Zhen He's Flotte
aus Der Standard, Wien, 16. November 2016, 13:47
Historiker:
"Europas
Wettbewerbsvorteil war die Gewalt"
Die Händler der indischen Stadt Surat waren den Europäern lange Zeit
überlegen, sagt der Historiker Sanjay Subrahmanyam.
ein Interview von Eric Frey
STANDARD: Surat, eine Millionenstadt im heutigen nordwestindischen
Bundesstaat Gujarat, war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer
Beschreibung eine weltoffene, tolerante und dynamische Handelsstadt. Das
ist ein Bild, das man eher mit europäischen Handelsstädten assoziiert.
Wie ähnlich war Surat etwa Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen.
Sanjay Subrahmanyam (55) ist Professor für Geschichte an der UCLA in Los
Angeles. Er begann als Wirtschaftshistoriker in Neu-Delhi und ist heute
einer der führenden Forscher über außereuropäische Sozialgeschichte in
der frühen Neuzeit. Er hat den Begriff "connected history" geprägt.
Subrahmanyam war kürzlich als Vortragender der JESHO-Lectures Series des
Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) in Wien -
Nota. - Sag doch frei heraus, was du denktst: Europas Wettbewerbsvorteil war der schlechte Charaakter der Europäer. Der Asiate ist eben friedlicher als der Weiße Mann, da musste er ja unterliegen.
So ist's korrekt. Heute; in meiner Kindheit war noch weniger von asiatischer Weisheit, aber mehr von asiatischer Grausamkeit die Rede; doch da waren wir noch nicht korrekt.
Wieso haben die Europäer den Weltmarkt erfunden und beherrscht - allen voran die Briten? Weil sie das Kapital erfunden haben. Dazu hat das bloße Anhäufen unermesslicher Reichtümer nicht gereicht - die gab es in Asien auch, vielleicht noch unermesslicher, und die waren nicht durch Gebete angesammelt. Außer den Reichtümern brauchte es noch eine Masse von Menschen, die alles Eigentum verloren hatten und ihre bloße Arbeitskraft vermieten mussten, um zu überleben. Eine große Masse von Menschen, die von dem Boden vertrieben waren, von dem sie seit Jahrhunderten gelebt hatten.
Eine solche eigentumslose Masse gab es nur in Europa, und nur, weil es dort die Feudalherren gegeben hatte - die einerseits das Anhäufen großer Reichtümer in den Händen städtischer Bürger erlaubt und sich andererseits durch Borgen in die Geldwirtschaft hatten hineinziehen lassen; und wegen ihres Geldbedarfs ihre erbuntertänigen Bauern von ihren Äckern vertrieben...
Das war eine grausame Sache, aber dass es an den schlechten Genen der weißhäutigen Rasse läge, möchte ich nicht glauben, das käme mir nicht korrekt vor.
JE
STANDARD: Surat, eine
Millionenstadt im heutigen nordwestindischen Bundesstaat Gujarat, war
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer Beschreibung eine weltoffene,
tolerante und dynamische Handelsstadt. Das ist ein Bild, das man eher
mit europäischen Handelsstädten assoziiert. Wie ähnlich war Surat etwa
Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016)
Sanjay Subrahmanyam (55) ist Professor für Geschichte an der UCLA in Los
Angeles. Er begann als Wirtschaftshistoriker in Neu-Delhi und ist heute
einer der führenden Forscher über außereuropäische Sozialgeschichte in
der frühen Neuzeit. Er hat den Begriff "connected history" geprägt.
Subrahmanyam war kürzlich als Vortragender der JESHO-Lectures Series des
Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) in Wien. -
derstandard.at/2000047623895-629/Indischer-Historiker-Europas-Wettbewerbsvorteil-war-die-GewaltSTANDARD: Surat, eine
Millionenstadt im heutigen nordwestindischen Bundesstaat Gujarat, war
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer Beschreibung eine weltoffene,
tolerante und dynamische Handelsstadt. Das ist ein Bild, das man eher
mit europäischen Handelsstädten assoziiert. Wie ähnlich war Surat etwa
Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016) -
derstandard.at/2000047623895-629/Indischer-Historiker-Europas-Wettbewerbsvorteil-war-die-GewaltSTANDARD: Surat, eine
Millionenstadt im heutigen nordwestindischen Bundesstaat Gujarat, war
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer Beschreibung eine weltoffene,
tolerante und dynamische Handelsstadt. Das ist ein Bild, das man eher
mit europäischen Handelsstädten assoziiert. Wie ähnlich war Surat etwa
Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016) -
derstandard.at/2000047623895-629/Indischer-Historiker-Europas-Wettbewerbsvorteil-war-die-GewaltSTANDARD: Surat, eine
Millionenstadt im heutigen nordwestindischen Bundesstaat Gujarat, war
vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer Beschreibung eine weltoffene,
tolerante und dynamische Handelsstadt. Das ist ein Bild, das man eher
mit europäischen Handelsstädten assoziiert. Wie ähnlich war Surat etwa
Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016)
Sanjay Subrahmanyam (55) ist Professor für Geschichte an der UCLA in Los
Angeles. Er begann als Wirtschaftshistoriker in Neu-Delhi und ist heute
einer der führenden Forscher über außereuropäische Sozialgeschichte in
der frühen Neuzeit. Er hat den Begriff "connected history" geprägt.
Subrahmanyam war kürzlich als Vortragender der JESHO-Lectures Series des
Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) in Wien. -
derstandard.at/2000047623895-629/Indischer-Historiker-Europas-Wettbewerbsvorteil-war-die-GewaltDie Händler der
indischen Stadt Surat waren den Europäern lange Zeit überlegen, sagt der
Historiker Sanjay Subrahmanyam.
STANDARD: Surat, eine Millionenstadt im heutigen nordwestindischen
Bundesstaat Gujarat, war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer
Beschreibung eine weltoffene, tolerante und dynamische Handelsstadt. Das
ist ein Bild, das man eher mit europäischen Handelsstädten assoziiert.
Wie ähnlich war Surat etwa Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016)
Sanjay Subrahmanyam (55) ist Professor für Geschichte an der UCLA in Los
Angeles. Er begann als Wirtschaftshistoriker in Neu-Delhi und ist heute
einer der führenden Forscher über außereuropäische Sozialgeschichte in
der frühen Neuzeit. Er hat den Begriff "connected history" geprägt.
Subrahmanyam war kürzlich als Vortragender der JESHO-Lectures Series des
Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) in Wien -
derstandard.at/2000047623895-629/Indischer-Historiker-Europas-Wettbewerbsvorteil-war-die-GewaltHistoriker: "Europas
Wettbewerbsvorteil war die Gewalt"
16. November 2016, 13:47
13 Postings
Die Händler der indischen Stadt Surat waren den Europäern lange Zeit
überlegen, sagt der Historiker Sanjay Subrahmanyam.
STANDARD: Surat, eine Millionenstadt im heutigen nordwestindischen
Bundesstaat Gujarat, war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer
Beschreibung eine weltoffene, tolerante und dynamische Handelsstadt. Das
ist ein Bild, das man eher mit europäischen Handelsstädten assoziiert.
Wie ähnlich war Surat etwa Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016)
Sanjay Subrahmanyam (55) ist Professor für Geschichte an der UCLA in Los
Angeles. Er begann als Wirtschaftshistoriker in Neu-Delhi und ist heute
einer der führenden Forscher über außereuropäische Sozialgeschichte in
der frühen Neuzeit. Er hat den Begriff "connected history" geprägt.
Subrahmanyam war kürzlich als Vortragender der JESHO-Lectures Series des
Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) in Wien. -
derstandard.at/2000047623895-629/Indischer-Historiker-Europas-Wettbewerbsvorteil-war-die-Gewalt
Historiker: "Europas
Wettbewerbsvorteil war die Gewalt"
16. November 2016, 13:47
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Die Händler der indischen Stadt Surat waren den Europäern lange Zeit
überlegen, sagt der Historiker Sanjay Subrahmanyam.
STANDARD: Surat, eine Millionenstadt im heutigen nordwestindischen
Bundesstaat Gujarat, war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer
Beschreibung eine weltoffene, tolerante und dynamische Handelsstadt. Das
ist ein Bild, das man eher mit europäischen Handelsstädten assoziiert.
Wie ähnlich war Surat etwa Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016)
Sanjay Subrahmanyam (55) ist Professor für Geschichte an der UCLA in Los
Angeles. Er begann als Wirtschaftshistoriker in Neu-Delhi und ist heute
einer der führenden Forscher über außereuropäische Sozialgeschichte in
der frühen Neuzeit. Er hat den Begriff "connected history" geprägt.
Subrahmanyam war kürzlich als Vortragender der JESHO-Lectures Series des
Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) in Wien. -
derstandard.at/2000047623895-629/Indischer-Historiker-Europas-Wettbewerbsvorteil-war-die-Gewalt
Historiker: "Europas
Wettbewerbsvorteil war die Gewalt"
16. November 2016, 13:47
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Die Händler der indischen Stadt Surat waren den Europäern lange Zeit
überlegen, sagt der Historiker Sanjay Subrahmanyam.
STANDARD: Surat, eine Millionenstadt im heutigen nordwestindischen
Bundesstaat Gujarat, war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer
Beschreibung eine weltoffene, tolerante und dynamische Handelsstadt. Das
ist ein Bild, das man eher mit europäischen Handelsstädten assoziiert.
Wie ähnlich war Surat etwa Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016)
Sanjay Subrahmanyam (55) ist Professor für Geschichte an der UCLA in Los
Angeles. Er begann als Wirtschaftshistoriker in Neu-Delhi und ist heute
einer der führenden Forscher über außereuropäische Sozialgeschichte in
der frühen Neuzeit. Er hat den Begriff "connected history" geprägt.
Subrahmanyam war kürzlich als Vortragender der JESHO-Lectures Series des
Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) in Wien. -
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Historiker: "Europas
Wettbewerbsvorteil war die Gewalt"
16. November 2016, 13:47
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Die Händler der indischen Stadt Surat waren den Europäern lange Zeit
überlegen, sagt der Historiker Sanjay Subrahmanyam.
STANDARD: Surat, eine Millionenstadt im heutigen nordwestindischen
Bundesstaat Gujarat, war vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nach ihrer
Beschreibung eine weltoffene, tolerante und dynamische Handelsstadt. Das
ist ein Bild, das man eher mit europäischen Handelsstädten assoziiert.
Wie ähnlich war Surat etwa Amsterdam?
Subrahmanyam: Amsterdam gilt für diese Zeit als eine Art Messlatte.
Dabei war die Offenheit dort eher beschränkt. Da waren nur Protestanten,
einige Juden, kaum Katholiken und keine Muslime. Viele Städte im
Indischen Ozean waren diverser und offener. In Surat konnte sich jeder
niederlassen.
STANDARD: Hat diese Offenheit Surat auch wohlhabend gemacht?
Subrahmanyam: Steuern und Zölle waren niedrig. Das Mogulreich war vor
allem am freien Handel mit Edelmetallen interessiert, die wurden gar
nicht besteuert. Die Reichsten in Surat waren sicher so reich wie die
Händler in Amsterdam. Es war eine ungleiche Gesellschaft, aber die
Ungleichheit war nicht so groß wie heute.
STANDARD: Wie global war dieser Handel?
Subrahmanyam: Schiffe aus Surat segelten bis nach China und nach
Ostafrika. Dass sie nicht nach Europa kamen, lag daran, dass die
Europäer das nicht erlaubt haben. Sie verteidigten ihr Handelsmonopol
rund um Afrika.
STANDARD: Und Kolonialreiche wollten die Moguln nicht errichten?
Subrahmanyam: Nein, das taten nur die Westeuropäer, das waren seltsame
Menschen. Sonst hat niemand daran gedacht, in die Welt hinauszusegeln
und und ferne Kolonie zu gründen. Erobert wurden nur angrenzende
Gebiete.
STANDARD: Aber die chinesische Ming-Dynastie baute im 15. Jahrhundert
riesige Flotten.
Subrahmanyam: Ja, aber sie haben ihre Schiffe nie für die Eroberung von
Kolonien genutzt. Sie segelten bis nach Ostafrika, sie demonstrierten
ihre Macht und forderten Tribut. Aber sie blieben nicht.
STANDARD: Aber auch muslimische Reiche wollten Macht und den Glauben
überallhin tragen.
Subrahmanyam: Das war anders. Muslime eroberten Indien und ließen sich
dann dort nieder. Die Europäer hatten das nie vor. Für sie blieb die
Metropole immer anderswo, sie schickten nur temporäre Vertreter.
STANDARD: Wie erklärt sich dieser Unterschied?
Subrahmanyam: Die Europäer betonten den Unterschied zu den anderen viel
mehr. Sie waren nicht bereit, Teil einer anderen Gesellschaften zu
werden, zumindest nicht, wenn sie Macht hatten. Das war eine andere ganz
Vorstellung eines Imperiums. Jeder kann Muslim werden, aber man konnte
kein Europäer werden und kein Weißer, wenn man nicht weiß ist.
STANDARD: Surat wurde 1759 von der East India Company erobert. Wurde der
Niedergang eher durch interne indische Konflikte oder durch externe
Kräfte verursacht?
Subrahmanyam: Es war eine Kombination von Gründen. Im 18. Jahrhundert
wurde die Verbindung zum Hinterland durch politische Instabilität
gebrochen. Das ließ die Märkte schrumpfen. Und dann kam der Aufstieg des
Hafens von Bombay durch die Briten.
STANDARD: In Europa, etwa in den Niederlanden, waren die Händler eine
starke politische Kraft. Wie war das in Indien?
Subrahmanyam: Die Händler spielten in der regionalen Politik eine Rolle,
aber nicht in der imperialen Politik. Das hängt auch mit der Größe
eines Staates zusammen. Ein wichtiger Händler in Amsterdam war auch
politisch einflussreich. Ein Händler in Surat oder in Kanton war weit
weg vom politischen Zentrum. Selbst in einem Land wie Frankreich oder im
Habsburgerreich war der Einfluss von Händlern beschränkt. Und Indien
und China sind so groß wie ganz Europa. Es ist eines der Momente in der
Geschichte, in denen Größe ein Nachteil war. Kleine Staaten mit starkem
Händlereinfluss waren im Vorteil.
STANDARD: Welche Rolle spielt diese Geschichtsperiode in der heutigen
indischen Politik?
Subrahmanyam: Eine umstrittene. Die Regierungspartei BJP verfolgt einen
Hindu-Nationalismus und schätzt die muslimische Herrschaft nicht. Heute
wird die Mogulära daher meist als dunkle Zeit der Unterdrückung
beschrieben. Das sehe ich gar nicht so.
STANDARD: Und andere politische Kräfte, wie die Kongress-Partei?
Subrahmanyam: Ihr Bild vom Mogulreich ist auch seltsam. Sie betont deren
Stärke und Macht und interessierte sich nicht für autonome Städte.
Alles Positive wird dem Staat zugeschrieben. Mich interessiert hingegen
nicht die staatliche Macht, sondern die Lebendigkeit sozialer Kräfte in
einer Hafenstadt wie Surat. Dafür war der Staat nicht verantwortlich.
STANDARD: Steckt darin eine Botschaft für das heutige Indien?
Subrahmanyam: Ja. In Indien fehlt das Verständnis für die
unternehmerische Tradition. Man glaubt, man habe den Markt erst vor
kurzem entdeckt. Das ist ein falscher Mythos, den die Inder über sich
erfunden haben. Der Markt hat früher eine wichtige Rolle gespielt. Ich
zitiere gerne aus einem Brief eines florentinischen Händlers aus der
Strozzi-Familie, der im frühen 16. Jahrhundert nach Indien kam, die
Händler vergleicht und sagt: Sie lachen über uns. Diese Menschen können
besser kopfrechnen als wir mit einem Abakus. Ihre Handelstechniken sind
viel besser als unsere. Wir Florentiner glauben, wir sind die Klügsten,
aber hier schauen wir nicht so klug aus. Aber wenn man heute indische
Intellektuelle fragt, ob es etwa im 16. Jahrhundert eine große
Handelskultur gab, dann streiten sie das ab.
STANDARD: Kann man sagen, Kapitalismus wurde in Indien erfunden?
Subrahmanyam: Nicht ganz. Das Gleiche gilt für die Handelsstädte in
China oder für Kairo. Das ist kein indisches Phänomen.
STANDARD: Und warum haben dann die Europäer den Weltmarkt erobert?
Subrahmanyam: Weil die Europäer es nicht beim Handel belassen haben. Sie
haben ihn mit Gewalt kombiniert. Der größte Wettbewerbsvorteil der
Europäer lag in der Produktion von Gewalt. Das war ihr großer Export. In
den Dokumenten der Niederländer kann man nachlesen: Wir haben versucht,
mit dem Iran zu handeln, aber die Inder sind uns überlegen. Was tut man
dann? Man gebraucht Gewalt. Das war erfolgreich, aber auch sehr
zerstörerisch.
STANDARD: Kann Indien an diese Tradition wieder anschließen?
Subrahmanyam: Ja, aber das geschieht derzeit nicht. Die Inder denken zu
sehr in Großmachtkategorien, sie ziehen die falschen Schlüsse aus dem
Erfolg der Europäer. So baut man eine große Kriegsflotte, ebenso wie die
Chinesen. Es wäre besser, sich auf die lange Tradition großer Händler
und Unternehmer zu besinnen. (Eric Frey, 16.11.2016)
Sanjay Subrahmanyam (55) ist Professor für Geschichte an der UCLA in Los
Angeles. Er begann als Wirtschaftshistoriker in Neu-Delhi und ist heute
einer der führenden Forscher über außereuropäische Sozialgeschichte in
der frühen Neuzeit. Er hat den Begriff "connected history" geprägt.
Subrahmanyam war kürzlich als Vortragender der JESHO-Lectures Series des
Instituts für Iranistik der Österreichischen Akademie der
Wissenschaften (ÖAW) in Wien. -
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