Dienstag, 1. Mai 2018

Cybertariat.

aus derStandard.at, 1. Mai 2018

"Die Digitalisierung kreiert ein neues Prekariat"
Die Gig-Economy ist kein Vergnügen, sagt die britische Soziologin Ursula Huws. Die Neuorganisation von Arbeit über digitale Plattformen und Kundenbewertungen schafft vielmehr ein neues Cybertariat, das versucht, mit Klicks über die Runden zu kommen

Interview

Sie heißen "Clickworker", "Upwork" oder "Amazon Mechanical Turk" – Onlineplattformen, die digitale Akkordarbeit vermitteln. Das heißt: Fotos und Bilder kategorisieren, Likes auf Firmen-Websites setzen, sekundenschnell entscheiden, welche Inhalte auf Facebook, Youtube und Co erscheinen dürfen. Weniger versteckt, aber ebenso digital gesteuert arbeiten Fahrer von Taxi- und Lieferservices wie Uber und Foodora.

Kaum jemand hat die vernetzte Arbeitsvermittlung so gut erforscht wie Ursula Huws. Die britische Arbeitssoziologin beschäftigt sich seit den 1970er-Jahren mit den Veränderungen der globalen Arbeitsteilung, seit den 90er-Jahren vor allem in Bezug auf die Folgen der Digitalisierung – und leistete damit Pionierarbeit bei der Erforschung der Transformationen in der Internetära.

STANDARD: Sie haben bereits vor 15 Jahren den Begriff "Cybertariat" geprägt. Wer sind die Menschen, um die es sich dabei handelt?

Ursula Huws: Als ich den Begriff entwickelte, gab es einen großen Hype um die sogenannte Wissensgesellschaft. Es gab die Vorstellung, dass in Zukunft nur gut ausgebildete Wissensarbeiter autonom und selbstbestimmt tätig sind. Es schien, als ob die alten Tage der Industrialisierung Geschichte sein würden. Von da an würde Arbeit ein Vergnügen sein. Basierend auf meiner empirischen Forschung, zeigte sich jedoch deutlich, dass viele der neuen Jobs rund um Datenverarbeitung extrem monoton, fremdbestimmt und fragmentiert sind und zu neuen Formen eines Prekariats führen würden. Der Begriff des Cybertariats soll die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Arbeitsbedingungen dieser Datenarbeiter, obwohl sie keine Fabriksarbeit machen, sehr viel mehr mit dem Proletariat der Vergangenheit gemeinsam haben als mit der Vorstellung von Wissensarbeit.

STANDARD: Wie hat sich die Situation des Cyberproletariats bis heute entwickelt?

Huws: In der Folge der Finanzkrise 2007/08 haben sich mit dem Aufkommen von Online-Plattformen die Tendenzen verschärft. Man könnte sagen, dass nach wie vor nur eine Minderheit der Arbeitskräfte von der digitalen Arbeit lebt. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Bedingungen, von denen viele durch die zunehmende Informationsverarbeitung in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts entstanden sind, im 21. Jahrhundert große Bereiche des Arbeitslebens erfasst haben und zu einer neuen Arbeitsnorm beitragen, die ich als "Logged Labour" bezeichne.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Huws: Der Begriff hat drei Bedeutungen: Erstens "logged" in dem Sinn, dass man eingeloggt sein muss auf einer Online-Plattform, wo man auf Aufträge wartet. Es wird erwartet, dass man 24 Stunden erreichbar ist, um rasch auf einer Just-in-time-Basis reagieren zu können. Zweitens meine ich "logged" im Sinn von protokolliert, also dass Arbeit mit Überwachungstechnologien kontrolliert werden kann, sei es mit GPS, mit dem ein Foodora-Lieferant getrackt wird, oder seien es Tools, die die Zeit aufzeichnen, die jemand mit einem Kunden verbringt oder braucht, um einen Artikel zu bearbeiten. Drittens meine ich "logged" im ursprünglichen Sinn, in dem es "zerhackt" bedeutet. Arbeiten werden zunehmend heruntergebrochen auf standardisierte Einheiten, die leichter überwacht und ausgelagert werden können. All diese Praktiken haben in viele Bereichen Einzug gehalten – egal, ob im privaten oder im öffentlichen Sektor, in der Industrie oder im Service.

STANDARD: Heute spricht man von Gig-Economy, das hat doch auch positive Seiten?

Huws: Ich mag diesen Begriff nicht, denn er impliziert Freiwilligkeit, Kreativität und Autonomie – wie bei einem Musiker, der von Gig zu Gig lebt. Die Realität ist, dass die Arbeit, die über Online-Plattformen vermittelt wird, überhaupt nicht selbstbestimmt ist, sondern sehr prekär.

STANDARD: Die Vorstellung von digitalen Nomaden, die sich unabhängig in einer globalen Start-up-Kultur bewegen, ist eine Illusion?

Huws: Zweifellos gibt es Leute, die das können, aber es ist belegt, dass nur ein sehr geringer Anteil der digitalen Arbeit auf Online-Plattformen gut genug bezahlt ist, um einen solchen Lebensstil zu ermöglichen. Der Großteil der Crowdworker, die wir für unsere Forschungen befragt haben, rackert sich ab, um über die Runden zu kommen, und wagt nicht, Aufträge abzulehnen, egal, wie lang ihre Arbeitstage sind.

STANDARD: Kreiert die Digitalisierung neue Abhängigkeitsverhältnisse?

Huws: Sie kreiert neue Formen von Prekariat. Die Gig-Economy untergräbt die normativen Arbeitsmodelle, die die meisten Arbeiter zumindest in Europa seit den 1950ern erwarten konnten – einen permanenten Vollzeitjob zu haben, mit bestimmten Fähigkeiten, die auch vom Arbeitgeber weiterentwickelt werden. Durch die digitalen Praktiken kommt es hingegen zu einer Entprofessionalisierung.

STANDARD: Inwiefern?

Huws: Kundenbewertungen sind ein Werkzeug der Entprofessionalisierung, weil eine Arbeit nicht mehr durch Kollegen, also Experten, bewertet wird, sondern durch den Kunden, der möglicherweise keine Ahnung hat, wie der Job funktioniert, und stark beeinflusst wird von Faktoren, die nichts mit der Arbeit selbst zu tun haben, zum Beispiel von rassistischen oder homophoben Stereotypen. Leute geben eine schlechte Bewertung, weil ihnen das Gesicht des Uber-Fahrers nicht gefällt. Das trifft auf alle Bereiche zu, die mit Bewertungen arbeiten, ob im Callcenter, in Hotels oder Reiseagenturen. Das führt auch dazu, dass die Arbeiter immer weiter die Kontrolle verlieren. Wenn man nicht mehr sagen kann: Ich glaube, so zu arbeiten ist nicht sicher, ich würde es anders machen, hat das Auswirkungen, nicht nur auf Arbeitssicherheit und Gesundheit, sondern auch auf die Arbeitsqualität.

STANDARD: Was bedeutet das für die Menschen, die in solchen Jobs arbeiten?

Huws: Es gibt viele Belege dafür, dass diese Entwicklung zu Armut und Stress führt. Es gibt keine Gewerkschaften, die diese Menschen vertreten, wenn es um Ungerechtigkeiten und unzumutbare Arbeitsbedingungen geht. In einer Situation, in der Arbeiter immer auf Abruf sein müssen und nie wissen, wann sie das nächste Mal arbeiten können, sind sie komplett machtlos und können in keinen Dialog mit ihrem Arbeitgeber treten, insbesondere wenn er in einem anderen Land sitzt. Was auch bedeutet, dass es sehr schwierig ist, nationales Recht durchzusetzen. Davon profitieren hauptsächlich multinationale Unternehmen. Der Preis dafür sind nicht nur geringe Löhne, sondern auch hohe Stresslevels durch die Unmöglichkeit, vorauszuplanen. All das führt übrigens häufig auch zum Auseinanderbrechen von Familien.

STANDARD: Was erwartet uns durch einen weiteren Ausbau der virtuellen Arbeitsformen?

Huws: Die Plattformtechnologie macht es immer einfacher und billiger, Arbeit auf einer Just-in-time-Basis zu organisieren und isolierte Arbeiter in Kontakt mit Kunden zu bringen. Dabei wandert die sogenannte informelle Ökonomie zunehmend zu großen multinationalen Unternehmen. Unsere Studien legen nahe, dass in jenen Ländern, wo es eine ausgeprägte informelle Ökonomie gibt, auch die Zahl der Crowdworker am größten ist. Die Berufsfelder sind nicht neu – Taxifahrer, Babysitter, Fensterputzer, Reinigungskräfte. Diese Dienstleistungen waren immer ein großer Sektor, aber auch ein sehr vernachlässigter. Eine Putzfrau, die früher ihre Freundinnen nach Jobs gefragt hat, geht jetzt auf eine Online-Plattform, die zehn oder 15 Prozent oder in manchen Fällen 25 Prozent des Werts der Transaktion zurückbehält. Das zieht Geld aus der lokalen Wirtschaft ab. Es ist sehr schwierig, diese globalen Unternehmen zu besteuern. Die Technologien, mit denen sie arbeiten, ebnen letztlich dem Kapitalismus einen Weg, sich neu zu erfinden.

STANDARD: Auf Kosten des Cybertariats ...

Huws: Jeder hat die Macht, zu seinem Arbeitgeber Nein zu sagen, zumindest solange er nicht hungert. Natürlich sind die Herausforderungen, sich zu organisieren, hoch, insbesondere wenn es um versteckte und isolierte Heimarbeit geht. Aber es gibt auch Gegenwind, siehe die Streikwelle von Deliveroo- und Amazon-Arbeitern in ganz Europa.

STANDARD: Wie kann man gegensteuern?

Huws: Wir brauchen keine speziellen Gesetze für Gig-Economy-Arbeiter. Alle sollten ein Recht darauf haben, zumindest ein wenig im Voraus zu wissen, wann sie das nächste Mal gebraucht werden. Alle sollten das Recht haben, gegen eine negative Kundenbewertung vorzugehen. Alle sollten das Recht haben, dass die Daten, die von ihrer Arbeit gesammelt werden, geschützt sind. Wir müssen die Arbeitnehmerrechte an das 21. Jahrhundert anpassen. 

Zur Person:

URSULA HUWS, geboren 1946, ist Professorin für Arbeit und Globalisierung an der britischen Universität Hertfordshire. Sie koordinierte eine Reihe von EU-Forschungsprojekten zu den Dynamiken virtueller Arbeit, zuletzt leitete sie die Studie "Work in the European Gig Economy". 2014 erschien das Buch "Labor in the Global Digital Economy: The Cybertariat Comes of Age" (Monthly Review Press).

Links:
Blog von Ursula Huws
Studie "Work in the European Gig Economy"
"A New Bill of Workers’ Rights for the 21st Century"


Nota. - Das ist in der Tat eine Neuigkeit, mit der allgemein nicht gerechnet wurde. Aber es sieht doch weniger danach aus, dass die Bildung eines Kybertariats die Zukunft der Arbeit in eine ganz andere Richtung lenken wird, als vielmehr, dass es eine kritische Übergangserscheinung ist, die die Entwicklung verzögert, aber nicht aufhält. 

Es ist ja zu erwarten, dass all diese Tätigkeit ihrerseits auf Maschinen übertragen werden, sobald sie technisch reif sind und (noch) weniger kosten als die Kybertarier.

Wie tief diese Krise reichen und wie lange sie dauern wird, ist nicht abzusehen, es hängt von zu vielen Variablen ab. Wird es zu gewaltigen Verwerfungen kommen oder bloß zu Fährnissen am Rand? Man muss sich auf alles und auch aufs Schlimmste gefasst machen.

Aber ein qualitativ anderes Problem als die, um die sich die Debate über ein Grundeinkommen dreht, wäre es nicht.
JE


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