Samstag, 6. August 2016

Es waren nicht alle besoffen.



Die "große Proletarische Kulturrevolution"

Ein so spektakuläres Ereignis wie die chinesische "Kulturrevolution"mußte in der gesamten Linken zu heftigen Diskussionen führen, und es ist begrüßenswert, daß es auch in unserem Verband hierüber zu Kontroversen gekommen ist. Leider litten diese Diskussionen mitunter an einer mangelhaften Information der Teilnehmer. Das ist auch nicht verwunderlich angesichts der gerade zu diesem Thema völlig unzulänglichen Nachrichtenquellen, über die wir verfügen; denn auch die Peking Rundschau wird man nicht als seriöse Quelle betrachten können, wenn es sich um innerchinesische Angelegenheiten handelt.

Was ist geschehen?

Rufen wir un kurz und etwas schematisch den Ablauf der Ereignisse ins Gedächtnis zurück. 

Der "Kampf an der ideologischen Front" ist in der VR China nicht erst mit der "Kulturrevolution" ausgebrochen; seit Jahren gibt es eine ständige Kampagne gegen "rechte", "revisionistische" und "bürgerliche" Abweichungen vor allem in der Philosophie und der Kunst. Aber diese Kampagnen waren in keiner Weise mit der heutigen "Kulturrevolution" vergleichbar. Auch gibt es kein Indiz dafür, daß sich die Anzeichen "bürgerlichen" oder "revisionistischen" Denkens in der letzen Zeit so gehäuft hätten, daß sie eine "Kulturrevolution" unbedingt notwendig gemacht haben. Also muß wohl der Anlaß zu dieser "Revolution" außerhalb der eigentlich kulturellen Sphäre gesucht werden. 

Auf der Suche nach dem Ursprung der "Kulturrevolution" stoßen wir alsbald auf eine politische Krise in einem Sektor der chinesischen Bürokratie, die zweifellos als ein Vorspiel zu den späteren Ereignissen gewertet werden muß: die "Reinigug" der Armee. Sein November '65 konnte man eine Kampagne gegen jene Militärs beobachten, die, wie es hieß, das Primat der Politik über das Militärische nicht anerkennen wollte. Das heißt, daß es in der Armee Gruppen gab, die ganz allgemein die Vorherrschaft der politischen Bürokratie, d. h. der Partei, über die militärische abzubauen strebten, und die im Besonderen vermutlich aus strategischen und militärtechnischen Erwägungen eine stärkere Anlehnung Chinas an die UdSSR befürwortet haben dürften. Man muß im Auge behalten, daß die Partei bürokratie nämlich zur gleichen Zeit die Polemik gegen Moskau verstärkte (Vorabend der Trikontinentalen Konferenz!), daß andererseits die Niederlage der indonesischen KP das Manövergelände für die imperialistischen Eskalation in Indochina beträchtlich erweiterte und die Aggressionsdrohung der USA gegenüber China erstmals feste Gestalt annahm. Die Krise in der Armee wurde vorläufig besiegelt auf der Armeekonferenz dieses Jahres mit einem Sieg der Parteilinie bzw. ihres Apparats - repräsentiert durch Lin Piao - über die Militärbürokratie.

In diesem Konflikt in der Armee finden wir bereits die wesentlichen Elemente der späteren "Kulturrevolution" vorgezeichnet: erstens den unmittelbare politischen Anlaß, nämlich die psychologische und materielle Vorbereitung der Volksrepublik auf einen Verteidigungskrieg gegen die USA, der als ein von äußerer (sowjetischer) Hilfe unabhängiger Krieg des ganzen Volkes konzipiert wird, und - damit vermittelt - die tiefere Ursache der "Revolution": die notwendige Stärkung der politischen Bürokratie, d. h. vor allem des Parteiapparats, gegenüber den anderen Sektoren der Bürokratie: Staatsapparat, Wirtschaftsfunktionäre, Techniker, "Kulturschaffende" und eben das Militär.

Die "Kulturrevolution" selbst wird ungefähr im Mai [1966] eingeleitet und findet ihren Höhepunkt nach dem Plenum des ZK im August. Wahrscheinlich sind auf diesem Plenum der Machtkampf zwischen den verschiedenen Sektoren der Bürokratie ausgetragen und die Weichen für für die "Kulturrevolution" gestellt worden. Es war das erste ZK-Plenum seit vier Jahren (!) und es hat zwölf Tage gedauert, viel länger als alle vorangegangenen. Wie sich aus der späteren Entwicklung der "Kulturrevolution" unschwer ablesen läßt, war das Ergebnis der Tagung der Sieg der Partei, repräsentiert durch Lin Piao und Mao Tse-tung. Die darauf folgende Mobilisierung der "Roten Garden" bezweckt dann offenbar, die im "Überbau" getroffenen Vorentscheidungen in der "Basis" auch praktisch durchzusetzen.

Wie ist die "Kulturrevolution" zu bewerten?

Ist der Zusammenhang, in den wir die Ereignisse gestellt haben, richtig, so folgt daraus konsequent auch eine politischen Einschätzung des Phänomens. Dann muß nämlich die "Kulturrevolution" vornehmlich unter dem Blickwinkel einer forcierten Vorbereitung Chinas auf einen amerikanischen Angriff betrachtet werden. Was als "Kampf gegen die Rechten" erscheint, stellt sich dann als die Ausschaltung oder gar gesellschaftliche Liquidierung all jener Kräfte dar, die im Kriegsfall aufgrund ihrer privilegierten sozialen Position und der daraus resultierenden konservativen Mentalität (dem Wunsch, den individuellen Besitzstand zu sichern) zu einer versöhnlerischen Haltung gegenüber dem Aggressor neigen könnten und die - sollte es zu einem längeren Landkrieg kommen - zur Kollaboration mit der amerikanischen Militäradministration in den besetzten Gebieten bereit wären.

Einige Genossen glauben, die "Kulturrevolution" als die langerwartete "politische Revolution" der Volksmassen gegen die Herrschaft der Bürokratie interpretieren zu dürfen. Es wäre sehr schön, wenn dem so wäre, aber leider scheint bei dieser Ansicht der Wunsch der Vater des Gedanken zu sein. Die "Roten Garden" sind zwar gegen die Privilegien und die Bourgeois mobilisiert worden, aber doch nicht gegen die Herrschaft der Bürokratie überhaupt, nicht einmal gegen die Herrschaft gewisser Sektoren dieser Bürokratie. Ziel ihrer Aktionen sollte die Lebensweise dieser Bürokraten sein. Es ging nicht gegen die politische Funktion dieser Bürokratie, sondern gegen die wirtschaftlichen und sozialen Vorrechte, die sich die einzelnen Bürokraten zugeschanzt haben. Die Propaganda der Parteispitze wie auch der "Roten Graden" ist in ökonomisch-sozialpolitischem Sinn egalitär, aber nicht demokratisch. Im Gegenteil: Die Trennungslinie zwischen Revolution und Konterrevolution ist die Frage, ob die absolute, über jeder Kritik stehende Führerschaft Maos (und das heißt der z. Z. im ZK dominierenden Gruppe) anerkennt oder nicht.*

Aus einem Mißverständnis der gesellschaftlichen Natur der Sowjetunion, in der sie eine Restauration des Kapitalismus zu beobachten glauben, nehmen die chinesischen Theoretiker nämlich an, dass sich aus einer wirtschaftlich und sozial privilegierten Kaste eine neue Kapitalistenklasse entwickeln müsse. Sie können aber aus ihrer eigenen theoretischen Beschränktheit (Bewertung der Stalin-Ära!) nicht verstehen, dass die Herausbildung derartiger wirtschaftlich-sozialer Vorrechte das notwendige Ergebnis der Usurpation der politischen Macht durch eine exklusive Gruppe von "Führern" ist. Die Bürokratisierung ist eine immanente Tendenz der warenproduzierenden Gesellschaft, die sich umso stärker durchsetzt, je niedriger das kulturelle und ökonomische Niveau dieser Gesellschaft ist. Eine bürokratische Kaste wird sich in einer Gesellschaft, in der materieller Mangel herrscht, nie auf das Monopol der politischen Machtausübung beschränken lassen, sondern wird ihre Privilegien auch auf das wirtschaftliche und soziale Gebiet auszudehnen suchen. Der Versuch, die wirtschaftlich-sozialen Privilegien der chinesischen Bürokratie abbauen zu wollen, ohne zugleich deren Machtmonopol zu brechen, ist der Versuch, eine Krankheit dadurch zu kurieren, dass man ihre Symptome beseitig.

Es wird dagegen eingewandt, daß ja die "Roten Garden", die "Vorhut der Kulturrevolution", sich seit einiger Zeit aus der Abhängigkeit von der Parteiführung zu lösen beginnen. Die von der Führung ausgelöste Bewegung werde - gegen deren Willen - durch ihre eigene Dynamik zu einem Ansturm auf das politische Machtmonopol getrieben. Das mag stimmen, obgleich es zweifelhaft bleibt, inwiefern die von den "Rotgardisten" erreichten Absetzungen gewisser Bürokraten nicht doch gerade den Wünschen der Mao-Lin Piao-Gruppe entsprachen, und obgleich die in der letzten Zeit immer häufiger gemeldeten blutigen Zusammenstöße zwischen "Rotgardisten" und Selbstverteidigungsmilizen der Arbeiter nicht gerade für eine solche Hypothese sprechen würden.

Aber selbst wenn diese Vermutung zutrifft, ist es ausgeschlossen, daß sich aus dieser Bewegung eine allgemeine antibürokratische Volksrevolution entwickeln kann. Es scheint uns unmöglich, die Herrschaft der Bürokratie zu brechen, ohne einen klaren theoretische Begriff von eben dieser Bürokratie zu haben, und den haben die "Roten Garden" mit ihrem kümmerlichen theoretischen Instrumentarium (Zitatensammlung von Mao in der Brusttasche!) zweifellos nicht. Es ist auch ziemlich ausgeschlossen., daß sie das nötige Instrumentarium, d. h. ein angemessenes Verständnis der Bürokratie, von sich aus entwickeln können. Die "Roten Garden" setzen sich hauptsächlich aus Schülern zusammen, das heißt aus Jugendlichen unter 18 Jahren., ihre möglichen antibürokratischen Tendenzen werden bei ihrer mangelhaften politischen Erfahrung bestenfalls in einer anarchischen Revolte Ausdruck finden, die letzten Ende manipulierbar und für das bürokratische System verdaubar ist. Diese Revolte wird ebensowenig zum Sturz der chinesischen Bürokratie führen, wie die Revolte der Provos zum Sturz der holländischen Bourgeoisie.

*)vergl. dazu : Hsinhua News Agency, Ausgabe vom 11. Juni 1966

Jochen Ebmeier


aus : SJ, Mitgliederrundbrief der SJD - Die Falken. Landesverband Berlin


Nota. - Dass die USA jemals ernstlich einen Angriff aufs chinesische Festland geplant haben, und gar noch, als sie in Vietnam so tief im Dreck steckten, ist kaum anzunehmen - und ebensowenig, dass die Mao-Führung das wirklich glaubte. Das war bloße Propaganda, und sie hat bis nach Westeuropa gewirkt. 

In Wahrheit wird es - so wie seinerzeit bei Stalins wahnwitzigen weltpolitischen Zickzacks, die ihn bis ins Bündnis mit Hitler führten - immer und immer wieder nur um Machtkämpfe im innersten Zirkel der Parteiführung gegangen sein. Dort war Mao offenbar in die Minderheit geraten. Nachdem er sich der Unterstützung Lin Piaos und der Armeeführung versichert hatte, ging er daran, den Parteiapparat zurückzuerobern, indem er die Kinder auf die Straße hetzte. Hunderttausenden westlichen Intelligenzler hat er damit den Kopf verdreht, es bleibt ihre Schande bis heute.

Allerdings waren auch von denen viele noch sehr jung. Immerhin hatte die chinesische Parteiführung erstmals nicht bloß schamhaft von Bürokratismus, sondern direkt von der Bürokratie als einem gesellschaftlichen Gebilde geredet! War da nicht ein Bann -, nicht gar ein Damm gebrochen? Das war in der stalinistischen Welt so ungeheuerlich, dass es einem schonmal kurz zu Kopfe steigen konnte. Aber es waren eben nicht alle besoffen. Aber die nüchtern ge-blieben waren, wurden niedergeschrien. Das ist bis heute eine Schande auch für die, die damals noch sehr jung waren.
JE






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