Sonntag, 7. August 2016

Die Islamisierung der säkularen Republik

aus nzz.ch, 7.8.2016, 08:00 Uhr                                                                Erdogans Prunkbau im asiatischen Teil Istanbuls

Religiöser Kulturkampf in der Türkei
Laizismus war in der Türkei stets ein Projekt der Eliten. Die Doktrin kam bei der Mehrheit der Menschen nicht an. Nun kehrt der Islam als politische Ideologie zurück.

von Zafer Şenocak 

«Allahu akbar», Gott ist gross, skandierte die Menge, die sich, von den Moscheen aus mobilisiert, auf den Strassen Ankaras und Istanbuls dem putschenden Militär entgegenstellte. Es ging ihr dabei nicht um die Verteidigung demokratischer Werte. Diese waren von der Herrschaft unter Recep Tayyip Erdoğan längst ausgehöhlt, sinnentleert. Stattdessen wurden Teile der sunnitischen Bevölkerung in einen politisierten Islam hineingezogen, der für die Menschen an den Rändern der Gesellschaft attraktiver zu sein scheint als die aufklärerischen Ideale der säkularen türkischen Republik.

Einst war die Türkei das Vorzeigeprojekt des Westens in der islamischen Welt gewesen. Staat und Religion waren getrennt. Die Bildungsinstitutionen des Landes orientierten sich an westlichen Hochschulen. Auch der wirtschaftliche Aufstieg der Türkei beruhte auf dieser Grundlage. Ein an Rohstoffen armes Land arbeitete sich durch Bildung und Forschung empor.

Die türkische Kulturrevolution

Doch der Laizismus war ein Projekt der Elite. Er ging im Herzen vieler vor allem einfacher Menschen in der Türkei niemals auf. Er blieb ein unauflösbarer Knoten in der muslimischen Seele des Landes. Der Islam kannte keine Kirche, war aber wohl ein ordnendes System, das bis in den Alltag vorzudringen vermochte. Auch die Politik war durchsetzt von religiösen Begriffen, selbst wenn sie ganz eigene Wege ging.

Die türkische Republik hatte sich unter Kemal Atatürk vom islamischen Jihad verabschiedet. Die Türkei sollte ein angesehenes Mitglied der abendländisch geprägten europäischen Familie werden. Der Lehrer und der Offizier repräsentierten fortan die moderne Türkei. Der Imam dagegen die Rückständigkeit. Alle modernistischen Reformen in der Türkei hatten einen kulturalistischen Kern. Sie implizierten, dass die westlichen aufklärerischen Werte im Vergleich mit den orientalischen, muslimischen Werten überlegen waren. Gipfelpunkt der türkischen Kulturrevolution war die Übernahme der lateinischen Schrift. Die arabischen Lettern gehörten der Vergangenheit an.

Die Türken schrieben nun lateinisch, aber dachten sie mehrheitlich auch westlich? Hatten die Werte der Aufklärung auch eine philosophische Entsprechung in der Türkei? Ohne Zweifel erreichten diese Werte die gebildeten Schichten. Doch für lange Zeit bildeten diese Schichten nur eine Minderheit in der Gesellschaft. Freilich eine elitäre Minderheit, die auf die Mehrheit herabschaute.

Während der Einparteienherrschaft von 1923 bis 1946 wurde in der Türkei eine ambitionierte Kulturrevolution eingeleitet. Per Dekret wurde die Modernisierung verordnet. Doch wie zivilisiert man die Massen, wenn keine Erziehungsdiktatur mehr herrscht, sondern das Volk in freien Wahlen seine Regierung bestimmen kann? Im Grunde genommen laboriert die Türkei immer noch an dieser Frage.

Nicht zufällig haben alle konservativen Regierungen der Türkei versucht, die Re-Islamisierung des Landes über Korrekturen im Bildungswesen voranzutreiben. Schule gleich Aufklärung war die Devise der türkischen Republik. Die religiös motivierten Gegenkräfte versuchten die Bildungshoheit der Aufklärung zu brechen. So wurde aber zugleich auch die Reform des islamischen Glaubens blockiert. Eine solche Reform wäre indes nur durch eine philosophische und textkritische, sprich: aufgeklärte Auseinandersetzung mit den Quellen der Religion möglich gewesen.

Ansätze hierfür waren und sind immer noch da. Vor allem die Universität Ankara, an der einst auch Annemarie Schimmel lehrte, gilt als eine Hochburg der zeitgemässen muslimischen Theologie. Es ist kein Zufall, dass Bedeutung und Einfluss dieser renommierten Hochschule in der Regierungszeit der islamisch konservativen Partei AKP deutlich in den Hintergrund gedrängt worden sind.

Stattdessen wurden die Imamschulen favorisiert. Sie spielen eine zentrale Rolle in der Etablierung eines konservativen sunnitischen Islams. Inzwischen haben diese Schulen fast eine Million Schüler. Hier sollen nicht nur Prediger für die Moscheen des Landes ausgebildet werden. Eine Generation frommer Jugendlicher wird hier doktrinär ausgebildet, die in Zukunft ganz selbstverständlich eine Islamisierung des türkischen Alltags verwirklichen wird. Die Imamschulen sorgen für die Pflege und Weitergabe eines traditionellen sunnitischen Islams, der mit einer heterogenen Moderne nur schlecht kommuniziert und auch wenig dialogfähig ist, wenn es um Andersgläubige geht.

Darum lautet die Kernfrage für die Zukunft: Wie leben Muslime mit anderen Menschen zusammen? Wie leben sie im eigenen Land, in der Türkei, wo es auch Millionen aufgeklärter junger Menschen gibt, die mit der ganzen Welt kommunizieren? Und wie sollen sie in der Diaspora leben, beispielsweise in Deutschland, wo die Muslime eine Minderheit in demokratischen offenen Gesellschaften bilden?

Das Zusammenleben braucht eine überbrückende Sprache. Wer an eine solche Sprache denkt, kann gar nicht anders als melancholisch werden. Die Türkei war das Land, in dem eine solche Sprache seit gut zwei Jahrhunderten eingeübt wurde. Welche Zukunftschancen werden hier jetzt verspielt? Erfahrungsschätze von Generationen, die sich zwischen Tradition und Moderne virtuos und kreativ bewegten, werden einfach verschleudert. Die Dimension dieses Verlusts hat durchaus globale Auswirkungen. Er wird auch Europa tangieren.

Viel Hass und Misstrauen hat sich zwischen den Kulturen angesammelt. Es ist der Unrat jahrhundertealter Konflikte, die bestenfalls nur notdürftig verdrängt worden sind. In Europa wurden die Glaubenskriege mühsam im Prozess der Aufklärung überwunden. Auf dem Balkan, im Osten Europas, im Nahen Osten und in Afrika aber sind Glaubenskriege nicht eine Angelegenheit von gestern. Überall dort hat Erdoğan seine Anhänger und Bewunderer. Wo die verletzte Psyche enttäuschter Massen auf den Glauben als sinnstiftenden Mythos stösst, entsteht Fanatismus.

Es ist die uralte Geschichte der Menschheit, die sich von der eigenen dunklen Seite zu befreien sucht und dabei in die Schattenwelt von Gewalt und Unfreiheit zurückfällt. Der islamischen Welt ist der Gedanke der Freiheit nicht so fremd, wie im Abendland oft angenommen wird. Es ist modisch geworden, den Mangel an Mündigkeit in der islamischen Welt allzu schnell zu akzeptieren, ja als gottgegeben anzusehen.

Dabei gibt es durchaus ein freiheitliches Narrativ in der islamischen Tradition, nämlich im Sufismus. Er ist nach wie vor eine wichtige Inspirationsquelle für die Künstler, für Dichter, Musiker und Baumeister. Man denke nur an die Romane von Orhan Pamuk.

Gewiss scheint es mehr als tollkühn, alle Hoffnung auf die Befreiung der islamischen Theologie von ihren dogmatischen Verirrungen in ketzerische Freidenker zu setzen, die vor tausend Jahren gelebt haben. Denn in mancher Hinsicht mutet die islamische Mystik heute wie harmlose Folklore an. Doch die muslimischen Wanderderwische verkündeten jahrhundertelang einen weltoffenen, menschenfreundlichen Islam. Damals blühten auch die Wissenschaften in der islamischen Welt auf.

Ein Gegengift

Aus diesen kreativen Denktraditionen könnte ein muslimischer Humanismus entstehen, der auch in der Gegenwart wieder eine erzieherische, wertorientierte Aufgabe übernehmen könnte. Dabei käme es vor allem darauf an, den Stimmen von Einzelgängern und Querdenkern wieder einen Platz einzuräumen: in den Lehrplänen der Schulen wie in der Gesellschaft.

Vor allem Gedichte und Denksprüche der Sufis sind auch heute noch sehr populär. Im Gegensatz zur religiösen Erbauungsliteratur werden sie in allen Schichten der Gesellschaft gehört und gelesen, sie verbinden Menschen mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten und spalten nicht. Sie bleiben unverwechselbar, weil sie das Recht des Menschen auf eine eigenständige Stimme und Blickweise verteidigen. Sie sind Gegengift gegen die Sprache von Politikern, die Hass säen und die Gemeinschaft für ihre Zwecke vereinnahmen wollen.

Doch was vermögen Gedichte und Denksprüche gegen die Despotie religiöser Fanatiker? Vielleicht nichts, aber es wäre den Versuch wert.

Brief an den Vater
rbl. ⋅ Der Schriftsteller Zafer Şenocak wurde 1961 in Ankara geboren, verbrachte dort und in Istanbul die Kindheit, ehe seine Familie Ende der 1960er Jahre in die Bundesrepublik emigrierte. Zafer Şenocak debütierte 1983 mit Gedichten, denen weitere Lyrikbände, Prosa und Essays folgten. Im Münchner Babel-Verlag ist soeben unter dem Titel «In deinen Worten» eine Hommage an seinen Vater erschienen. In der Form eines langen Briefes setzt er sich mit der Gedankenwelt und Frömmigkeit seines Vaters, eines Publizisten und Verlegers, auseinander. Er sucht die Orte seiner Kindheit auf, um neue Wege zu entdecken. Schliesslich regt Şenocak die Gründung eines islamischen Kollegs an, das eine «muslimische Charta für moderne Zeiten» gegen die Despoten des Fundamentalismus zu erarbeiten hätte.


Nota. - Das Kernproblem hat er wohl doch nicht recht erfasst. Er redet von einer "Trennung von Staat und Religion" in der kemalistischen Republik. Sind Staat und Religion in einem Land, wo es ein Religions-ministerium gibt, das die Ausbildung der Prediger finanziert und kontrolliert, getrennt? 

Die europäische Aufklärung, die die Voraussetzung moderner rechtlicher Staatlichkeit ist, bezog ihre Kraft daraus, dass hier nicht nur die Religion ihren Zugriff auf den Staat verlor, sondern auch der Staat nie wirkliche Macht über die Religion hatte. Das war nur möglich, weil weltliche und geistliche Autorität in zwei rivalisie-renden Institutionen organisiert und gebunden war, die römisch Kirche und den deutschen Kaiser. 

In keinem islamischen Land ist bis heute die Religion Privatsache geworden, weil sie sich dort nie gegen das Politische verselbständigen konnte. Der Islam ist im wesentlichen eine Gesetzesreligion und kann sich nur schwer aus dem öffentlichen Leben heraushalten; doch noch weniger kann einem Machthaber kann daran gelegen sein, sie zu seinem Rivalen aufzubauen. Und so hat Kemal Atatürk wohl das Kalifat abgeschafft, aber auch das Religions-ministerium gegründet. Auch Zafer Şenocak politisiert ja in Glaubensdingen, wenn auch in anderer Richtung als Erdogan.

Eine Geschichte von vierzehn Jahrhunderten lässt sich nicht rückwirkend umschreiben. Auch nicht dies, dass in keinem muslimisch besiedelten Gebiet sich bis heute eine wirkliche Nation hat ausbilden können, so dass der Islam von jedem Demagogen als Identitätsstifter in Anspruch genommen werden kann.

In dem Punkt hat die Türkei einen Vorzug gegenüber den anderen muslimischen Völkern, und der liegt ausge-rechnet in einem ihrer wundesten Punkte: der Massenauswanderung nach Deutschland. 

Dieser Tage hören wir, es müsse verhindert werden, dass die inneren Konflikte der Türkei auf deutschem Boden ausgetragen werden. Sie sollte sich das vermeiden lassen? Unter den in Deutschland lebenden Türken sind rund ein Drittel Kurden. Das hat sich auch nicht unterm Deckel halten lassen. Das nachhaltige kurdische Nationalpro-blem war der Hauptgrund für das Aufkommen eines politischen Islamismus in der kemalistischen Republik. Dass Zafer Şenocak kein Wort darüber verliert, ist kein gutes Zeichen, und nicht einmal, wo er von einer "überbrückenden Sprache" redet, erinnert er sich, dass die Muttersprache von Millionen Türken eben nicht Türkisch ist.

Das ist ein wunder Punkt, aber noch nicht der wundeste. Die große Masse der Türken in Deutschland bildet hier eine nationale Minderheit, aber keine autochthone, sondern als Außenposten eines fremden Staates, in dem sie sich ebenso oder mehr zu Hause fühlen als hier. Hier in einem Gastland, zu dem weder sie alle noch auch nur ihre Elite eine historische und kulturelle Verbindung haben! Inder, Pakistaner und Westindier in Großbritan-nien, Nord- und Schwarzafrikaner in Frankreich verbindet mit dem Land, in dem sie leben, eine lange Kolonialge-schichte, die noch immer für böses Blut sorgen mag, aber auf beiden Seiten ein Teil der jeweiligen Identität bildet; einen gemeinsamen Teil. Das Zusammenleben der Ethnien ist schon in diesen Ländern, wo die Minder-heiten eine Brücke bilden könnten und in den Bildungseliten tatsächlich bilden, prekär genug. Doch ein Großteil der Türken in Deutschland spricht nicht einmal die Sprache der Deutschen, und man hat den Eindruck, als habe die Fremdheit in vergangenen Jahrzehnt eher zu- als abgenommen.

Und da ist Erdogans coup d'état permanent - so nannte Fr. Mitterand den Regierungsstil des General de Gaulle - womöglich ein Geschenk der Geschichte. Deutschland mit seiner millionenfachen türkischsprachigen Leser-schaft wird ganz selbstverständlich zur Rückzugsbasis der türkischen Presse- und Gedankenfreiheit werden, hier herrscht Vereinsfreiheit und ist die türkische Population groß genug, ein diversifiziertes politisches Leben zu nähren und zu unterhalten. Mit andern Worten, wenn Erdogan so weitermacht, dann wird es eine historisch-kulturelle Verbindung zwischen der Türkei und Deutschland geben, und Erdogan wird es noch bedauern. 

Während bislang die türkische Minderheit in Deutschland ein weltweites Unikum darstellte, wird sie dann - erst recht ein weltweites Unikum sein.
JE



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