidmet hat. Freilich lässt dieser robuste Kerl sich
nicht leicht und kaum systematisch erfassen; er legt sich, wie es sich
für einen Störenfried gehört, verschiedene Identitäten zu und spielt
verschiedene Rollen für die Gesellschaften, in denen er lebt
beziehungsweise von deren Ablehnung er lebt. Die Polizei schnappt den
Bad Boy nicht immer – und Dieter Thomä macht den «puer robustus» eher in
Randnotizen der Autoren ausfindig, wo er manchmal unter eigenem Namen
auftritt, manchmal mit zitathaftem Anklang an Hobbes' Formulierung,
manchmal auch nur schemenhaft. Als echtes «Schwellenwesen», wie ihn der
an der Universität St. Gallen lehrende Autor nennt, bezeichnet er aber
in jedem Fall immer die Nahtstelle zwischen Ordnung und Störung und
zielt damit ins Herz der politischen Philosophie.
Als generationenübergreifenden Gegenspieler zu Hobbes möchte man denn im Buch auch Jean-Jacques Rousseau
erkennen, der dem (immer fiktiven) Naturzustand bekanntlich durchaus
Gutes abgewinnen konnte. Er schreibt dem «starken Jungen» ähnlich dem
«Wilden» eine besondere Autarkie zu; so vermag der Unbotmässige eine
neue Ordnung mit neuen Gesetzen zu etablieren zu helfen und wird zum
«nomozentrischen Störenfried», wie Thomä ihn nennt. Bei Karl Marx und
Friedrich Engels geht er denn auch regelrecht als Synonym für den
Proletarier durch und wird damit erstmals zum Kollektivsubjekt einer
revolutionären Klasse. Seine schlechten Seiten zeigt er dort allerdings
auch: in Gestalt des «Lumpenproletariats», das sich, wie Thomä betont,
durchaus auch im rücksichtslosen Agieren der wohlhabenderen Schichten
wiedererkennen lasse.
Alexis
de Tocqueville findet ihn nur wenig früher im Pioniergeist des noch
jungen Amerika wieder, wo er im «übertriebenen Stolz auf seine Kräfte
und das Treiben der Jugend» den anarchischen Konkurrenzkampf und damit
den Hobbesschen Naturzustand wieder einführt. Überhaupt hat der starke
Junge im 19. Jahrhundert seine prominentesten Auftritte. Victor Hugo
setzt ihm im «Glöckner von Notre-Dame» mit dem wilden, hässlichen, aber
zum Guten fähigen Quasimodo ein Denkmal; bei Richard Wagner wird er im
«Ring des Nibelungen» zum «kühnen Kind» Siegfried, das in einer
gefährlichen Mischung aus Dummheit und Körperkraft die alte Ordnung
zerbricht.
Im
Durchgang durch die Epochen verfährt Thomä strikt motivgeschichtlich und
klammert offensichtliche gesellschaftsgeschichtliche Hintergründe eher
aus. Deshalb überrascht es, wenn er im letzten Kapitel doch noch
realpolitisch wird, den «puer robustus» in der Gegenwart zum Beispiel im
Finanzhai wiedererkennt, der zwecks eigener Bereicherung den
Zusammenbruch eines ganzen Markts riskiert – aber auch im Islamisten.
Doch die zuvor eingenommene Distanz erlaubt es Dieter Thomä auch, sich
weder auf die Seite der Sympathisanten dieser geschichtlichen Gestalt
noch auf die ihrer Verächter schlagen zu müssen. Er hofft, lässt er
indes durchblicken, dass der starke Junge sein Störpotenzial behalten
kann, ohne dabei zum Zerstörer werden zu müssen.
Dieter Thomä: Puer robustus – Eine Philosophie des Störenfrieds. Suhrkamp, Berlin 2016. 715 S., Fr. 48.90
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