Big Data
Das Leben als Live-Stream
Ein feines Menu im Restaurant, die Zeugenschaft bei einem Terroranschlag – alles lässt sich via Social Media in Echtzeit kommunizieren. Aber wie gehen wir um mit dem ständig wachsenden Datenstrom?
Der Titelheld von Edgar Allan Poes 1839 erschienener Erzählung «Ein verbrauchter Mann» ist ein alter General, dem in den Kämpfen gegen die Indianer allerhand Unbill widerfuhr. Sein nach wie vor blendendes Äusseres verdankt er der Tatsache, dass sein Körper fast zur Gänze mit Prothesen rekonstruiert wurde. Dieser General Smith ist eine der ersten literarischen Verkörperungen eines «Cyborg», eines technologisch optimierten Lebewesens. Mehr als 150 Jahre später können wir sagen, dass wir alle dem alten General ähnlich geworden sind, dank den elektronischen Prothesen – etwa den Smartphones –, die uns im digitalen Zeitalter überleben helfen.
Ein alter Menschheitstraum
Die Resultate dieser Transformation haben wir direkt vor Augen (pardon, vor unseren Smartphones natürlich): Wir haben angefangen, unser Leben in Echtzeit zu digitalisieren und zu senden. Die Welt wird ein «Live-Cast», eine aus dem Moment geborene Projektion von allem, was sich rund um uns abspielt – vom schön angerichteten Essen im Restaurant bis zur Schiesserei, deren Zeuge wir zufällig werden. Das «Internet der Dinge» drängt uns langsam in eine Lebensform, in der ein Netzwerk intelligenter Objekte unsere Lebenswelt dauernd überwacht und die Daten irgendwohin übermittelt – ganz ähnlich dem Netzwerk der Abermillionen Menschen, die den Strom des Lebens mithilfe sozialer Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram einfangen.
Das ist ein alter Menschheitstraum. Schon 1945 spielte Vannevar Bush, ein visionärer Computerwissenschafter am Massachusetts Institute of Technology, mit dem Gedanken, eine Maschine zu konstruieren, die er Memex nannte (ein Kompositum aus «memory» und «index»). Diese hätte eine Art erweiterten persönlichen Erinnerungsspeicher generieren sollen.
Einige Jahrzehnte später versuchte dann der Elektroingenieur und Forscher Gordon Bell diese Idee umzusetzen. Für sein Projekt «Your Life, Uploaded» entwickelte er Soft- und Hardware, die jeden Aspekt seines Lebens mithilfe von Fotografien, biometrischen Daten, Aufzeichnungen von Online-Aktivitäten usw. festhielt. Die Technologie war rudimentär, aber trotzdem dokumentierte Bell damit mehr als eine Dekade seines Lebens – und kommentierte sein Projekt wie folgt: «Das Resultat? Eine verblüffende Erweiterung und Steigerung menschlicher Erfahrung, von Gesundheit und Bildung bis hin zur Produktivität und den Reminiszenzen an schöne Momente. Und wenn du tot bist, haben deine Enkel immer noch Zugang zu deinen Erinnerungen, deinem Leben.»
Was Bell nicht vorausgesehen hatte, waren die Folgen, die das Teilen solch immenser Datenmengen (Big Data) nach sich ziehen kann. Wie in allen Cyborg-Systemen können spontan massive Feedback-Schleifen ausgelöst werden, deren positive und negative Auswirkungen schwer vorauszusehen sind. Der Amoklauf in München vom vergangenen Freitag hat gezeigt, dass via Internet verfügbar gemachte Daten eine wichtige Informationsquelle für die Ordnungshüter sein können: Dank Videoaufzeichnungen gelang eine schnelle Identifikation des Täters. Aber dieselben Daten vermögen auch Schaden anzurichten: So warnten die bayrischen Sicherheitskräfte selbst davor, Informationen übers Internet zu verbreiten, die flüchtigen Terroristen dienlich sein könnten.
Big Data – Bad Data?
Ohnehin können Big Data manchmal zu Bad Data, zu falscher oder absichtlich irreführender Information, werden. Der Münchener Amokläufer hat sich diese Tatsache offenbar zunutze gemacht: Er soll via Facebook zu einem Gratisessen bei McDonald's eingeladen haben, um möglichst viele Menschen dorthin zu locken. Auch Daten, die zur Auswertung gesammelt wurden, können Fallgruben bergen; nicht umsonst sagte der britische Premierminister Benjamin Disraeli schon im 19. Jahrhundert: «Es gibt dreierlei Lügen: Lügen, verdammte Lügen und Statistiken.» Eine Variation dieses Ausspruchs würde nicht schlecht ins Zeitalter von Big Data passen.
Es ist essenziell wichtig, die Qualität der Informationen zu überprüfen, die wir sammeln, und dabei nach Möglichkeit die Zivilgesellschaft einzubinden. Ein substanzieller Aspekt des Internets ist die Tatsache, dass es demokratisch und – dank der Wachsamkeit der Community – auch «selbstkritisch» ist.
Wie aber werten wir die immensen Informationsmengen aus, die sich ansammeln? Ähnlich wie zu Beginn des Internetbooms in den 1990er Jahren haben wir das Gefühl, in Daten zu ertrinken. Damals konnte Google noch Ordnung ins Netz bringen; plötzlich fand man ohne grosse Mühe, was vorher wie die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen geschienen hatte. Heute aber brauchen wir neue Technologien, mittels deren neue Arten von Daten ausgewertet werden können. Den ersten Websites konnte man mit einfachen Suchmaschinen beikommen, die mittels Stichwortsuche funktionierten; aber heute kursieren auch von Sensoren oder Videokameras produzierte Informationen im Netz, für deren Analyse entsprechend komplexe Formen von künstlicher Intelligenz vonnöten sind.
Hausaufgaben für die Medien
Das Problem der Datenauswertung ist auch ein entscheidender Faktor, wenn es um die zukünftige Rolle der Medien geht; denn für diese dürfte die Analyse von Ereignissen zu einer wichtigeren Aufgabe werden als das Übermitteln von Breaking News. Die gedruckten Ausgaben, aber auch die Websites der Tageszeitungen wirken hoffnungslos veraltet, wenn man sie mit der Unmittelbarkeit einer Berichterstattung in Echtzeit vergleicht. Ob wir es wollen oder nicht – die Live-Nachrichten sind uns auf den Fersen, dank dem frenetischen Eifer von Millionen Reportern, die an den Frontlinien des Lebens (oder des Todes, wie im Falle der dramatischen Postings über die Terrorakte der jüngsten Zeit) aktiv sind. Das ist nicht der Big Brother, den Orwell sich vorstellte, sondern eine Unzahl von Kleinen Cousins, die übers Web verbunden sind. Die Cyborg-City.
Der Architekt und Ingenieur Carlo Ratti lehrt am Massachusetts
Institute of Technology und ist Direktor der Design-Firma Carlo Ratti Associati.
Sein gemeinsam mit Matthew Claudel verfasstes jüngstes Buch, «The City of
Tomorrow», erschien im Juni 2016 bei der Yale University Press. – Aus dem
Englischen von as.
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