Montag, 29. August 2016

Chinas neue Reiche.

aus nzz.ch, 29. 8. 2016

Kommunismus predigen und Nepotismus praktizieren
Für die chinesische Gesellschaft, die den Kommunismus predigt und den (Staats-)Kapitalismus praktiziert, ist die Verteilung des Reichtums eine prekäre Sache. Es häufen sich die Widersprüche.

von Wei Zhang

Jede Form von Reichtum sucht die Art und Weise, wie er erworben wurde, zu verbergen. Jeder Besitz strebt danach, seinen Bestand nicht nur zu verteidigen, sondern möglichst zu vermehren. Die chinesische Geschichte zeigt diesbezüglich eigene Wege, die heutzutage ein neues Interesse wecken.

In der europäischen Geschichte wurde der frühe Reichtum zunächst von Aristokraten angehäuft. Das aristokratische System schützte seine Günstlinge. Ein akkumulierter Reichtum wurde im Zuge der Vererbung als Familienbesitz gesichert. Aus Jane Austens Romanen wissen wir, wie ein gemeinsames Familienerbe am liebsten dem ältesten Sohn allein weitergegeben wurde, damit die Grösse des Reichtums nicht durch die Verteilung auf mehrere Empfänger gemindert wurde. Der Besitz sollte konzentriert bleiben, damit seine Vermehrung maximiert werden konnte.

Im Zug der industriellen Revolution wurde die aristokratische zwar durch die bourgeoise Reichtumsanhäufung ersetzt, jedoch brachte dies im Umgang mit Reichtum und Besitz keinen Bruch. Auch im Kapitalismus gilt es, den erworbenen Reichtum innerhalb der Familie zu sichern, wobei die Weitergabe grundsätzlich unabhängig von der Begabung der Erben sein soll. Sie wird allenfalls durch eine Vermögensverwaltung im Interesse des Besitzers übernommen, um die Kontinuität des Reichtums zu gewährleisten.

Talente und Beamte

In China waren am Ende des Qing-Reiches 1911 gewisse gesellschaftliche Schichten zu grossem Reichtum gekommen. Das aristokratische System indes war spätestens im 7. und 8. Jahrhundert während der Tang-Dynastie aufgelöst worden. Es wurde verdrängt durch ein meritokratisches System der Talentselektion. Die Beamtenprüfung öffnete fortan die Tür zum Reichtum. Im Anschluss an eine erfolgreich bestandene Prüfung erlangte man Zugang zu einer Beamtenkarriere, welche im Idealfall zu Status, Macht und Ressourcen verhalf. Das Geburts- und Erbrecht auf Reichtum wurde dadurch eliminiert. Die Prüfung als Eintrittskarte entschied fortan über den materiellen Status eines Lebens.

Ein chinesisches Sprichwort sagt: Reichtum setzt sich nicht über drei Generationen fort. Die erste Generation leistet die Aufbauarbeit, welche die zweite Generation, die Früchte des Reichtums schon geniessend, fortsetzt, aber bereits die dritte Generation vermag der Verantwortung nicht mehr gerecht zu werden und äufnet den Reichtum nicht mehr, sondern verliert ihn sogar. Der Reichtum geht in der Meritokratie aber nicht verloren, lediglich die Verteilung innerhalb der Gesellschaft findet immer wieder von neuem statt.

In Wirklichkeit indes birgt die Meritokratie ebenso viele Linien, die den Erfolg über Generationen garantieren, wie in der Aristokratie. Eine Prüfung zu absolvieren, steht grundsätzlich jedermann frei. Die Ressourcen der höheren Bildung sind hingegen nie allen in gleichem Masse zugänglich aufgrund der ungleichen Bildungsniveaus und Besitzverhältnisse sowie der sozialen Stellung der Eltern und des weiteren Umfeldes.

Die Idee, Reichtümer anhäufen und besitzen zu 
dürfen, blieb lange ideologisch prekär.

Traditionell gesehen war das Streben nach Bildung den Familien und Klans die Mühe insofern wert, als der Erfolg des einzelnen Familienmitglieds die entscheidende Voraussetzung für die Fortsetzung des kollektiven Familienreichtums darstellte. Die Bildung des Nachwuchses war ein Mittel zum Zweck seiner Weiterführung. Während in der Aristokratie das individuelle Versagen eines einzelnen Familienmitgliedes wenig Folgen hatte, solange die Verwaltung des kollektiven Reichtums gut organisiert blieb, schlich sich hier ein Moment der Unsicherheit ein. Der Erwerb einer Beamtenstelle und damit der Reichtum ist in der Meritokratie unberechenbar. Jedes Nachlassen der Bildungsbemühungen ist fatal und kann schwere Folgen haben. So lässt sich bis heute gut beobachten, wie willig und beharrlich ostasiatische und insbesondere chinesische Eliten alles für die Bildung ihres Nachwuchses tun, um ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder zu sichern.

Die Gerechtigkeit des Gaokao

Schon am Ende der chinesischen Kaiserzeit war der Reichtum in der chinesischen Gesellschaft stark geschrumpft. Die Revolutionen und Kriege des 20. Jahrhunderts und ganz besonders der Klassenkampf der Kulturrevolution mit der Kollektivierung und Aufhebung des Privatbesitzes tilgten im kommunistischen China weitgehend das Bewusstsein für Reichtum. Gleichzeitig sorgten sie dafür, dass weite Teile der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebten. Erste Schritte zu einer Rehabilitation des Privatbesitzes und zum Wiederaufbau von privatem Reichtum wurden Anfang der achtziger Jahre gemacht. Die Idee, Reichtümer anhäufen und besitzen zu dürfen, blieb aber noch lange ideologisch prekär.

Zu Wohlstand kommt man in China freilich nicht allein durch Selektion im Rahmen des Bildungssystems. Als 1977 die nationale Hochschuleintrittsprüfung (Gaokao) wieder eingeführt wurde, diente sie zunächst bloss der Regulierung der Studentenmenge. Bis jemand überhaupt an dieser entscheidenden Prüfung teilnehmen konnte, war er zuvor schon mehrere Male auf seine soziale Herkunft und seinen politischen Hintergrund hin überprüft worden – was das in Bezug auf Förderung und Diskriminierung heisst, kann man sich denken. Die Prüfung wurde unter strengen Auflagen geschrieben, anonymisiert korrigiert und hart bewertet. Abschreiben galt als ein ernstes Delikt, für das man zu einer Haftstrafe verurteilt werden konnte. Deshalb behaupten die Chinesen oft, Gaokao sei die einzige Institution, die frei von Korruption und deshalb grundsätzlich fair sei.

Aber hier machen sich die Chinesen etwas vor, denn in jeder Region und in jeder Stadt gelten unterschiedliche Notenhöhen für die Zulassung. Angesehene Universitäten rekrutieren ein Vielfaches an Kandidaten aus den Städten, in denen sie selber angesiedelt sind, während die Studenten aus peripheren Regionen das Nachsehen haben. Zudem werden den Kandidaten zwar ihre Notenergebnisse mitgeteilt, aber diese bilden keinen absoluten Massstab, denn die Universitäten halten sich bedeckt in Bezug darauf, welcher Notenschnitt für eine Zulassung erforderlich ist. Zwischen der Prüfung und der Zulassung gibt es einen langen Zustand der Ungewissheit. Um dem Glück nachzuhelfen, werden alle verfügbaren Ressourcen an Macht, Beziehungen und Vermögen eingesetzt.
Das chinesische System gerät durch die Globalisierung 
 zunehmend unter Druck.

Es gibt keine offiziellen Daten, die Aufschluss darüber geben, wie viele Revolutionsaristokraten, also Nachkommen von hohen Parteifunktionären, auf diesem krummen Weg zu Macht und Reichtum gekommen sind. Aber es gilt als Binsenweisheit, dass Personen mit dem entsprechenden Hintergrund überdurchschnittlichen Erfolg haben. Sogar wenn sie über keine akademische Bildung verfügt, schmückt diese Klientel sich am Schluss doch mit einem Titel der Peking-Universität, der nicht nur gut aussieht, sondern auch den Schein der Legitimität weckt.

Strenggenommen praktiziert China inzwischen ein Mischsystem aus meritokratischen und aristokratischen Elementen. Für die Parteikader und ihren Nachwuchs dient die Aristokratie als eine Art Schutzmauer gegen den «Pöbel», während das Prinzip der meritokratischen Selektion dem «Pöbel» aber dennoch die Chance zum Aufstieg lässt. Entsprechend jubelt man im ganzen Land, wenn der seltene Fall eintritt, dass ein armer Bauernsohn den Sprung an eine Spitzenuniversität geschafft hat. Solches nährt die Hoffnungen der Unterprivilegierten, durch eigene Bildungsanstrengungen gesellschaftlich aufsteigen zu können. Die chinesische Mittelschicht leitet daraus auch gerne den Schluss ab, dass, wenn einer von ganz unten es schon schaffen kann, sie mit ihren viel besseren Bedingungen umso bessere Aussichten hat, nach oben zu gelangen.

Irritationen

Auch in China gilt, dass Geld allein noch keinen Reichtum darstellt. Zu wahrem Reichtum gehören in der chinesischen Gesellschaft noch andere Assets wie Macht und Beziehungen, wobei Macht zu Beziehungen verhelfen kann und Beziehungen den Zugang zur Macht erleichtern können. Die Investitionen in beides zielen auf langzeitigen Profit. Ein akademischer Titel ist hingegen lediglich ein Ausweis, der das Bildungsniveau einer Person belegt.

Wie aber wirkt sich der Einfluss des Westens auf dieses System aus? Dreissig Jahre Wirtschaftsreform haben in China eine Schicht hervorgebracht, die über exorbitanten Reichtum verfügt. Nicht alle sind durch den traditionellen Königsweg der Bildung zu Wohlstand gekommen, viele waren einfach nur Glücksritter.

Ein Beispiel dafür ist Wang Jianlin, der mit einem Vermögen von 31 Milliarden Dollar als reichster Mann Asiens gilt. Unter den Bedingungen der Ein-Kind-Politik hat ihm seine Frau einen einzigen potenziellen Erben geboren. Dieser ging seit dem Alter von fünf Jahren in Singapur zur Schule. Später studierte er in London Philosophie. Als der junge Mann nach China zurückkehrte, war er in seinem Denken weitgehend verwestlicht. Das Wirtschaftsimperium, das sein Vater aufgebaut hat, kann er nicht im Stil eines chinesischen Geschäftsmanns weiterführen. Allein schon der Sinn für die Pflege von Beziehungen geht ihm ab.

Daran ist zu ersehen, wie sehr die Kombination von Revolutionsaristokratie und Meritokratie in China durch die Globalisierung unter Druck gerät. Dass der chinesischen Gesellschaft durch die extrem ungleiche Verteilung des Reichtums unter den Bedingungen einer ernsthaften Wirtschaftskrise sehr schnell eine Zerreissprobe drohen könnte, steht auf einem anderen Blatt.

Die chinesische Publizistin Wei Zhang lebt in der Schweiz.




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